24.01.2019

Die „Autokrise“ und das Ressentiment gegen die große Stadt

Von Gerd Held

Titelbild

Foto: Nabeel Syed via Unsplash

Das Auto steht zu Unrecht am Pranger. Eine „Verkehrswende“ gegen motorisierten Individualverkehr würde sich auch auf die Großstädte negativ auswirken.

Fast über Nacht ist Deutschland in eine Dynamik geraten, an deren Ende das Automobil für die Mehrheit der Menschen als Verkehrsmittel nicht mehr existieren könnte. Denn es läuft gegenwärtig eine Kettenreaktion ab, in der ein „Sachzwang“ zum nächsten führt: Die Luftbelastungen, die man jetzt dem Dieselmotor vorwirft, lassen sich auch bei anderen Formen des Verbrennungsmotors finden. Da aber die Alternative E-Auto auf absehbare Zeit weder sozial bezahlbar noch ökologisch verträglich ist, läuft der Schlag gegen den Diesel auf einen Schlag gegen das Automobil selber hinaus. Am Ende der Kettenreaktion droht das Auto, nur noch als exklusives Gut vorhanden zu sein. Der motorisierte Individualverkehr wird zum Privileg werden. Das aber wäre ein Einschnitt in die gesamte räumliche Organisation der Wirtschaft und der persönlichen Lebensführung. Die Alternativen und Ausweichmöglichkeiten, die es heute für private, wirtschaftliche und politische Standortentscheidungen gibt, würden fundamental eingeschränkt. Das wäre eine Einschränkung unserer Freiheit, wie wir sie uns heute kaum vorstellen können.

Die Energiewende sollte uns gelehrt haben, dass höchste Vorsicht geboten ist, wenn in modernen Zeiten eine „Wende“ verkündet wird. Eine Wende kann nur der verkünden, der vorher einen einzigen, monotonen Trend diagnostiziert hat und diesem nun eine andere Richtung geben will. In einer komplexen Verkehrslandschaft macht das Verkünden der großen Wende überhaupt keinen Sinn. Aber es gehört zur Eigenart der heutigen öffentlichen Diskussion, dass sie die Komplexität und Eigenlogik der Dinge unterschätzt. Sie sieht in allem nur ein soziales Konstrukt, das sozial machbar und damit auch sozial „zu wenden“ ist. Will man demgegenüber der Komplexität der modernen Verkehrsrealität – und mit ihr einer größeren Freiheit – wieder Gewicht verleihen, muss man hier ansetzen und eine neue Sachlichkeit entwickeln.

Fehlentwicklungen

Drei Beispiele können die Fehlentwicklung im deutschen Mobilitätsdiskurs veranschaulichen: Da gibt es den Neubau des Hauptstadtflughafens, bei dem die politischen Bauherren nicht nur an der komplexen Bauaufgabe gescheitert sind, sondern der als Ein-Flughafen-Lösung das gesamte Stadtsystem in eine Schieflage bringt und die Verkehrsbeziehungen in eine Sackgasse führt.

„Die Abschaffung aller Verbrennungsmotoren würde zu einer erheblichen Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs für die Bevölkerungsmehrheit führen.“

Als zweites Beispiel kann die sogenannte „Dieselkrise“ genannt werden, die nicht auf einer plötzlich neu entdeckten Schädlichkeit dieser Technologie beruht, sondern auf einer forcierten Anhebung einzelner Grenzwerte, die absolut gesetzt und gar nicht mehr mit den Leistungen des Diesels abgewogen werden. In der Tendenz führt diese Herangehensweise dazu, alle Verbrennungsmotoren abzuschaffen, was angesichts ungelöster Speicherprobleme und hoher Kosten bei der E-Mobilität letztlich zu einer erheblichen Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs für die Bevölkerungsmehrheit führen würde.

Ein drittes Beispiel ist das im Juni 2018 vom Berliner Senat verabschiedete „Mobilitätsgesetz“. Dieses Gesetz, von dem stolz verkündet wird, es sei als allgemeines Verkehrsgesetz für eine große Stadt etwas ganz Neues, dokumentiert in Wahrheit eine völlig einseitige Sicht des Verkehrssystems – zu Gunsten des Fahrradverkehrs und auf Kosten des Automobilverkehrs. Es ist ein extrem ignorantes Gesetz, das von den eigenen Verkehrszählungen und -prognosen nichts mehr wissen will und das in eklatantem Widerspruch zur Raumstruktur von Groß-Berlin mit seinen beträchtlichen Entfernungen und Pendlerdistanzen steht.

Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie die Mobilitätsanforderungen der heutigen Raumstrukturen gar nicht ernst nehmen, sondern im Namen einzeln herausgegriffener Auffälligkeiten massive Eingriffe in die Gesamtleistung des Verkehrssystems vornehmen. In dieser Lage ist es wichtig, die erreichte Komplexität des modernen Verkehrssystems von Neuem herauszuarbeiten und zu verteidigen.

Auto und Verkehr

Dieser Text ist keine Gesamtdarstellung des heutigen Verkehrssystems. Vielmehr soll am Beispiel des Automobils die Bruchstelle betrachtet werden, an der die Verkehrswende ansetzt. Diese Bruchstelle ist insbesondere mit der sogenannten Dieselkrise deutlich geworden. Aber diese Krise beruht nicht auf einer plötzlich aufgekommenen oder entdeckten Schädlichkeit des Dieselmotors, sondern auf der Forcierung einzelner Grenzwerte, also auf einer Neudefinition des Schädlichen. Und diese Neudefinition konnte sich nur durchsetzen, weil die Leistung des motorisierten Individualverkehrs und seine tragende Rolle für Arbeit und Leben in den Großstadtregionen aus dem Diskurs verdrängt wurden und gar nicht mehr als Gegengewicht für die Toleranz von Belastungen in der Waagschale der Politik lagen. Es handelt sich also letztlich um eine Legitimitätskrise der Großstädte. Wird die besondere Spannweite und Produktivität ihrer Verkehrsinfrastrukturen nicht mehr als existenziell wichtig angesehen, kann man eine Verkehrswende proklamieren, die einen großen Bereich des Mobilitätsbedarfs einfach ignoriert und damit auch einen ganzen Sektor der Gesellschaft übergeht. An diesem Punkt gilt es heute anzusetzen, um die Geisterfahrt der Verkehrswende zu verhindern.

„Es würde sich eine große Lücke ergeben, wenn es in Berlin zu Fahrverboten oder unbezahlbaren Fahrzeugkosten käme.“ 

Sprechen wir also von der Verkehrsleistung des Automobils. Ich will das hier anhand der Gesamtverkehrsprognose 2025 für die Länder Berlin und Brandenburg tun.1 Dieser Bericht vermittelt ein Bild der Größenverhältnisse des Verkehrs im Einzugsgebiet einer großen Metropole. Und er enthält eine langfristige Prognose, die nahe an den Zeitpunkt heranführt, der gegenwärtig für das „Verbot des Verbrennungsmotors“ diskutiert wird. Der Bericht ist schon etwas älter (2009) und geht von einem sinkenden Verkehrsdruck aus – was man aus heutiger Sicht angesichts des Siedlungsdrucks auf die Metropolräume bezweifeln muss. Aber gerade, weil der Bericht noch nichts vom „Berlin-Boom“ ahnte, sind die konstant hohen Verkehrsanteile des Automobils, die er errechnet, ein guter Orientierungspunkt. Sie sind das Mindeste, womit wir rechnen müssen. Der Bericht führt vor Augen, worüber wir eigentlich reden, wenn wir das Automobil in Frage stellen. Da er den Berlin-Brandenburger Verflechtungsraum in seiner Gesamtheit betrachtet, kann man aus ihm herauslesen, welch große Lücke sich ergeben würde, wenn es hier zu Fahrverboten oder unbezahlbaren Fahrzeugkosten käme. Der Bericht ist damit ein Gegenmittel gegen die Betriebsblindheit mancher Innenstädter, die allzu selbstgewiss davon ausgehen, „die Großstädter“ zu sein.

Die folgenden beiden Tabellen, die ich vereinfachend aus einer Abbildung der Gesamtverkehrsprognose (S. 65) errechnet habe, zeigen die Prozentanteile der verschiedenen Verkehrsmittel an der Verkehrsleistung im Personenverkehr – zum einen den Stand des Jahres 2006, zum anderen die Prognose für das Jahr 2025. Räumlich wurde unterschieden zwischen einem Kernbereich und einem Außenbereich in Berlin sowie dem Brandenburger Umland.

