15.10.2021

Der Scheinradikalismus des „Weg mit Paragraf 218“

Von Monika Frommel

Titelbild

Foto: LINKE Bundestag via Flickr / CC BY 2.0

Vorstöße, das Abtreibungsverbot und das Werbeverbot für Abtreibung aufheben zu wollen, zeugen nicht immer von einem Verständnis der komplexen Materie. Die Probleme liegen jenseits des Strafrechts.

„Weg mit § 218 StGB“ gießt ein altes feministisches Unbehagen mit § 218 StGB und einem sich verknappenden Angebot an ambulanten und stationären Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs in eine schlichte Formel. Doch kein Parlament kann § 218 StGB einfach streichen, ohne mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aneinanderzugeraten. Dies erklärt wohl auch das Schweigen im Wahlkampf 2021. Eine differenzierte Forderung zu stellen, ist ebenfalls schwierig, weil diese voraussetzen würde, die komplizierten Zusammenhänge zu durchschauen, die gegenwärtigen Defizite zu benennen und eine Lösung anzubieten.

Die Chiffre § 218 StGB steht für eine schwer durchschaubare Reformgeschichte, welche 1919 begann, damals weitgehend scheiterte, 1933 brutal durchbrochen wurde und nach 1945 lange Zeit nicht aufgelöst werden konnte. Erst 1995 wurde das Beratungsmodell entwickelt, welches das BVerfG 1998 in einem Urteil, das über 100 Seiten hat, in einer liberalen Lesart bekräftigte.

Reformgeschichte

Geht man zu den Anfängen zurück, ist die historische Analyse ziemlich deprimierend. 1919 hätte ein Jahr des Aufbruchs werden können, auch für die Freiheit ungewollt schwangerer Frauen in einer Zeit, in der es keine Empfängnisverhütung gab. Doch die sofort im Parlament erhobene Forderung der SPD, das damals geltende Abtreibungsverbot zu lockern und eine Fristenlösung einzuführen, scheiterte an der Zwietracht derer, die sich „links“ fühlten. Die Kommunisten verlangten die Streichung und propagierten „Weg mit dem Klassen-Paragraph“. Die SPD scheiterte.1 Sie konnte keine alle halbwegs liberalen Parteien übergreifende parlamentarische Mehrheit für eine moderate Fristenlösung herstellen. Die KP und USPD weigerten sich, weil sie von der Revolution träumten, und die rechten Gegner der Republik blockierten aus ideologischen Gründen.

Eine demokratische Politik scheiterte also nicht nur an der politischen Rechten. Beide politischen Ränder und alle Gegner der Weimarer Republik verhinderten mit Eifer pragmatische Reformen. Wie heftig der Glaubensstreit um die Abtreibung schon damals geführt wurde, erkennt man nicht zuletzt an der schnellen und brutalen Reaktion der Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung 1933. Sie hielten das Thema für so wichtig, dass sie eine eigene Reichszentrale zur Verfolgung der Homosexualität und Abtreibung bildeten.Lebensschutz“ motivierte sie sicher nicht; denn sie schufen ein rassistisches und euphemistisch „eugenisch“ genanntes System der Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung und Tötung, das erste NS-Vernichtungsprogramm.

Zwar waren auch schon damals viele Abtreibungen weder rechtswidrig noch strafbar, weil es nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts einen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund gab. Es existierte also eine Art Notlagenindikation, geschaffen am Parlament vorbei. Aber diese halbwegs erträgliche Rechtslage beseitigten die Nationalsozialisten sofort und sorgten dafür, dass allen jüdischen und auch vielen liberalen Ärzten, die Abtreibungen durchführten, die Approbation entzogen wurde. Außerdem wurden sie kriminalisiert (wegen dem wieder eingeführten Verbot jeder öffentlichen Information über Verhütungsmittel und „Werbung“ für einen Schwangerschaftsabbruch) oder – wenn sie nicht bereits im Gefängnis saßen – zur Emigration gezwungen.

