18.03.2015
Nicht das Internet ist schuld
Analyse von Frank Furedi
Internet und soziale Medien sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie haben auch die politischen Ereignisse der letzten Jahre stark beeinflusst. Doch das Internet ist weder Lösung noch Problem an sich. Neue Medien heißt neue Möglichkeiten, so Frank Furedi
Historisch gesehen hatten neue Kommunikationstechniken schon immer einen großen kulturellen Einfluss. Die Fehleinschätzung der Auswirkungen neuer Erfindungen ist ebenso unausweichlich. Schon Platon warnte mit Hilfe einer fiktiven Stellungnahme von Sokrates vor den Gefahren des Lesens und Schreibens. In seinem Dialog Phaidros verurteilt Platon die Schrift als unmenschlich und warnt, das Schreiben schwäche den Verstand und drohe das Gedächtnis der Menschen zu zerstören. Auch die Erfindung des Buchdrucks wurde zu damaliger Zeit als Bedrohung für Kultur, Gesellschaftsordnung und Moral Europas wahrgenommen. „Seit die Leute begonnen haben, sich in diesem perversen Exzess des Buchdrucks zu üben, hat die Kirche großen Schaden erlitten“, beschwerte sich Francisco Penna, dominikanischer Verteidiger der Spanischen Inquisition. Ähnliche Befürchtungen zog der Aufstieg der elektronischen Medien nach sich – besonders das Fernsehen wurde oft als zerstörerischer Einfluss auf das öffentliche Leben dargestellt.
Platons Vorbehalte gegenüber den neuen Medien und deren Einfluss auf die Kultur sind weiterhin relevant. Sie prägen aktuelle Überlegungen über den Einfluss von Internet und sozialen Medien. Maryanne Wolf zum Beispiel, amerikanische Neurowissenschaftlerin und Autorin von Proust and the Squid: The Story and Science of the Reading Brain 1, beruft sich regelmäßig auf Sokrates, wenn sie den negativen Einfluss des Internets auf das sogenannte „lesende Gehirn“ zu beweisen versucht. Ihre ausführliche Behandlung von Sokrates hängt mit ihrer Überzeugung zusammen, dass seine Warnungen vor den Gefahren des geschriebenen Wortes besonders auf den Wandel von Print zu Online übertragbar sind – vor allem, was den Einfluss auf Kinder angeht. Sie schreibt: „Sokrates’ Haltung über die Informationsbeschaffung in unserer Kultur verfolgt mich jeden Tag, wenn ich meinen beiden Söhnen dabei zugucke, wie sie ihre Hausaufgaben mit Hilfe des Internets erledigen und dann meinen, sie wüssten jetzt alles über das Thema.“
„Technikbegeisterte prophezeien eine Revolution der menschlichen Existenz.“
Vorbehalte gegenüber dem Einfluss der sozialen Medien auf Kinderhirne vermischen sich bereitwillig mit unheilverkündenden Geschichten über Hacker, pädophile Sexualstraftäter, Trolle, Identitätsdiebstahl, Phishing, Trojaner und Viren. Das Internet muss als Metapher für den Ausdruck breiterer gesellschaftlicher und kultureller Ängste herhalten: Deswegen sehen viele Kritiker den Einfluss des Internets auf das „reale Leben“ so negativ.
Wenig überraschend ist auch, dass das Internet von seinen technikbegeisterten Befürwortern glorifiziert wird. Immer und immer wieder wird der Öffentlichkeit erzählt, unser Leben würde sich durch das Internet in Richtung eines aufgeklärteren und kreativeren Daseins verbessern. Big Data und das Internet der Dinge stünden kurz davor, die menschliche Existenz zu revolutionieren. Behauptungen werden laut, dass die digitalen Techniken die Art und Weise, wie wir lernen, arbeiten, spielen und miteinander umgehen, grundlegend verändern werden. Dadurch wird suggeriert, dass diese neuen Medien noch größere Auswirkungen auf unsere Kultur haben werden als die Erfindung von Lesen und Schreiben.
Ohne Zweifel haben die digitale Technik und soziale Medien bereits einen erheblichen Einfluss auf unsere Kultur. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Maler, das Wesen ihrer Modelle zu erfassen, indem sie Individuen bei der Lektüre eines Buches darstellten. Ein anderes Bild beschreibt das Individuum des 21. Jahrhunderts. Der Mensch, der inmitten einer Menschenmenge stillsteht – vom Bildschirm seines Smartphones gefesselt.