Anteile an der
Verkehrsleistung
(Stand 2006)
Berlin
Kernbereich
Berlin
Außenbereich
Brandenburg
Umland
Automobil 44,1 % 60,1 % 81,8 %
Bus und Bahn 45,4 % 30,6 % 11,7 %
Fuß und Fahrrad 10,5 % 9,3 % 6,5 %
Anteile an der
Verkehrsleistung
(Prognose 2025)
Berlin
Kernbereich
Berlin
Außenbereich
Brandenburg
Umland
Automobil 39,1 % 54,5 % 75,1 %
Bus und Bahn 47,8 % 32,6 % 15,7 %
Fuß und Fahrrad 14,1 % 12,9 % 9,2 %

Abbildung 1: Anteile an der Verkehrsleistung im Bereich Berlin, Quelle: Gesamtverkehrsgutachten (s. Anm. 1).

Die Tabellen zeigen: Das Automobil hat selbst im Kernbereich Berlins einen Anteil von über 40 Prozent. Dieser Anteil wächst, je weiter man an die Peripherie geht. Die Bedeutung des Automobils sinkt auch bis 2025 nur unwesentlich. Selbst wenn man von einem wachsenden Anteil von Bus und Bahn ausgeht, ist ein Ersetzen des motorisierten Individualverkehrs durch den öffentlichen Personennahverkehr nicht einmal annähernd in Sicht. Das gilt erst recht für ein Ersetzen durch das Fahrrad.

Dabei ist ein Punkt wichtig. Ich habe die Messgröße „Verkehrsleistung“ zugrunde gelegt und nicht die Messgröße „Verkehrsaufkommen“. Beim Verkehrsaufkommen wird nur die Wege-Zahl mit einem Verkehrsmittel gezählt, bei der Verkehrsleistung wird die bewältigte Distanz (in Kilometern) gezählt. Beim Verkehrsaufkommen wird also das Entfernungsproblem, das ja für die Menschen ganz wesentlich für die Verkehrsmittelwahl ist, ausgeblendet. So kommt es, dass in dieser Messung der Anteil von Fuß und Fahrrad 39,7 Prozent beträgt (im Gesamtraum Berlin), während er sich im gleichen Raum bei der Messgröße „Verkehrsleistung“ nur auf 10,1 Prozent beläuft.

„Hinter den konstant hohen Zahlen des Automobilverkehrs steht also keine Lebensverachtung, sondern die räumliche Ausdehnung der Lebenswirklichkeit.“

Die Distanzen der heutigen Siedlungsstruktur sind auch der Hauptgrund, warum der Automobilgebrauch mit wachsender Entfernung vom Zentrum steigt. Das Fahrrad stößt hier ebenso an seine Grenzen wie die öffentlichen Verkehrsmittel, die nicht flächendeckend ausgelegt werden können – insbesondere beim Schienenverkehr. Die Messgröße „Verkehrsleistung“ bildet also die Härten des Alltagslebens der Menschen besser ab und zeigt die Grenzen einer Verkehrswende. Noch realistischer wäre es, wenn man auch die Sachleistung des Transports (mitgeführte Dinge, z.B. bei Großeinkauf) einbeziehen würde. Spätestens, wenn man den Gewerbeverkehr des Handwerks in die Betrachtung mit einbezieht, wird diese Sachdimension des Verkehrs deutlich.

Leben im Ballungsraum

Hinter den konstant hohen Zahlen des Automobilverkehrs steht also keine Lebensverachtung, sondern die räumliche Ausdehnung der Lebenswirklichkeit. Es geht nicht um Bequemlichkeit, sondern um existenzielle Fragen: Ist ein bestimmter Wohn-, Erwerbs- oder Dienstleistungsstandort haltbar? Ist eine Schule oder sonstige öffentliche Einrichtung haltbar? Die Behauptung, dass es den einen bloß um „die Blechkisten“ gehe, während es den anderen um „die Menschen“ gehe, ist ebenso dumm wie polemisch. Wenn man in einer Statistik sieht, wie viele tägliche Kilometer in einem Verflechtungsraum per Automobil zurückgelegt werden, sollte man daran denken, dass da elementare Bedürfnisse und Notwendigkeiten im Spiel sind. Wer einfach mal verordnet, dass Berlin nun „Fahrrad-Hauptstadt“ werden soll, geht arrogant über die Millionen täglichen Kilometer hinweg, die bewältigt werden müssen. Natürlich gibt es Zuwächse beim Fahrrad, aber ebenso deutlich zeichnen sich harte Grenzen ab, an denen auch der gute Wille für das Fahrrad (oder für die flächendeckende Einrichtung neuer Bahnlinien) heute schon scheitert.

