05.08.2020

Der Wert der Natur und der Wert des Menschen

Von Werner Kunz

Titelbild

Foto: herbert2512 via Pixabay / CC0

Die Begriffe Natur und Naturschutz machen nur Sinn, wenn der Mensch nicht zur Natur dazugehört.

Die meisten Menschen sind überzeugt, dass Naturschutz eine wichtige Aufgabe von Gesellschaft und Politik ist. Viele Menschen sehnen sich nach Natur. Aber was ist „Natur“ überhaupt, und welche „Natur“ soll bewahrt werden? Soll eine Heide davor geschützt werden, mit Birken zuzuwachsen - ein Ansinnen, das letztlich gegen eine „natürliche“ Entwicklung gerichtet ist? Soll ein Truppenübungsplatz, der wohl kaum als ursprüngliche Natur empfunden wird, geschützt werden, weil dort viele seltene Arten leben?

Fragt man, warum die Natur geschützt werden soll, hört man meist, dass dies der Gesundheit des Menschen diene. Schnell zeigt sich dann allerdings, dass die menschliche Gesundheit von einer sauberen Umwelt abhängt und nicht so sehr von der „Natur“: Der Begriff Naturschutz wird mit dem Begriff Umweltschutz verwechselt wird.1

Und wovor soll die Natur geschützt werden? Gemeinhin heißt es: vor der Bedrohung durch den Menschen. Der Mensch andererseits gilt den Anhängern dieser Philosophie ebenso selbstverständlich als ein Teil der Natur. Damit liegt der Widerspruch auf der Hand. Denn wäre der Mensch ein Teil der Natur, dann brauchte die Natur nicht vor dem Menschen geschützt zu werden; menschliches Tun wäre dann auch das, was die Natur macht. 

Niemand würde ein Haus, in dem Menschen wohnen, als etwas Natürliches bezeichnen. Ein turmartiger Termitenbau in der afrikanischen Savanne gilt dagegen als „natürlich“. Eine Blume, die sich auf einer Rasenfläche „von alleine“ ansiedelt, gilt sie als „natürlich“; wurde sie vom Menschen eingepflanzt, ist sie „künstlich“ dort hingekommen. Arzneimittel, deren wirksame Moleküle aus Pflanzen stammen, gelten als „Naturprodukte“. Wurden sie von der pharmazeutischen Industrie synthetisiert, werden sie als „Kunstprodukte“ angesehen. Charles Darwin nennt die Selektion im Titel seines Buches über „Die Entstehung der Arten“ die „natürliche Zuchtwahl“, um sie von der „künstlichen Zuchtwahl“ des Gärtners und Viehzüchters abzusetzen.

"Wenn Maulwürfe auf einer Wiese Erdhaufen errichten, dann ist das Natur. Aber wenn der Mensch einen Acker umgräbt, dann ist das nicht Natur."

Diese Beispiele zeigen, dass im allgemeinen Sprachgebrauch der Mensch und sein Handeln als Gegensatz zur Natur empfunden werden: Natur ist das, was „von alleine“, ohne den Menschen, entsteht. Alles Menschengemachte gilt als „künstlich“. Als Millionen von grasenden Bisons im vorkolumbianischen Nordamerika in den weiten Grasflächen keinen Baum aufkommen ließen, da waren diese Prärien Natur. Wenn Maulwürfe auf einer Wiese Erdhaufen errichten, dann ist das Natur. Aber wenn der Mensch einen Acker umgräbt, dann ist das nicht Natur.

Würde der Mensch sich von der Natur nicht absetzen, dann wäre alles „Natur“. Zerstörungen und Vernichtungen, die er anrichtet, wären „natürliche“ Prozesse. Die Brandrodung von Regenwäldern würde einem Teil der Natur dienen, nämlich der Ernährung und damit der Erhaltung des Menschen, genauso wie die Beseitigung von aufkommenden Birkenwäldern im Moor durch den Menschen dazu dient, Ziegenmelkern und Heidelerchen den Lebensraum zu erhalten. „Naturschutz“ macht also erst dann einen Sinn, wenn der Mensch sich so versteht, als stünde er außerhalb der Natur. Sonst fiele es schwer zu begründen, warum es überhaupt einen Naturschutz geben muss.

