16.06.2020

Die Epidemie der Hysterie

Von Frank Furedi

Titelbild

Foto: Eden, Janine and Jim via Flickr / CC BY 2.0

Die Proteste von Black Lives Matter nach der Tötung Georg Floyds haben den Charakter einer Massenhysterie angenommen, deren Intoleranz jede potenziell abweichende Äußerung bedroht.

Eines der markantesten Merkmale der Black-Lives Matter-Proteste auf der ganzen Welt ist die Geschwindigkeit, mit der sie von praktisch allen mächtigen Institutionen und Einzelpersonen unterstützt werden. Hollywood bis hin zu den Kirchen, das Großkapital bis hin zu Gesundheitsfunktionären, alle haben die Kunde vernommen: Die Unterstützung der Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) ist unerlässlich und in einigen Fällen sogar verpflichtend.

Online-Influencer wetteifern miteinander darum, zu zeigen, wie sehr sie BLM unterstützen. Elite-Institutionen sagen ihren Leuten jetzt, dass sie die Pflicht haben, sich mit ihrem Rassismus auseinanderzusetzen. Renommierte Institutionen vom Eton College bis zum British Museum haben Erklärungen zur Unterstützung der Bewegung abgegeben. Anderswo wurden Mitarbeiter unter Druck gesetzt, die mit der BLM verbundenen Solidaritätssymbole zu übernehmen.

Die Art und Weise, wie sich Elite-Institutionen und Mächtige auf die Seite der ‚Engel‘ schlagen, ist schon merkwürdig. Es ist fast so, als seien sie zu dem Schluss gekommen, dass sie in Schwierigkeiten geraten, wenn sie BLM nicht zügig unterstützen. In einigen Fällen sind Institutionen und Unternehmen so weit gegangen, andere Unternehmen und Einzelpersonen anzugreifen, die von der Parteilinie abgewichen schienen. Reebok beendete seine Partnerschaft mit CrossFit, weil man über den unsensiblen Tweet des CEO über George Floyd empört war. Der CrossFit-Chef Greg Glassman hatte „It’s FLOYD-19“ getwittert, nachdem das Institute for Health Metrics and Evaluation Rassismus und Diskriminierung als Public-Health-Themen klassifiziert hatte. Es war vorhersehbar, dass zahlreiche bekannte Personen auf den Zug aufspringen werden, um Glassmans Tweet als rassistisch anzuprangern.

Kritik und Selbstkritik

Normalerweise folgt heutzutage, wann immer jemand wegen seiner Äußerungen zur Rede gestellt und denunziert wird, rasch eine Entschuldigung. Und so war es auch bei Glassman. „Mit meinen gestern gewählten Worten habe ich einen Fehler gemacht“, sagte er, und fügte hinzu: „Mein Herz ist zutiefst betrübt über den Schmerz, den es verursacht hat. Es war ein Fehler, kein Rassismus, sondern ein Fehler.“

„Wenn selbst Erwachsene sich verhalten, als wären sie ungezogene Kinder gewesen und um Vergebung bitten, weil ihre Worte falsch verstanden wurden, wie wird sich die Zensur-Kultur dann erst bei wirklichen Kindern auswirken?“

Im gegenwärtigen Klima kann es keine „Fehler“ geben. Deine Worte kommen zurück wie ein Bumerang und treffen Dich. So gut wie jede Geste oder Aussage kann nicht nur als unsensibel, sondern auch als rassistisch gebrandmarkt werden. Die arme Karol G., eine Reggaeton-Sängerin, twitterte als Reaktion auf die Proteste nach George Floyds Tod ein inzwischen gelöschtes Bild ihres schwarz-weiß gestreiften Hundes mit der Bildunterschrift „Das perfekte Beispiel dafür, dass Schwarz-Weiß ZUSAMMEN schön aussieht.“ Sie fügte auch den #BlackLivesMatter-Hashtag ein. Als sie an den unvermeidlichen Pranger gestellt und lächerlich gemacht wurde, flehte sie um Entschuldigung: „Ich möchte klarstellen, dass meine Absichten bei dem Foto, das ich vorhin gepostet habe, richtig waren. Ich wollte sagen, dass Rassismus schrecklich ist und dass ich nicht anfangen kann, ihn zu verstehen.“