Man sollte aber auch nicht den Umkehrschluss ziehen und den Teil der Bevölkerung herabsetzen, der sich ausschließlich mit dem öffentlichen Nahverkehr und dem Fahrrad bewegt, weil er dafür den passenden Wohn- und Arbeitsstandort (oder die zusätzliche Zeit) hat. Eher sollte man von zwei Realitäten ausgehen, die heute in den Ballungsräumen nebeneinander bestehen. Es gibt die Auto-Fraktion und die Bahn-Bus-Fahrrad-Fraktion (und dazwischen viele Mischformen). Das Verkehrssystem einer Metropolregion muss auf beiden Beinen stehen. Es muss dual sein und sich dazu auch offen und positiv bekennen. Der Zusammenhalt unserer Ballungsräume hängt davon ab, dass diese beiden Fraktionen sich gegenseitig respektieren und dass keine Fraktion zur Alleinherrschaft strebt. Die berühmte urbane Toleranz muss heute darin bestehen, dem jeweils anderen Arbeits- und Lebensmodell gute Gründe zuzubilligen. Und unter „guten Gründen“ sollte man nicht nur pragmatische Gründe („anders geht es nicht“) verstehen, sondern auch Leidenschaftsgründe: Beide Mobilitätsmodelle haben ihre eigenen Freiheitsleidenschaften und Nutzer, die die jeweiligen Verkehrsmittel dafür lieben.2

„Die jetzt ausgerufene und angeheizte ‚Automobilkrise‘ ist völlig weltfremd und hochgefährlich.“

Es gibt aber auch eine ganz aktuelle Dringlichkeit, die für die Zukunft des Automobils in Ballungsräumen spricht. Es gibt gegenwärtig eine starke Siedlungsbewegung, die sich auf diese Räume richtet. Viele Menschen suchen dort einen Arbeitsplatz und eine Wohnung, viele Gewerbe suchen dort einen Standort. In der Mitte der Ballungsräume steigen die Preise exorbitant. Damit ist klar, dass die Zuzugsbewegung nicht in der Stadtmitte bewältigt werden kann. Oder anders gesagt: Sie kann nicht monozentrisch bewältigt werden. Bezahlbarer Wohn- und Gewerberaum kann nur multizentrisch gewonnen werden. Das hat eine Konsequenz für das Verkehrssystem. Seine Leistungsfähigkeit kann auch nur weiträumig und multizentrisch gesteigert werden. Damit aber werden genau dort Zuwächse erzeugt, wo das Automobil hohe Verkehrsanteile hat. Es ist also völlig unrealistisch, wenn man die gegenwärtige Zuwanderungswelle, die eine Dehnung des Siedlungssystems erfordert, durch ein Verkehrssystem bewältigen will, das das Verkehrsmittel schwächt, das diese Dehnung effizient und flexibel bewältigen kann: Im Außenbereich ist das Automobil weder durch das Fahrrad noch durch einen flächendeckenden (unbezahlbaren) Schienenverkehr zu ersetzen. Und was würde mit den bereits angespannten innerstädtischen Wohnungsmärkten geschehen, wenn die Ausweichmöglichkeiten an die Peripherie ausfallen, weil das Kettenglied „motorisierter Individualverkehr“ zerstört wird? Das mag man sich gar nicht vorstellen.

