08.01.2018
Die Aufmerksamkeitskrise
Von Frank Furedi
Sorgen um die mangelnde Konzentrationsfähigkeit junger Menschen sind berechtigt. Wer allein Smartphones und Facebook die Schuld gibt, denkt jedoch zu kurz.
Schon im 18. Jahrhundert machte man sich um die Aufmerksamkeitsfähigkeit der Menschen Sorgen. Immer wieder warnten Moralisten davor, das wirklich Wichtige inmitten der vielen Ablenkungen aus den Augen zu verlieren. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde Unaufmerksamkeit sogar oft als Zeichen moralischen Versagens verurteilt.
Kinder, die Älteren unzureichende Aufmerksamkeit schenken, bereiten Erwachsenen seit jeher Sorgen. Die vermeintliche leichte Ablenkbarkeit der Jugend veranlasste zahllose Interventionen von Erziehungsexperten und Pädagogen. Mit jeder neuen Medientechnologie, sei es nun Druckerpresse, Radio oder Fernsehen, wuchs die Besorgnis an.
Vor allem die digitalen Innovationen der letzten Jahrzehnte verstärkten die Panikmache rund um das Thema Aufmerksamkeit. Solche Einschätzungen beruhen jedoch auf einer Überhöhung der gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die digitalen Technologien verursacht werden. Kritiker werden nicht müde zu behaupten, dass diese Sprache, Leseverhalten und Vorstellungsvermögen verändert hätten. Der amerikanische Essayist Sven Birkerts gehört zu diesen Stimmen. In seinem Buch „Changing the Subject: Art and Attention in the Internet Age“ (zu Deutsch etwa: „Themenwechsel: Kunst und Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter“) vertritt er die Auffassung, die digitalen Technologien hätten „uns als Spezies mehr und schneller geprägt als jede bisherige technologische Transformation.“
„Vor allem die digitalen Innovationen der letzten Jahrzehnte verstärkten die Panikmache rund um das Thema Aufmerksamkeit.“
Die menschliche Aufmerksamkeit wird zunehmend zum wichtigsten Opfer des digitalen Zeitalters stilisiert. „Heutzutage ist Aufmerksamkeit Mangelware“, behauptet etwa die Soziologin Sherry Turkle in „Reclaiming Conversation: The Power of Talk in a Digital Age“ (zu Deutsch etwa: „Zurückeroberung der Konversation: Die Macht des Redens im digitalen Zeitalter“). Verbreitete Formulierungen wie „Zeitalter der Ablenkungen“ suggerieren, dass aufmerksam sein heute unglaublich schwierig ist. Manche Kommentatoren gehen sogar von einer qualitativen Veränderung der Aufmerksamkeit aus. Birkerts spricht etwa von „zerstreuter oder fragmentierter“ Aufmerksamkeit. Andere wiederum bezeichnen unseren zersplitterten, von Multitasking geprägten mentalen Zustand als „Hyper-Aufmerksamkeit“. Turkle macht sich um die „tiefe Aufmerksamkeit“ Sorgen. Sie schlägt vor, die Konzentrationsfähigkeit durch Fokussierung auf einzelne Aufgaben und intensive Lektüre zu stärken.
Viele Kommentatoren warnen vor dem Internet, das unsere Fähigkeit, uns auf Texte zu konzentrieren, reduzieren soll. Das ist das Hauptthema von Birkerts Buch „Changing the Subject“. Anderen, darunter Turkle, geht es eher um die Gefahr für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Was diese Autoren verbindet, ist die Ansicht, dass Unaufmerksamkeit in der heutigen Gesellschaft ein ernstzunehmendes Problem ist.
Determinismus
Das Thema Aufmerksamkeit dient schon lange als eine Art Stellvertreter, durch den eine Vielzahl moralischer Ängste ausgedrückt werden. Turkle erkennt dies, wenn sie schreibt: „Bei der Aufmerksamkeit steht ziemlich viel auf dem Spiel. Die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit verteilen, zeigt auch, welche Dinge wir wertschätzen.“ Beispielsweise geht es bei Konflikten um die Aufmerksamkeit oft um konkurrierende Autoritätsansprüche. Deshalb wird das vermeintlich ablenkende Potential neuer Medientechnologien oft als Infragestellung vorherrschender Formen der Autorität empfunden. Schüler, die während des Unterrichts Kurznachrichten schreiben, sind nicht nur vom Unterricht abgelenkt, sondern schenken ihren Lehrern unzureichende Aufmerksamkeit. Smartphones und ähnliche Geräte stellen also die pädagogische Autorität infrage. Birkerts stellt daher einen Zusammenhang zwischen digitalen Technologien und dem Verfall der Erwachsenenautorität her. Pointiert stellt er die Frage, ob es jemals eine größere Kluft zwischen den Generationen gegeben habe.