„Die schmerzhaften Versäumnisse liegen beim unzureichenden Angebot in vielen Gegenden. Dieses hat aber eher nichts mit dem Werbeverbot zu tun.“

Nach 1945 wurde der Verbrechenstatbestand des von den Nationalsozialisten erheblich verschärften § 218 StGB nicht wieder zum Vergehen heruntergestuft, sondern beibehalten. Erst 1969 – zum Beginn der Großen Strafrechtsreform – änderte sich das. Aber selbst in den 1970er Jahre scheiterte eine Fristenlösung. Aktionen wie „Ich habe abgetrieben“ verhallten. Es kam zu einer halbherzigen Reform im Jahre 1976 – als Reaktion auf das erste Abtreibungsurteil des BVerfG 1975, das die geplante Fristenlösung mit dem Argument einer Gebärpflicht der Frau, jedenfalls „unter normalen Umständen“, verworfen hatte – gegen das Sondervotum der einzigen Verfassungsrichterin . Normiert wurde ein Indikationenmodell, das jedoch in den 1980er Jahren zu einem neuen Glaubenskrieg führte. In Bayern kam es mit den berüchtigten Verfahren (1986) und zu einer Welle der Kriminalisierung. Zwar hatten alle Betroffenen gegen die Formvorschriften des Indikationenmodells verstoßen, aber es wurde dennoch deutlich, dass eine praktikablere Reform und eine klare Entkriminalisierung zumindest der betroffenen Frauen nötig waren. Diese haben seitdem einen persönlichen Strafausschließungsgrund.

Aber eine Fristenlösung scheiterte 1993 durch das zweite Urteil des BVerfG, welches sich zwar sehr um einen sog. Lebensschutz sorgte, nicht aber um die Reproduktionsfreiheit der ungewollt schwangeren Frauen (und meist auch ihrer Partner). 1995 wurde endlich im Rahmen der deutschen Vereinigung – nach hartnäckigen weiteren Streitigkeiten – das normiert, dessen liberalen Gehalt das BVerfG 1998 in seiner dritten Abtreibungsentscheidung in Form von verbindlichen, aber in der Praxis wieder zunehmend missachteten Grundsätzen formuliert hat.

Nicht bedacht wurden während aller Reformen die nach wie vor bestehenden Auslegungsprobleme beim § 219a StGB, dem Werbeverbot, das in der Gegenwart erneut Unmut erzeugt. Gerügt wird, dass nach wie vor eine grundlegende Reform nötig sei; doch die meisten Bundesländer weigern sich, den 2019 reformierten § 219a StGB zu streichen. Ganz falsch ist diese Haltung nicht; denn in der Praxis bereitet die etwas unelegante Neuregelung keine Probleme. Die schmerzhaften Versäumnisse liegen beim unzureichenden Angebot in vielen Gegenden. Dieses hat aber eher nichts mit dem Werbeverbot zu tun.

„Würden die betreffenden Parteien und Abgeordneten ganz allgemein eine Politik der Strafrechts-Skepsis vertreten, dann wäre ihr Anliegen sehr verständlich.“

Dennoch fordern die Partei Die Linke, Teile der Grünen und einige in der SPD und FDP erneut (oder immer noch) die Abschaffung der §§ 218 ff. StGB. Würden die genannten Parteien und Abgeordneten ganz allgemein eine Politik der Strafrechts-Skepsis vertreten, dann wäre ihr Anliegen sehr verständlich. Doch genau das tun sie nicht. Sie fordern nach wie vor in vielen Politikfeldern ‚mehr Strafrecht‘. Beim Embryonenschutz etwa, der ebenfalls strafrechtlich regulierten Kinderwunsch-Behandlung, sind sich die genannten Parteien alles andere als einig, wenn es darum geht, auf Kriminalisierung zu verzichten. Sie bedienen sich also nur bei diesem einen Thema punktuell einer abolitionistischen Sprache. Es ist klar, dass sie mit dieser Strategie Kritik von allen Seiten ernten.

Der umkämpfte Sicherstellungsauftrag der Länder

§ 12 Schwangerenkonfliktgesetz (SchKG), ein Bundesgesetz, garantiert Ärzten bei Schwangerschaftsabbrüchen ein Weigerungsrecht, ausgenommen sind nur Notfälle, da dort eine Behandlungspflicht gilt. In der Praxis wird diese Ausnahmeregelung des § 12 SchKG stark genutzt und missbraucht. Die – nicht nachvollziehbare – juristische Auslegung der Klinikleitungen erweitert den klaren und eng gefassten Wortlaut dahingehend, dass das Weigerungsrecht auch der Leitung eines Krankenhauses zustehe. Ignoriert wird dabei, dass es sich beim ärztlichen Weigerungsrecht um eine begründungspflichtige Ausnahme von der ärztlichen Behandlungspflicht handelt. Nur als wer als Arzt achtenswerte Gründe hat, kann Rücksicht verlangen, muss aber begründen, wieso für ihn oder sie die aktive Mitwirkung an einer Abtreibung unzumutbar ist. Es liegt es auf der Hand, dass niemand zu ärztlichen Handlungen gezwungen werden darf, die ihn oder sie in Gewissensnot stürzen könnte.