Andere Influencer waren gezwungen, sich für Äußerungen zu entschuldigen, die gegen die neue BLM-Etikette verstoßen. Nach einem Ausbruch von Kritik, als sie einen Beitrag mit „#AllLivesMatter“ markierte, schrieb die Influencerin Natasha Fischer: „Ich kann meinen ignoranten Hashtag nicht zurücknehmen, aber ich kann daraus lernen und es besser machen.“ Sie flehte: „Ich hoffe, dass dies gehört wird und mir nachgesehen wird, dass ich einen Fehler gemacht habe.“

Auch der schwarze Schauspieler Terry Crews musste feststellen, dass im Moment nur eine Sichtweise erlaubt ist. Er wurde zur Rede gestellt für seinen Tweet, dass „der Sieg über die weiße Vorherrschaft ohne weiße Menschen eine schwarze Vorherrschaft schafft.“ Er wurde breit angeprangert. Es ist heutzutage sehr schwierig für einen Promi, echte persönliche Meinungen zu vertreten oder auszudrücken. In einem Bericht heißt es: „Man drängt Prominente, Black Lives Matter online zu unterstützen oder andernfalls das Posten ganz einzustellen.“

Wenn bereits mächtige Prominente, Influencer und Geschäftsleute sich genötigt sehen, sich zu entschuldigen und für alle Verstöße gegen die BLM-Etikette um Absolution zu bitten, wie muss es dann erst Normalbürgern ergehen, die sich dem Druck von Arbeitgebern oder Institutionen ausgesetzt sehen, dieser neuen Art des Gruppendenkens zu folgen? Und wenn selbst Erwachsene sich verhalten, als wären sie ungezogene Kinder gewesen und um Vergebung bitten, weil ihre Worte falsch verstanden wurden, wie wird sich die Zensur-Kultur dann erst bei richtigen Kindern auswirken?

Kürzlich sprach ich mit einer Mutter, deren 11-jährige Tochter nicht weiß, wie sie auf den Druck reagieren soll, den ihre Altersgenossen und andere bei Instagram auf sie ausüben, damit sie einen BLM-Hashtag in ihre Posts einfügt. „Kann ich einfach einen Kuchen auf Instagram posten, den ich gebacken habe?“, fragte sie mich. Wenn kleine Kinder mit der Forderung konfrontiert werden, sich anzupassen, steht außer Frage, dass eine mächtige Stimmung illiberaler Intoleranz unsere Gesellschaften durchzieht. Von Ächtung bedroht, fühlen sich schon Kinder im Alter von 11 und 12 Jahren zur Anpassung gezwungen. So bekommt der Begriff „Gruppendruck“ eine ganz neue Dimension.

Schweigen ist Silber, Konformismus ist Gold

Die Sprache der Intoleranz kommt am deutlichsten in der Formulierung „Schweigen ist Gewalt“ oder „weißes Schweigen ist Gewalt“ zum Ausdruck. An dieser Aussage scheint zunächst nichts zu beanstanden. Sie enthält sogar eine wichtige Wahrheit, nämlich die, dass Menschen die Pflicht haben, sich gegen Ungerechtigkeiten und Rassismus zu wehren.

„Das Entstehen dieses mächtigen globalen Gruppendenkens ist auch eine Folge der Covid-19-Pandemie.“

Aber die Leute, die am heftigsten „Schweigen ist Gewalt“ rufen, ermutigen die Menschen nicht ernsthaft dazu, ihre Meinung zu äußern. In Wirklichkeit meinen sie: Man darf nur eine Meinung äußern – und zwar die Meinung, die unserer Doktrin entspricht. Deshalb wurden sogar viele Menschen zum Schweigen gebracht, die erklärtermaßen Rassismus sind. Es reicht nicht aus, Rassismus zu hassen – wenn man ein Weißer ist, muss man auch anerkennen, dass man an allen Verbrechen, die gegen Schwarze begangen werden, mitschuldig ist. Solange Weiße ihr Privileg nicht anerkennen und ihre Bereitschaft nicht signalisieren, sich selbst umzuerziehen, solange bleiben sie auf der falschen Seite der Geschichte.

„Schweigen ist Gewalt“ stellt also keinen Aufruf zur Diskussion und Auseinandersetzung dar, sondern ist vielmehr eine Forderung nach sprachlichem Konformismus mit einer nicht verhandelbaren Wahrheit. Es geht eigentlich darum, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die mit der BLM-Erzählung nicht einverstanden sind.

Beim Aufbau dieses intensiven Anpassungsdrucks geht es letztlich nicht um die brutale Tötung von George Floyd. Das Entstehen dieses mächtigen globalen Gruppendenkens ist auch eine Folge der Covid-19-Pandemie. Aus soziologischer Sicht erhielten durch den Lockdown und die Pandemie viele bereits existierende kulturelle Trends eine beispiellose Dynamik. Die kulturelle Polarisierung, die vor Covid bestand, ist noch rigider geworden als zuvor.