„Smartphones und ähnliche Geräte stellen die pädagogische Autorität infrage.“
Die Sorgen um das Thema Aufmerksamkeit, die meist als Kritik an Medieneinflüssen daherkommen, sind Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Sinnkrise. Die Vorstellung, technologische Innovationen würden unsere Aufmerksamkeitsspanne reduzieren, spiegelt ein allgemeines, existentielles Verlustgefühl. Birkerts fällt diesem technologischen Determinismus zum Opfer, wenn er das verminderte Daseinsgefühl moderner Menschen der „transformativen Kraft neuer Informationen“ zuschreibt.
Birkerts’ Sorgen angesichts der verminderten Subjektivität sind durchaus berechtigt – seine Betrachtungen zur Krise menschlichen Handelns fassen sehr gut den aktuellen Zeitgeist zusammen. „Changing the Subject“ ist eine Auseinandersetzung mit dem Verlust des Gestaltungswillens und der Abwertung individueller Autonomie. „Selbstfindung“, schreibt Birkerts, „ist nicht mehr unsere wichtigste Verlockung“. Überzeugend argumentiert er, dass das Ideal der Selbstbestimmung durch die wachsende Bedeutung von Gruppenidentitäten in Frage gestellt wird, und kritisiert die anti-humanistischen und anti-individualistischen Trends der heutigen Zeit.
Birkerts’ Einsichten in die Krise des humanistischen Denkens sind jedoch stark von seinem technologischen Determinismus eingefärbt. Wie der Philosoph und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan ist Birkerts der Meinung, dass „Technologie bis in die tiefsten Winkel unserer Seele vordringt“. „Changing the Subject“ befasst sich mit der menschlichen Vorstellungskraft und Subjektivität. Paradoxerweise macht sich der Autor jedoch die passive Doktrin des technologischen Determinismus zu eigen. Dies sollte niemanden überraschen. Unabhängig von den politischen Neigungen des Denkers führt die Fetischisierung der Macht der Technologie stets zu einer Art Fatalismus.
„Die Fetischisierung der Macht der Technologie führt stets zu einer Art Fatalismus.“
Die Klagen angesichts der vermeintlichen Krise der Aufmerksamkeit berufen sich meist auf eine verdinglichte Vorstellung unserer Konzentrationsfähigkeit. Unsere Gesellschaft betrachtet Aufmerksamkeit gerne als abgegrenztes, quasi-biologisches oder physisches Phänomen. Im 19. Jahrhundert gab der Begriff „Aufmerksamkeitsspanne“ dem Phänomen eine Art unabhängige, physische Existenz, wodurch es messbar wurde. Heutzutage sind es die Vertreter der Neurowissenschaften, die die Verdinglichung der Aufmerksamkeit weiter vorantreiben. Birkerts ist kein Neurodeterminist der ersten Stunde. In seinem Buch schließt er sich jedoch These des Wissenschaftsjournalisten Nicholas Carr an, demnach wir, neurologisch betrachtet, zu dem werden, was wir denken. „Wir werden neurologisch modifiziert“, warnt Birkerts, eine Vorstellung, die den Amerikaner mit Zukunftsängsten erfüllt.
Auch Turkle bezieht sich auf die Neurowissenschaften und schlägt ähnliche Töne wie Carr an. Glücklicherweise bleibt der Neurodeterminismus bei ihr nur ein Randaspekt. Stattdessen konzentriert sie sich auf die störenden Auswirkungen digitaler Technologie (insbesondere von Smartphones) auf die zwischenmenschliche Kommunikation. Ihre Untersuchungen geben wichtige Einblicke in eine zunehmend technologisch dominierte Kultur, in der die persönliche Kommunikation zwischen Familienmitgliedern und Freunden sichtlich abnimmt.