Nun ist der Mensch in der Evolution in nahtlosen Übergängen aus tierischen Vorfahren entstanden. Es gibt eine breite Übergangszone mit Organismen, die weder Mensch noch Tier waren - oder aber beides gleichzeitig. Wann also hat sich der Mensch aus der Natur herausgelöst und ist in Gegensatz zu ihr getreten? Es liegt nahe, diesen Zeitpunkt an das Sesshaftwerden zu knüpfen. Solange der Mensch als Jäger und Sammler durch die Natur streifte, war er ein Teil davon, wie die Tiere auch. Als er aber begann, seine Nahrungspflanzen nicht mehr im Wald zu sammeln, sondern auf Feldern anzubauen, das Rind und Wildschwein nicht mehr als Jäger aufzuspüren, sondern selbst heranzuzüchten, und als er begann, Gemüse- und Obstsorten und seine Haustiere durch Zuchtwahl zu verändern, hat der Mensch angefangen, sich aus der Natur herauszulösen und die Natur nach seinen Zielen zu verändern.

Was in Mitteleuropa ist Natur?

Die Eiszeiten haben in Mitteleuropa den Großteil der ursprünglichen artenreichen Fauna und Flora des ausgehenden Tertiärs zerstört. Die hohen Gebirge des Südens und Südostens haben für viele Arten die Ausweichmöglichkeiten versperrt. Als dann die Eismassen zu Beginn des Holozäns zurückwichen, gaben sie große leere Räume frei. Diese wurden von Tieren und Pflanzen aus dem Osten und Süden neu besiedelt. Noch heute haben viele der in Mitteleuropa lebenden Tierarten ihr Kernvorkommen in anderen Ländern. Endemische Arten gibt kaum,  die meisten hier lebenden Tiere und Pflanzen haben einen „Migrationshintergrund“. Kein einziger unserer Tagschmetterlinge beispielsweise ist wirklich ein "deutscher" Tagfalter; er ist allenfalls ein auch in Deutschland vorkommender Falter.

Ein Großteil der Einwanderer ist nicht an dichte Wälder angepasst, sondern an die offenen Landschaften des Ostens und Südens Europas und Westasiens. Sie konnten sich hier erst ansiedeln, als der Mensch als Viehzüchter und Ackerbauer in der Jungsteinzeit in die nacheiszeitliche Wiederbewaldung eingegriffen und Teile der mitteleuropäischen Landschaft zu Offenflächen umgestaltet hat, die denen des Ostens und Südens Europas glichen.2

Feldlerchen zum Beispiel, die bei uns auf Wiesen und Ackerflächen leben, sind Steppenvögel; Haubenlerchen sind Vögel der Halbwüste, bei uns bevorzugen sie Gleisanlagen und Industriebrachen; Goldregenpfeifer sind Vögel des nordischen Fjälls, die nach Nord-Mitteleuropa einwandern konnten, weil durch Schafbeweidung Gras- und Heideflächen entstanden sind und weil die Hochmoore entwässert wurden; Birkhühner sind Vögel, die im Gebirge an der Baumgrenze oder hoch im Norden leben, für die der Mensch in Mitteleuropa erst durch Entwaldung und Moorentwässerung die Biotope geschaffen hat. Nahezu alle Lebensräume, die in Mitteleuropa von Orchideen besiedelt sind, sind Standorte, an denen der Mensch die natürliche Entwicklung der Vegetation verhindert hat - und nach wie vor verhindern muss.

"Viele Habitate seltener Arten müssen nicht vor dem Menschen, sondern vor der Natur geschützt werden."

Viele artenreiche Kleingewässer, die heute als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind, sind aus ehemaligen Torfstichen, Fischzucht-Teichen oder Wassermühlen hervorgegangen. Die Ziegen- und Schafbeweidung der mitteldeutschen Hügellandschaften schuf Trockenrasen, die zu optimalen Schmetterlingsbiotopen wurden. Mitteleuropa besitzt außer den Hochalpen und einigen Stellen an den Meeresküsten fast keine natürlichen Landschaften mehr.

Viele Habitate seltener Arten müssen nicht vor dem Menschen, sondern vor der Natur geschützt werden. Die natürliche Sukzession in Form von Verbuschung und Verlandung würde das Habitat als Lebensraum der Arten zerstören. Sie sind darauf angewiesen, dass der Mensch in die Natur eingreift. Die besonders in Deutschland verbreitete Sehnsucht nach unberührter Natur strebt andere Ziele an als die Rettung des in Mitteleuropa schwindenden Artenreichtums.

Was hat als ethisches und politisches Ziel Priorität: Natur oder Mensch?

Einerseits setzt sich der Mensch im Sprachgebrauch von der Natur ab, andererseits möchte er gern Teil der Natur sein. Woher kommt dieser Widerspruch? Offenbar gibt es tiefe Gräben zwischen unterschiedlichen Ideologien.