Wenn aber das Weigerungsrecht diesen Sinn hat, kann es nicht autoritär für die ganze Institution – von oben nach unten – reklamiert werden. Die von den Klinikleitungen vertretene Ausdehnung widerspricht außerdem dem systematischen Verhältnis der §§ 12, 13 SchKG und der inneren Logik des 1995 reformierten Beratungsmodells. Der Sicherstellungsauftrag verpflichtet die Länder, die Entscheidung einer ungewollt Schwangeren zu respektieren und die tatsächlichen Bedingungen zu schaffen, dass sie ihr Verlangen auch durchsetzen kann.

Somit unterscheidet sich das Beratungsmodell erheblich von der 1976 normierten Indikationenlösung. Letztere unterwarf die Frau einer Drittbewertung, was nicht nur zu Konflikten führte, sondern auch als Bevormundung angesehen wurde. Die Reform 1995 geht demgegenüber davon aus, dass die ungewollt Schwangere ohne jede Drittbewertung (Indikation) selbst entscheidet, nicht direktiv beeinflusst werden darf, und dass die Länder auch garantieren müssen, dass ihr Verlangen umgesetzt werden kann. Sie muss sich zwar einer sozialen Beratung unterziehen, doch muss diese ergebnisoffen sein.

„Das Konzept des Beratungsmodells ist in sich konsistent.“

Die Annahme, dass die Schwangere kein subjektives Recht gegen einzelne Ärzte hat, bedeutet also nicht, dass ihr Verlangen „rechtswidrig“ sei und nur nicht bestraft werde. Dies wird zwar immer wieder behauptet, ist also eine nicht auszurottende Lesart, aber sie ist falsch. Sie wird unermüdlich von Abtreibungsgegnern verbreitet. Wer so spricht, tut so, als sei nach 1975, der ersten, äußerst patriarchalen BVerfG-Entscheidung nichts passiert. Doch bedeutet die Tatsache, dass das Beratungsmodell darauf verzichtet, die Rechtmäßigkeit im Einzelnen feststellen zu lassen, nicht, dass das Verlangen einer Frau nach einer Abtreibung in der Zwölf-Wochen Frist objektiv rechtswidrig sei. Ein solcher Schluss ist nicht nur unlogisch, sondern und inhaltlich verfehlt; denn die Stigmatisierung als „Unrecht“ soll durch den Verzicht auf Drittbewertung gerade vermieden werden. Das Konzept des Beratungsmodells ist in sich konsistent.

Auch der Sicherstellungsauftrag der Länder, der in § 13 SchKG einfachgesetzlich normiert ist, folgt aus der verfassungsrechtlichen Pflicht, das Entscheidungsrecht der Frau zu respektieren und das liberale Beratungsmodell nicht dadurch auszuhebeln, dass landesrechtliche Anforderungen so hochgefahren werden, dass am Ende weder eine angemessene ambulante noch eine ausreichende stationäre Versorgung vorhanden ist. Zwar obliegt es den Ländern zu entscheiden, wie sie diesen Auftrag erfüllen, doch das Ob hat der Bundesgesetzgeber abschließend entschieden. Im Ergebnis muss also sichergestellt werden, dass auch die Leistungen, für die keine gesetzliche Krankenversicherung besteht, zu zumutbaren Bedingungen angeboten werden. Die Sicherstellung ist nicht – wie sonst im Arztrecht – an die krankenversicherungsrechtlichen Vorgaben gekoppelt, sondern unabhängig von der Zahlungspflicht der Krankenkassen bundeseinheitlich geregelt. Die wenigen Selbstzahlerinnen werden zur Kasse gebeten, alle anderen gelten als „bedürftig“2 und erhalten deswegen vom Land die Gebühren erstattet. Die Höhe der Gebühren muss zumutbar sein.

