04.07.2011

Fördert das Lesen, nicht die Lesekompetenz!

Kommentar von Frank Furedi

Kindern zu vermitteln, dass Bücher lediglich als Gebrauchsgegenstand zur Informationsbeschaffung von Bedeutung sind, heißt unheilvollen Einfluss auf das Lesen, die Kultur und das Niveau des öffentlichen Lebens zu nehmen. Ein Plädoyer für die Freude am Lesen.

In westlichen Gesellschaften erleben wir gerade, wie sich ein nicht unbedeutender Teil der Gesellschaft mehr und mehr von der Welt der Bücher und des Lesens entfremdet. So zeigt z.B. eine Studie, dass britische Kinder in einem internationalen Vergleich in punkto Lesefähigkeit von Platz 3 (2001) auf Platz 19 dramatisch abgefallen sind, und dies in allen Begabungsprofilen; tatsächlich haben abfallende Leistungen unter den „besseren” Lesern sogar am meisten zum schlechten Abschneiden Englands beigetragen. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Lesen Kindern heute im Allgemeinen weniger Freude bereitet, als dies noch vor 5 Jahren der Fall war. Auch verbringen sie heute weniger Zeit damit. Genauso ist es in den USA. Eine großangelegte Studie fand dort heraus, dass junge Menschen immer weniger aus Lust an der Unterhaltung lesen und dass ihre Lesefähigkeit ebenfalls abnimmt. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch in Deutschland erkennen. Was solche Untersuchungen offenlegen, ist nicht nur eine Abnahme der Lesekompetenz, sondern ein grundsätzlicher Verlust des Interesses an Büchern unter Jugendlichen, auch unter solchen mit einer höheren Lesekompetenz. Man hat den Eindruck, dass das in den Grundschulen geweckte Interesse am Lesen zum erliegen kommt, wenn aus Kindern Teenager werden. Untersuchungen legen nahe, dass Kinder nach dem 8. Lebensjahr deutlich weniger lesen und dieser Mangel an ernsthaftem Lesen bis ins frühe Erwachsenenalter andauert. Laut einer Studie der us-amerikanischen Behörde National Endowment for the Arts haben Lesekompetenz und Leselust unter College-Absolventen stark abgenommen.

Auf den ersten Blick ist es schwierig, eine Erklärung für das besonders unter jungen Leuten abhanden gekommene Interesse an Büchern und am Lesen zu finden. Bücher und Lesen haben nämlich nie zuvor in der Geschichte eine so große kulturelle und gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. Es gibt heute mehr Buchläden als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit, nahezu jede Stadt ihr eigenes Literaturfestival und in ganz Großbritannien sind Buchclubs aus dem Boden geschossen. Obendrein haben aufeinanderfolgende Regierungen beachtliche Summen zur Förderung des Lesens in die Schulen investiert. Warum also ist das „Lesen aus Vergnügen” so wenig verbreitet?

Viele Pädagogen und politische Entscheidungsträger verweisen auf den ablenkenden Einfluss durch digitale Technologien und Videospiele. Sie meinen, dass eine zunehmende Auswahl an Freizeitangeboten zur Verfügung stehe und dass deswegen das Lesen gegenüber dem Fernsehen, dem Computer und dem Handy vernachlässigt werde. Medien und neue Technologien werden schon seit langem für diese Probleme verantwortlich gemacht. Doch hängt das Lesevergnügen bei Kindern nicht davon ab, ob sie online chatten oder sich mit Computerspielen beschäftigen können. Kinder werden nicht per se von Medien wie dem Fernsehen oder elektronischen Spielen angezogen – man schreckt sie regelrecht vom Lesen ab.

Heutzutage sehen auch die leistungsstärksten Schüler Bücher eher als Mittel zum Zweck denn als Quelle des Vergnügens an. Die Leseförderung, wie sie an den Schulen betrieben wird, ist daran nicht unschuldig. Schulen setzen gemeinhin auf die Instrumentalisierung des Lesens. Es wird als nützliche Sache und nicht als Bildungsselbstzweck dargestellt. Eine Gruppe überdurchschnittlich erfolgreicher 11-Jähriger gab auf die Frage, was sie vom Lesen hielten, eine glasklare Antwort: Lesen sei lediglich für ihre Karriere und ihr Fortkommen von Bedeutung. Diese Einstellung könnte man vergleichen mit Hunden, die nur deswegen durch eine Schlinge springen, um einen Knochen als Belohnung zu erhalten.