Nach „grünem“ Weltverständnis gilt es, den Gegensatz Mensch – Natur so weit wie möglich zu verringern. Natur gilt als fix und sakrosankt. Sie sollte nach Möglichkeit nicht verändert werden; sie soll so bleiben wie sie ist. Der Mensch habe sich der Natur zu unterwerfen; er habe sich der Natur anzupassen und gegebenenfalls der Natur zu weichen. Wenn der Mensch mit seinen technischen Errungenschaften die Natur umgestaltet, dann wird das aus „grüner“ Weltsicht sehr kritisch gesehen. Es erscheint als Gefahr, die nicht nur die Zukunft von Natur und Umwelt bedroht, sondern als Folge davon auch die Zukunft des Menschen.

Nach christlichem Weltverständnis ist es genau andersherum. Der Gegensatz Mensch – Natur wird schon vom Anfang an in der Schöpfungsgeschichte als gottgegeben betrachtet. Nicht die Natur, sondern der Mensch gilt als fix und sakrosankt. Der Mensch hat nach christlicher Sicht den klaren Auftrag zur Gestaltung der Natur, und zwar so, dass sie ihm zum Besten dient. 3 Der Mensch ist von Gott als eine Art Gärtner eingesetzt, mit der Anweisung, den ihm anvertrauten Garten Natur zu bebauen und zu bewahren. So ist der nach „grüner“ Weltsicht so oft verurteilte Satz der Genesis „Macht euch die Erde untertan“ zu verstehen. Nach christlicher Weltsicht (zweite Schöpfungserzählung, 1. Buch Mose, Vers 2b – 25) wurde der Mensch zuerst erschaffen. Ohne den Menschen, der die Natur pflegt, wäre die Natur gar nicht erst erschaffen worden. Es stellt sich so auch die Frage, wozu Natur und Umwelt eigentlich erhalten werden sollen, wenn es keine Menschen gäbe. Ohne den Menschen als Mittelpunkt gibt es auch keine „Um-Welt“ mehr.

Fragt man, „Welchen Wert hat die Natur?", so ist gleichzeitig zu fragen „Welchen Wert hat der Mensch?" Möglicherweise bahnt sich derzeit ein fundamentaler Wandel in der Weltsicht an, der kaum zufällig mit dem schwindenden Einfluss des Christentums in unserer Gesellschaft zusammenfällt. Das Wohl des Menschen stand bisher im Zweifel immer über dem Wohl der Natur. Ändert sich das in der heutigen Zeit?

Auf den ersten Blick würde man dem anthropozentrischen Standpunkt einen geringeren ethischen Wert zusprechen; er erscheint egoistisch. Beim näheren Ansehen wird jedoch sichtbar, wie tief sich die beiden Weltbilder unterscheiden. Es wird deutlich, dass der "grüne" Standpunkt trotz seiner hohen Bewertung in einigen Punkten schwer zu begründen und in vielen Punkten schwer in die Praxis umzusetzen ist.

Bei der anthropozentrischen Ethik geht es nicht nur um den Egoismus der modernen Konsumgesellschaft. Es geht um tiefere, weniger vordergründige und weniger verwerfliche Einstellungen.

1.) In seit langer Zeit dicht besiedelten Ländern wie Deutschland gibt es kaum noch Natur, die nicht längst vom Menschen verändert und gestaltet worden ist. Der "grüne" Standpunkt definiert nicht, welche Natur es eigentlich zu schützen gilt. Würde man der Natur in erster Priorität einen Eigenwert zusprechen, dann stellt das die Legitimität von Ackerbau und Viehzucht und die Zucht von Haustierrassen und die genetische Veränderung von Nahrungspflanzen und Zuchttieren infrage. Das aber wäre unrealistisch.

2.) Würde man der Natur in erster Priorität einen Eigenwert zusprechen, dann müsste man winzigen und evolutionär niederen Organismen die gleiche Schutzwürdigkeit einräumen wie dem kreisenden Adler in den Bergen, dem im Morgengrauen rufenden Kranich im Moor oder der singenden Amsel im Garten. Das aber hat der Natur- und Artenschutz nie getan, und das wird er kaum je tun können. Es wäre unrealistisch. Man kann die Natur nicht in erster Priorität um ihrer selbst willen schützen. Es läuft stets wieder darauf hinaus, dass die Natur und ihre Arten geschützt werden, weil sie für den Menschen eine ökonomische, ästhetische und emotionale Bedeutung haben.

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