Auf diese Weise werden im Ergebnis die beratenen Schwangerschaftsabbrüche den ärztlich indizierten Abtreibungen gleichgestellt, was bereits unterstellt, dass auch beratene Abbrüche im Rahmen der ärztlichen Berufsausübungsfreiheit rechtmäßig durchgeführt werden.3 Der Unterschied zu Abbrüchen nach einer ärztlich festgestellten Indikation ist lediglich der, dass die Krankenkassen entlastet und die Staatskasse belastet wird, denn die Solidargemeinschaft ist nur bei festgestellter Rechtmäßigkeit zur Zahlung verpflichtet. Es ist also das Krankenversicherungsrecht und nicht die innere Logik der §§ 218 ff. StGB, welches den Unterschied zwischen beratenen und indizierten Abbrüchen ausmacht.

„Es bleiben ethische Bedenken.“

Wieso wird der Sicherstellungsauftrag nicht ernst genommen und strategisch durchkreuzt? Teilweise ist es Ignoranz. Zurzeit wissen nämlich weder die Länder noch der Bund, wie viele ambulanten Angebote für Schwangerschaftsabbrüche im jeweiligen Bundesland existieren (Stadtstaaten sind hier besser informiert). Sie wissen nur, was ihnen Arztpraxen und die wenigen Krankenhäuser für die zwingend vorgeschriebenen statistischen Zwecke mitteilen. Doch haben sie keinen gesicherten Überblick darüber, ob es aus der Perspektive ungewollt schwangerer Frauen tatsächlich ein angemessenes Angebot gibt, sie also ihrem Sicherstellungsauftrag gerecht werden. Praktisch gesehen gibt es kaum Zwangsmaßnahmen des Bundes gegen rechtswidrig handelnde Länder. Aber in einem Rechtsstaat sollte es solche rechtsfreien Räume nicht geben. Es muss die Möglichkeit geben, eine gerichtliche Entscheidung zu erlangen. Doch ist dies zurzeit noch Zukunftsmusik.

„Weg mit §§ 218ff. StGB“?

Wer § 218 StGB streichen will (eine politische Mehrheit einmal theoretisch unterstellt), muss auch § 219 StGB und die Landesgesetze, welche die Anforderungen an die soziale Beratung regeln, streichen. Übrig bliebe dann nur der ohnehin gegebene Anspruch auf eine freiwillige Beratung und eine der Länder, solche Angebote zu finanzieren und damit sicher zu stellen. Eine effektive Verbesserung der Lage würde dies sicher nicht bewirken, ganz im Gegenteil, weil nun auch der nach dem SchKG zu beachtende Sicherstellungsauftrag entfiele.

Sollte sich jedoch gegen alle Logik eine politische Mehrheit finden, dann würde die politische Gegenseite die Verfassungsgemäßheit verneinen und einen Normenkontrollantrag beim BVerfG stellen.4 Einer solchen Ansicht könnte nur erfolgreich widersprochen werden, wenn der Große Senat des BVerfG die drei einschlägigen Entscheidungen zurücknehmen würde (1975, 1993 und 1998). Nichts spricht gegen das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht einer ungewollt Schwangeren. Aber sie entscheidet ja nicht nur über ihren Körper und ihren Lebensentwurf, zweifellos fundamentale Interessen, sondern auch über einen eingenisteten, ggf. sogar schon weit entwickelten Fötus. Dass ein Fötus kein eigenständiges Rechtssubjekt, sondern nur ein Schutzobjekt ist, kann unterstellt werden, aber es ist nun einmal ein sich in Entwicklung befindliches Wesen, das zur Gattung Mensch gehört. Zwar ist mittlerweile klar, dass die patriarchalen Formulierungen des BVerfG in der ständig zitierten Entscheidung des Jahres 1975 überholt sind, insbesondere die „naturrechtliche“ Annahme, dass auch eine ungewollt Schwangere die ‚normalerweise mit einer Schwangerschaft und Geburt verbundenen Risiken und Belastungen‘ hinzunehmen habe. Doch es bleiben ethische Bedenken.