Technik und Kultur
Das Internet und die sozialen Medien sind sehr mächtige Werkzeuge, die menschliches Verhalten beeinflussen und formen können. Die sozialen Medien spielten bei den jüngsten Ausbrüchen gesellschaftlichen Protests und Widerstands eine bedeutende Rolle. Ob Occupy, Arabischer Frühling, die Mobilisierung des Widerstandes gegen die Regierung in der Ukraine oder Hongkong – alle hingen stark von den Ressourcen der sozialen Medien ab. Viele Beobachter folgerten, dass öffentliches Engagement und Mitsprache sowie die Demokratisierung des öffentlichen Lebens in einer vernetzen Welt von den sozialen Medien profitieren könnten.
Zweifellos sind Internet und soziale Medien mächtige Instrumente zur Mobilisierung von Menschen. Die Technik fordert die Menschen allerdings nicht dazu auf, protestieren zu gehen. Eher ist der kreative Einsatz der sozialen Medien eine Reaktion auf Bedürfnisse und Ambitionen, die bereits vorhanden waren oder zumindest unabhängig existieren. Diese digitalen Techniken sollten als Ressource wahrgenommen werden, die gesellschaftliche oder politische Bewegungen als Infrastruktur für Kommunikation und Werbung nutzen können.
„Online-Dating ist eine provisorische Lösung für Probleme einer segmentierten Gesellschaft“
Nehmen wir das Beispiel islamistisch radikalisierter Jugendlicher im Westen. Oft wird das Internet als mächtige Technik dargestellt, die junge Muslime zur Radikalisierung verleitet. So radikalisieren sich im Grunde nur verwirrte junge Muslime über soziale Medien, bis sie angeblich rasend schnell zu eingefleischten Dschihadisten mutieren. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass junge Muslime, die islamistische Websites besuchen, vorher einen Prozess der persönlichen Radikalisierung durchlaufen. Sie neigen bereits zum radikalen Islam und suchen ein Medium, über das sie ihre Ideale ausdrücken und mit Gleichgesinnten kommunizieren können. Diese Websites bestätigen, vertiefen oder verhärten die Überzeugungen der Besucher. Ihre Erfahrungen im Internet mögen junge Muslime ermutigen, unerwartet radikale Wege zu beschreiten – sie hatten jedoch bereits Auffassungen entwickelt, aufgrund derer sie die Reise angetreten sind.
Die Beziehung zwischen sozialen Medien und der Radikalisierung ist sowohl interaktiv als auch dynamisch. Bereits existierende Überzeugungen können an Klarheit und Bedeutung gewinnen sowie neue Ausdrucksformen annehmen. Durch diese Interaktionsform entstehen neue Ideen, Symbole, Rituale und Identitäten. In diesem Sinne haben soziale Medien die aufkommende radikalislamische Jugendkultur gefördert. Ihr Online-Auftreten hat wohl auch die Offline-Entwicklung der Gruppe maßgeblich beeinflusst.
Das Internet im Alltag
Die Kultur unseres alltäglichen Lebens ist heute eng mit dem Internet verflochten. Der Boom des Online-Datings liefert ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie der Aufbau wichtiger Beziehungen von den Ressourcen der sozialen Medien Gebrauch machen kann. In vielen westlichen Gesellschaften dient Online-Dating als eine provisorische Lösung der Probleme einer durch Individualisierung segmentierten Gesellschaft. Angetrieben werden diese Online-Beziehungen von der Suche nach Lösungen für Probleme, mit denen man offline konfrontiert wird. Die wachsende Beliebtheit virtueller Begegnungen hat allerdings bedeutende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Männer und Frauen im Alltag miteinander umgehen. Die Vermischung von virtuell und „real“ ist Teil der Realität zeitgenössischer Kultur.
Der Einfluss des Internets zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie er das Leben junger Menschen verändert hat. Das digitale Kinderzimmer steht symbolisch für eine Kindheit, die zu großen Teilen von sozialen Medien, Smartphones und dem Internet vermittelt wird. Mit Freunden und Gleichaltrigen wird immer mehr online oder per SMS kommuniziert. Solche Interaktionen hatten und haben weiterhin große kulturelle Auswirkungen. SMS und Online-Kommunikation haben die Entwicklung unserer Sprache beeinflusst. Neue Rituale und Symbole sind entstanden und haben die Identitätsfindung, besonders von jungen Menschen, mitgestaltet. Über den medialen Austausch werden oft Status und Identität entwickelt und bestätigt. Folglich haben Interaktionen, die online ablaufen, einen echten Einfluss darauf, wie sich Menschen offline wahrnehmen.