Derartige Einstellungen werden solange die Oberhand behalten, wie politische Entscheidungsträger und Pädagogen die Förderung der „Lesekompetenz“’ dem Lesen um seiner selbst willen vorziehen. Der engstirnige Fokus auf die Lesekompetenz reduziert den Akt des Lesens auf eine Pflichtübung im Hinblick auf anstehende Multiple-choice-Tests. Es geht nicht darum, eine Kultur des Lesens zu fördern, die das Lesen um seiner selbst willen wertschätzt. So kommt es, dass sogar offensichtliche Steigerungen der Lesekompetenz mit der Entzauberung des Lesens einhergehen. Dieser beunruhigende Trend ist besonders auffällig unter Jungen. Die Studie macht deutlich, dass Jungen kaum Geschichten, Gedichte und Sachbücher lesen. Sie gehen auch kaum in eine Bibliothek. Eine internationale Studie zeigt, dass z.B. britische Kinder seltener aus Freude an der Sache lesen als Gleichaltrige in anderen Ländern. Die Fokussierung auf Lesekompetenz unterminiert die Chancen, dass im Klassenzimmer eine lebendige Buchkultur gedeiht. Eine bloß kompetenzorientierte Lesestunde ist etwas ganz anderes als ein Gespräch über ein Buch. Und außerhalb der „Literaturstunde“ verschwindet das Buch häufig völlig in den Schulen.

Die Autorenvereinigung Society of Authors stellt fest, dass Sachbücher überwiegend nur noch im Frage-Antwort-Modus gelesen werden und Unterricht heutzutage fast ausschließlich auf Arbeitsblättern aufbaut. Nicht selten werden Schüler in der Projektarbeit dazu aufgefordert, Informationen im Internet zu suchen, aber nicht auf die Suche in eine Bibliothek geschickt. Wenn Studenten dann an die Universität kommen, haben sie bereits verinnerlicht, dass – verglichen mit der Informationssuche im Netz – das Lesen von Büchern recht mühsam sein kann.

Viele Universitäten haben diese instrumentelle Haltung dem Lesen gegenüber angenommen. Vermehrt werden Studenten dort etwa sogenannte Lernhilfen (learning resources) zur Verfügung gestellt. Diese bestehen aus Webseiten, Handouts, Vorlesungsskripten, Datenblättern, Artikeln in Fachzeitschriften oder sogar gelegentlich fotokopierten Buchexzerpten – aber selten aus dem ganzen Buch. Der allmähliche Rückgang an regelmäßigem Lesen unter Absolventen, wie es die NEA Studie zeigt, macht deutlich, dass die Universitäten keinesfalls mehr zur Begeisterung für das Lesen beitragen als die Grundschulen.

Schrittweise haben anglo-amerikanischen Bildungseinrichtungen so erfolgreich an einer Sinnentleerung des Lesens mitgewirkt. Dies führt zwangsläufig zu einer saloppen Haltung gegenüber dem Gebrauch der eigenen Sprache unter jungen Menschen. Folgerichtig betrachtet man die Vermittlung von Grammatik eher als Last denn als Vorbedingung für die Pflege der Lesekultur. Vor kurzem wurde berichtet, dass viele Lehrkräfte in England mit der Grammatik ihrer eigenen Sprache auf Kriegsfuß stehen. Eine Studie der Universität Exeter belegt, dass Englischlehrer, in deren Schulzeit Grammatik nicht Bestandteil des Englischunterrichts war, ein deutliches Defizit an Sicherheit in grammatischen Fragen an den Tag legen, was selbstverständlich negative Auswirkungen auch auf die Grammatikvermittlung im Klassenzimmer hat.

Die Abwertung des Lesens und des geschriebenen Wortes hat einen unheilvollen Einfluss auf das öffentliche Leben und die formale Bildung. Das Interesse am Zeitungslesen hat in Großbritannien stark abgenommen. Schon 2006 wurde beobachtet, dass nur noch 42 % der 18- 27-Jährigen mindestens dreimal die Woche Zeitung lesen, während es 1986 immerhin noch 72 % waren. Die Instrumentalisierung des Lesens hat also Auswirkungen, die nicht nur auf das Buch beschränkt sind.

Es ist Ausdruck einer Schieflage, wenn man das Buch nur noch als Informationsquelle und nicht als Selbstzweck schätzt. Bücher und Zeitschriften werden schließlich immer noch gekauft, und Universitätsbibliotheken nehmen sie weiter in ihren Bestand auf, aber dies aus praktischen Gründen und nicht wegen der Freude am Lesen.  Vielleicht ist es an der Zeit, eine Weichenstellung weg von der Lesekompetenz hin zu einer Erziehung vorzunehmen, die wirkliche Freude am Lesen vermittelt.

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