Das Elektroauto – ein Fake

Mit einem Wort: Die jetzt ausgerufene und angeheizte „Automobilkrise“ ist völlig weltfremd und hochgefährlich. In dieser Situation wird nun ein Rettungsmittel herbeigezaubert, das ganz und gar Wunderbares leisten soll. Es soll die Fahrleistungen des Automobils haben, aber ohne jede Belastung der Umwelt – weder Abgase, noch Lärm, noch Ressourcenverbrauch. Kurzum, es soll ein „Automobil“ sein, ohne die Stofflichkeit des Autos anzunehmen. Das Wundergefährt heißt „E-Auto“. Dabei existiert dieses Gefährt real nur in marginalen, hoch subventionierten Stückzahlen. Das Unternehmen Tesla hat im ersten Halbjahr 2018 knapp 88.000 Fahrzeuge produziert (zum Vergleich: Der VW-Konzern verkaufte im gleichen Zeitraum 5,5 Millionen Fahrzeuge). Nach wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kriterien ist das E-Mobil zum heutigen Zeitpunkt ein reines Fake-Produkt. Aber es wird vom Management etlicher Automobilkonzerne und Regierungen als die sichere Zukunft beschworen und ist in den Medien so präsent, als gehörte das Wundertier schon überall zum Straßenalltag. Das alles geschieht, um die Lücke, die die Abschaffung der realen Automobile in unsere Welt reißen würde, symbolisch zu füllen. Und um damit zu verhindern, dass die Menschen diese Lücke einmal wirklich ansehen und ausmessen.

Und doch wird dieser Moment kommen, an dem sich herausstellt, dass das E-Auto auf absehbare Zeit keine Alternative ist. Dass es für den massenhaften Gebrauch weder bezahlbar noch ökologisch tragbar ist. Dass es also gar nicht als Säule eines allgemein zugänglichen Verkehrssystems in Frage kommt. Wenn diese Stunde der Wahrheit kommt, werden wir sehen, wie viel von der bestehenden Autoindustrie und dem bestehenden Automobilkapital der Bürger schon zerstört wurde. Dass die regierenden Parteien und die amtierende Kanzlerin in Deutschland zu einem industriellen Kahlschlag fähig sind, haben sie bei der Energiewende bewiesen.

„Der neue Grenzwertabsolutismus findet in einem Land statt, in dem die Lebenserwartung steigt und die Luftqualität sich seit Jahrzehnten verbessert hat.“

Damit sollten wir noch einmal zurückkommen zum Ausgangspunkt dieser ganzen bizarren „Autokrise“. Womit hat diese heillose Baustelle eigentlich angefangen? Was war der erste Beweggrund für diese Fundamentalwende? Man schaut, man denkt nach … Ja, es ist kaum zu fassen: Es war ein „Grenzwert“. Diesel-Autos haben einen bestimmten Emissionsgrenzwert nicht eingehalten. Einen Grenzwert, der dem Schutz von Leib und Leben der Menschen dienen sollte. Aber hier wird eine einzelne Norm zum Absolutum erhoben, in dessen Namen eine ganze Motorentechnologie stillgelegt werden soll – mit gravierenden Folgen für die Leistungsfähigkeit des ganzen Verkehrssystems.

Grenzwertige Grenzwerte

Und war es ein großes Ereignis, das diese Anhebung eines Grenzwerts zwingend machte? Eine Katastrophe? Eine tödliche Krankheit, die die Menschen am Straßenrand wie die Fliegen sterben ließ? Nichts dergleichen ist vorgefallen. Die verkehrsbedingten Stickoxidemissionen, um die es bei dem berüchtigten Grenzwert geht, sind in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland um circa 70 Prozent zurückgegangen. Die Grenzwerte wurden nur deshalb beständig weiter verschärft, weil die Toleranzschwellen gesenkt wurden. Diese Senkung geschah nicht etwa, weil einschlägige Erkrankungen der Atemwege zugenommen hätten oder weil gar die Lebenserwartung in deutschen Städten zurückgegangen wäre. Im Gegenteil, der neue Grenzwertabsolutismus findet in einem Land statt, in dem die Lebenserwartung nach wie vor steigt und die Luftqualität sich seit Jahrzehnten verbessert hat. Dazu kommt die Willkür der Messstationen: Sie stehen am Straßenrand, wo kein Mensch dauerhaft steht. Und sie werden von einer machtbesessenen Umweltbürokratie oft an Ecken aufgestellt, wo der Frischluftdurchzug schlecht ist. Am Stuttgarter Neckartor würden, so heißt es, die Messwerte sofort viel besser ausfallen, wenn man die Mauer zum mittleren Schlossgarten einreißen würde. So begrenzt und engstirnig war der Ursprung der „Autokrise“.