Wie im Fall der politischen Mobilisierung kann auch die Digitalisierung der Kindheit als Reaktion auf das bereits vorhandene Bedürfnis nach neuen Interaktionstechniken interpretiert werden. Das digitale Kinderzimmer entstand als Ergebnis der wachsenden Tendenz, die Aktivitäten von Kindern von draußen nach drinnen zu verlegen. Risikoscheu, die an Paranoia grenzt, ist eines der prägenden Merkmale zeitgenössischer Erziehung. Ängste und Sorgen, was die Gesundheit und Sicherheit der Kinder angeht – besonders in Hinblick auf Sexualstraftäter – führten zu neuen Grenzen für die Freiheit der Kinder, rauszugehen und die Welt zu erkunden. Dieser Hausarrest wird mit dem wachsenden Phänomen einer Kinderzimmerkultur in Verbindung gebracht. Der Hauptantrieb dieses Vorgangs waren also nicht die digitale Technik und die sozialen Medien, sondern die vorherige Entwicklung einer häuslichen Kindheitskultur.
Die Kinderzimmerkultur ist das Ergebnis zweier zusammenhängender und teilweise widersprüchlicher Entwicklungen. Einerseits entspringt der Hausarrest der Initiative der Eltern. Umfragen belegen, dass Kinder lieber draußen wären und vor allem lieber mit ihren Freunden spielen würden. Zum Beispiel ergab eine Reihe von Interviews, dass englische Kinder „lieber draußen Zeit verbringen würden: An der Straßenecke rumhängen, shoppen, ins Kino gehen oder Sport treiben, statt drinnen am PC zu sitzen.“ Gleichzeitig wird die Kinderzimmerkultur vom Verlangen der Kinder geprägt, Raum für sich zu haben und ein Maß an Unabhängigkeit von elterlicher Kontrolle zu genießen. Über die digitalen Techniken versuchen also manche Menschen, einen Teil der verloren gegangenen Freiheiten wiederzuerlangen.
„Die Verlegung der Kindheit nach drinnen hat nicht zur Stärkung der Generationenbindungen geführt.“
Damit ist die Kinderzimmerkultur das Gegenteil des gemeinsamen familiären Fernsehens im Wohnzimmer. Die Mediennutzung ist immer privater geworden. Kinder spielen eine einflussreiche Rolle bei der Entwicklung der neuen medialen Umgebung zu Hause. Die Zimmer vieler Kinder sind reich an Medien – immer mehr Kinder haben Computer mit Internetanschluss in ihren Zimmern. Junge Menschen versuchen, elterlicher Kontrolle zu entgehen, um in einem eigenen autonomen Bereich zu experimentieren und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Der Aufstieg der Kinderzimmerkultur fördert die Privatisierung der Mediennutzung, da junge Menschen versuchen, eine Welt zu bauen, die sich von der ihrer Eltern unterscheidet. Indem sie das Projekt der Eigensozialisierung verfolgen, versuchen junge Menschen, ihre Medien zu personalisieren, damit sie zu ihren Interessen passen. Sie tun dies normalerweise unabhängig von anderen Familienmitgliedern.
Die Verlegung der Kindheit nach drinnen hat nicht zur Stärkung der Generationenbindungen geführt. Im Gegenteil spiegelt der Aufstieg der Kinderzimmerkultur den Trend zur Privatisierung und Individualisierung des Familienlebens wider. Für Kinder sind die neuen Medien ein Weg, sich von ihren Eltern abzusetzen und mit Gleichaltrigen zu verbinden. Sie wollen außerdem von Erwachsenen unbeobachtet miteinander interagieren. In dieser Hinsicht sollen Medien nicht geteilt, sondern angepasst, personalisiert und privat, frei von den Blicken Erwachsener, konsumiert werden.
Das Internet treibt die Zersplitterung gemeinschaftlicher Erlebnisse weiter voran und verleiht ihr durch technische Dynamik neuen Schwung. Diese Verstärkung und Intensivierung gesellschaftlicher Trends stellt die unmittelbare Auswirkung des Internets auf die Alltagskultur dar. Falls der Buchdruck als Präzedenzfall gelten darf, werden neue Techniken nicht nur vorhandene kulturelle Entwicklungen verstärken, sondern auch Ressourcen für die Neuinterpretation ihrer Bedeutung liefern.