Der Schwerpunkt von Turkles Forschung ist die wachsende Unaufmerksamkeit. Die Soziologin zeigt anhand einer Vielzahl von Beispielen, wie digitale Kurznachrichten Schüler und Studenten ablenken und der Unterrichtsqualität schaden. Für Turkle ist offensichtlich, dass wir uns heute in einem ständigen Kampf um die Aufmerksamkeit befinden. Sie gibt eine Vielzahl von Situationen wieder, in denen Menschen „Aufmerksamkeit wollten“ und „konsterniert waren, dass sie darum konkurrieren mussten.“
„Das eigentliche Problem ist das Unvermögen der Gesellschaft, eine Liebe zum Lesen und ein intellektuell inspirierendes Bildungsumfeld zu fördern.“
„Reclaiming Conversation“ zeigt eingehend, wie die Aufmerksamkeit zum Brennpunkt konkurrierender Ansprüche geworden ist. Das Buch ist eine Art Ethnographie der Unaufmerksamkeit. Es zeigt auf, wie die digitalen Technologien Familienmitglieder voneinander entfremden und somit die Zersplitterung des Familienlebens vorantreiben. Für Turkle ist Unaufmerksamkeit die logische Folge der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit. Das Handy wird so zum Hauptschuldigen im Familiendrama: „Kaum ist ein Handy im Spiel, steht man, wie alle anderen auch, in Konkurrenz mit allem.“ Wer das Handy zum alleinigen Sündenbock erklärt, verkennt jedoch, dass das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit logischerweise vor der Beschäftigung mit dem Handy stehen muss. Mit anderen Worten: Gerade das Verlangen nach Anerkennung und Aufmerksamkeit kann zur (obsessiven) Nutzung bestimmter digitaler Technologien führen. Turkle liefert hierfür in ihrem Buch zahlreiche Beispiele.
Zuweilen scheint sich auch Turkle im technologischen Determinismus zu verlaufen: „Ich denke, Handys haben eine besondere Eigenschaft, die sie herausstechen lässt.“ Turkles Kritik geht jedoch über die fatalistischen Einstellungen hinaus, die üblicherweise die Aufmerksamkeitsdebatte dominieren. „Um die Konversation zu retten, müssen wir die Aufmerksamkeit zurückgewinnen“, schreibt Turkle. Eine Kampfansage an den Status quo.
Turkles Analyse negativer Trends im Bildungsbereich sollte Pflichtlektüre sein. An Schulen und Unis hat die Kultur der niedrigen Erwartungen laut der Autorin zu einem „Aufmerksamkeitschaos“ geführt. Bildungseinrichtungen nehmen es einfach hin, dass Schüler kaum noch aufmerksam lesen oder am Unterricht teilnehmen. Viele Pädagogen sehen die mangelhafte Konzentrationsfähigkeit ihrer Schüler nicht als Problem, sondern als Gelegenheit, neue, vermeintlich motivierende Technologien in ihren Unterricht einzubauen. Dieser Trend zeigt sich im wachsenden Angebot multimedialer Onlinekurse (sogenannte MOOCs) und der Verdrängung traditioneller akademischer Beziehungen durch einen technologiebasierten Ausbildungsansatz. Turkle wiedersetzt sich diesen Entwicklungen und argumentiert überzeugend, dass das Gespräch der wirksamste „intellektuelle Motor“ bleibt.
Natürlich ist es verlockend, digitalen Technologien die Schuld für die aktuelle Aufmerksamkeitskrise zuzuschieben. Tatsächlich hat unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit aber nicht abgenommen. Jugendliche schaffen es problemlos, sich auf ihre Smartphones zu konzentrieren. Aufmerksamkeit ist in erster Linie eine kulturelle Errungenschaft. Die Entscheidung, bestimmten Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, und anderen nicht, ist keine unmittelbare Folge bestimmter Medientechnologien. Wenn es Menschen schwer fällt, sich auf anspruchsvolle Texte zu konzentrieren, hat das wenig mit einer Handyabhängigkeit zu tun. Das eigentliche Problem ist das Unvermögen der Gesellschaft, eine Liebe zum Lesen und ein intellektuell inspirierendes Bildungsumfeld zu fördern. Wenn man die Aufmerksamkeit von Menschen wirklich wecken will, muss man ihre Bildung ernst nehmen. Wer die Schuld allein auf Handys und das Internet schiebt, verliert das eigentliche Problem – den Verfall der kulturellen Autorität – aus den Augen.