Doch wer hätte den Mumm, die Diktatur der Grenzwerte zurückzuweisen und sie wieder auf ein sozial verträgliches Maß zurückzuführen? Besser noch wäre die Frage: In wessen Namen kann man diese intolerante Diktatur zurückweisen? Man kann auf die notwendigen produktiven Leistungen des Verkehrssystems hinweisen, die ohne eine erhebliche Toleranz gegenüber den Belastungen nicht zu haben sind. Und mehr noch kann man auf die real existierenden Großstädte dieser Welt verweisen. Sie sind gebaute Kompromisse und damit auch gebaute Toleranz. Ihre verdichteten Räume verringern den Verkehrsaufwand, um den Preis erhöhter Reibungen. Die heutigen Metropolregionen sind dabei nicht Monolithe, wie es das häufig verwendete Babylon-Bild suggeriert. Sie sind mehrgliedrige, abgestufte Strukturen zwischen unterschiedlichen Zentralitätsgraden. Entsprechend variieren die Verkehrsträger und so erklären sich auch die unterschiedlichen Anteile des Automobils im Gesamtraum einer Metropole. Die vielzitierte urbane Toleranz misst sich heute an dieser abgestuften Gliederung. Diese Toleranz wird durch jede einseitige Lösung – sei es die „Autostadt“ oder sei es die „Fahrradhauptstadt Berlin“ – zerstört.

„Berlin läuft Gefahr, sich provinzialistisch in seine einzelnen Kieze zurückzuziehen.“

Der Grenzwert-Radikalismus muss also im Namen der großstädtischen Zivilisation und der mit ihr verbundenen Freiheit zurückgewiesen werden. Das hat eine historische Dimension, die besonders im Fall der deutschen Hauptstadt deutlich wird. Denn Berlin war in Europa einmal führend in der Entwicklung einer Verkehrstechnik, die das chaotische Verkehrswachstum des 19. Jahrhunderts ordnete, strukturierte und mäßigte. Das war zunächst in der infrastrukturellen Gründerzeit Berlins in den Jahrzehnten vor und nach 1900 mit dem Element „Schiene“ verbunden. Dann später, beginnend mit den 1920er-Jahren, mit dem Automobil. In dieser Zeit begann man, das disperse Umland einzubeziehen. Das Verkehrssystem wurde komplexer. Dieser Fortschritt ist auch mit dem Begriff „Groß-Berlin“ verbunden. „Groß-Berlin“ hatte also nichts mit den späteren Monostrukturen der „Germania“-Planungen des NS-Regimes zu tun. Groß-Berlin war der Entwurf einer pluralistischen Mobilitäts-Metropole.

Betrachtet man die heutige „Automobilkrise“, das neue Berliner Mobilitätsgesetz und das eklatante Versagen bei Planung und Bau des Hauptstadtflughafens in diesem geschichtlichen Zusammenhang, zeigt sich ein erstaunlicher Niveauverlust im großstädtischen Denken und Handeln. Man ist heute nicht mehr auf der Höhe der Anforderungen, die die Infrastrukturen einer modernen Metropole stellen. Der heutige Großstadtdiskurs fällt hinter den schon im vorigen Jahrhundert erreichten Stand zurück. Man hängt viel zu eng an den kurzfristigen Ansprüchen des „guten Lebens“ und einzelner „Unerträglichkeiten“. So lösen sich die Metropolen in viele Fragmente auf und verlieren ihre Kohärenz und Bilanzfähigkeit. Insbesondere in der deutschen Hauptstadt ist diese Tendenz massiv spürbar. Berlin läuft Gefahr, sich provinzialistisch in seine einzelnen Kieze zurückzuziehen und sich zugleich gesamtstädtisch in einem zunehmenden Chaos aufzureiben.

Es gilt also, die Schlaghöhe des Handelns wiederzugewinnen, die jene Akteure auszeichnete, denen vor mehr als 100 Jahren die Stabilisierung der modernen Großstadt gelang. Und es waren nicht diejenigen, die im Rahmen einer „Kulturkritik der Großstadt“ zu einer Fundamentalwende aufriefen, denen diese Stabilisierung gelang, sondern diejenigen, die die Freiheitsgrade, die große Städte eröffneten, zu schätzen wussten.3 Die Prediger der „Wenden“ haben nirgendwo eine vergleichbare historische Leistung vorzuweisen.

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