Segregierte Identitätsblasen, in denen Menschen dazu neigen, nur mit Menschen zu sprechen und zu interagieren, die genauso sind wie sie selbst, sind die Grundlage der gegenwärtigen Treibhausatmosphäre kultureller Intoleranz. Und in den letzten Wochen, in denen alle zu Hause im Lockdown waren, haben sich die polarisierten Blasen noch intensiviert. Das hat zu dem geführt, was wir jetzt sehen: der Explosion einer neuen Sprache des Klagens in der Öffentlichkeit. Und diese neue Sprache wird noch verstärkt durch neue öffentliche Rituale, wie das Niederknien und die massenhafte Wiederholung von Slogans über Leid und Viktimisierung.

Zeitgeist der Intoleranz

Die Proteste und Unruhen nach dem tragischen Mord an George Floyd haben als Katalysator gewirkt, um aufgestaute Energien freizusetzen. Vieles davon hat mit Gerechtigkeit zu tun, aber es gibt auch ein breites Spektrum negativer Emotionen und Ressentiments. Unter anderen Umständen hätte ein Teil des Ärgers für positive Zwecke genutzt werden können. In der heutigen Kultur der moralischen Verwirrung wurden die Proteste stattdessen jedoch selbstbewusst visuell und performativ. Wenn ein berühmter schwarzer Schauspieler aufsteht, um bei einer Protestveranstaltung in London eine Rede zu halten, und sagt: „Hören Sie, ich weiß nicht, ob ich danach noch Karriere machen werde, aber scheiß drauf“, dann spielt er nach einem gut einstudierten Drehbuch; es ist, als ob spräche jemand für eine Hauptrolle in einem sich entfaltenden Drama.

„Das Klima des Gruppendenkens ist inzwischen zu einer Art Massenpsychose unter Weißen geworden.“

Das Klima des Gruppendenkens ist inzwischen zu einer Art Massenpsychose unter Weißen geworden, die verzweifelt mitteilen wollen, dass sie es „verstanden“ haben. Wir haben Videos von Gruppen weißer Menschen gesehen, die auf die Knie gehen und um Vergebung für ihre Sünden betteln. Diese verstörenden Bilder ähneln einem mittelalterlichen Ritual der Selbsterniedrigung. Es fehlt nur noch die tatsächliche Selbstgeißelung. Zuweilen hat der Impuls der Selbstverachtung in einen Rausch moralistischer Empörung geführt. Der Anblick von Jacob Frey, dem Bürgermeister von Minneapolis, wie er sich der Demütigung einer wütenden Menge aussetzt, die „Schande, Schande, Schande“ ruft, bestätigt, dass die Hysterie nun epidemische Ausmaße angenommen hat. Der Gang der Schande, den Frey und andere vollziehen und der an eine Szene aus „Game of Thrones“ erinnert, ist nicht bloß eine Reaktion auf Rassenungleichheit. Nein, er ist mehr noch ein Zeugnis der moralischen Desorientierung der amerikanischen Gesellschaft.

Das Niederreißen der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol zeigt, dass sich antirassistischer Protest mit einem Ausbruch von Massenpsychose vermischt hat. Wirklich beunruhigend war dabei nicht das tatsächliche Niederreißen der Statue, sondern, was danach geschah. Die Statue wurde durch einige Straßen geschleift, und anschließend in den Fluss geworfen. Es wirkte beinahe, als ob es sich bei dem Geschleiften um eine Person und nicht um eine Statue handelte. Beim Zuschauen schoss mir flüchtig ein Gedanke durch den Kopf: „Was werden die als nächstes tun – Colstons Grab öffnen und jede Spur seiner Existenz aus der Welt schaffen?“

Massenhysterie, oft ein Extrembeispiel für Gruppendenken, neigt dazu, so schnell zu verschwinden, wie sie auftaucht. Aber heute könnte es anders sein. Das heute vorherrschende Klima der Intoleranz ist tief verwurzelt. Der Zeitgeist der Intoleranz, der bereits in der Hochschulbildung institutionalisiert hat, breitet sich nun in der übrigen Gesellschaft aus. Er wird sich unseres Leben bemächtigen, wenn wir nicht den Mut haben, seine Versuche, uns zu diktieren, was wir sagen und was wir denken dürfen, in Frage zu stellen.

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