Das heutige BVerfG würde weder so formulieren wie die sieben männlichen Richter 1975, noch ist es an die Bekenntnisse zum Lebensschutz gebunden, die damals abgegeben wurden. Solche Sätze sind zeitbedingt ideologisch und somit nicht weiter zu beachtende obiter dicta. Aber es gibt eben nicht nur patriarchale Bedenken. Es geht um ein in sich konsistentes System. Ein eingenisteter Fötus ist in einem erheblich weiter entwickelten Stadium als ein Embryo im Sinne des § 8 Embryonenschutzgesetz. Wer § 218 StGB streicht, muss auch die Strafbarkeit von Handlungen wie die der Embryonenforschung neu bedenken und ggf. neu regeln. Kinderwunschmütter und ungewollt Schwangere berufen sich positiv oder negativ auf ihre Reproduktionsfreiheit, Ärzte auf ihre Berufsausübungsfreiheit. Doch haben ärztliche Handlungen immer auch Auswirkungen auf den Umgang mit Frühformen des menschlichen Lebens, müssen also rechtlich stimmig geregelt werden (und zwar mit Blick auf europarechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben). Der Schutz in den jeweiligen Stadien und Konstellationen lässt sich abstufen. Doch muss letztlich der Maßstab an der Interessenlage der Betroffenen orientiert sein, welche äußerst komplex sind. Am Ende steht ein Abwägungs- und Bewertungsprozess.

„Kein Senat des BVerfG wird infrage stellen, dass es ein – auch strafrechtlich abgesichertes – Schutzkonzept geben muss.“

Zwar folgt aus diesen Überlegungen mitnichten die Konstruktion eines Lebensrechts, da es in keinem dieser Stadien um Subjekte geht. Doch wird kein Senat des BVerfG infrage stellen, dass es ein – auch strafrechtlich abgesichertes – Schutzkonzept geben muss. Einem Normenkontrollantrag gegen eine Streichung der §§ 218 ff. StGB würde daher mit großer Wahrscheinlichkeit, ja sogar mit Sicherheit, stattgegeben. Zum dritten Mal würde dann ein verfassungsrechtlich und auch mit Blick auf das einfache Recht nicht durchdachtes Anliegen scheitern. Strafrechtsskepsis ist sinnvoll, aber erst wenn die Politik sich dazu durchringen würde, eine große Zahl von Strafnormen, die ebenfalls nicht zum Kernstrafrecht gehören, aufzuheben, wäre ein solcher politischer Vorschlag plausibel, nachvollziehbar begründbar und könnte in ein neues System des StGB münden.

Entscheidung von 1998 und liberale Lesart des geltenden Rechts

Anlass für die BVerfG-Entscheidung 1998 war ein restriktives bayerisches Landesgesetz im Jahre 1996, das über den Umweg der Beschränkungen aller auf Abtreibung spezialisierter Ärzte ambulante Ambulanzen abwürgen wollte. Nur indirekt tangierte die geplante Verknappung der Angebote auch alle betroffenen Frauen, eine Verfassungsbeschwerde konnten nur die auf Abtreibung spezialisierten bayerischen Ärzte einlegen.5 Sie gewannen und das bayerische Landesgesetz wurde (jedenfalls weitgehend) für nichtig erklärt. Die Parallele zur heutigen Lage ist frappierend. Damals beschränkte das Landesgesetz ganz offen das Angebot an legalen Abtreibungsmöglichkeiten durch niedergelassene Abtreibungsambulanzen. Bayern hätte damals, wäre das Landesgesetz bestehen geblieben, seinen Sicherstellungsauftrag völlig verfehlt, der allerdings damals auch sonst nur bedingt erfüllt wurde. 20 Jahre später droht ein ähnliches Ergebnis, wenn keine Abhilfe geschaffen wird. Klärend waren u.a. die Ausführungen des Gerichts, dass Abtreibungsärzte nicht nur rechtmäßig, sondern im Rahmen ihres Grundrechts auf Berufsausübungsfreiheit handeln.6

1998 wählte der gegen das bayerische Sondergesetz angerufene Senat bewusst und nach langer Debatte eine liberale Lesart. Sie stärkte die Position der Ärzte und betonte die Ergebnisoffenheit der Beratungslösung. Offenkundig wollte man die Notwendigkeit eines nicht verneinen, stellte sich also insofern in die Kontinuität der bisherigen Rechtsprechung, variierte aber die Gewichte und betonte den schon 1993 vom BVerfG erwogene Stärkung der ungewollt Schwangeren. Daher attestierte er ihr nicht nur eine Letztentscheidung, sondern eine , die Ärzte akzeptieren müssen, wenn die vorgeschriebene Prozedur, also die vorgeschriebenen – ergebnisoffenen – Beratungen durchlaufen wurden ( des Schutzkonzeptes). In der Kommentarliteratur (mit Ausnahme des Nomos-Kommentars) wurde die Wendung, welche diese Entscheidung mit sich brachte, ignoriert. Interessenverbände wie etwa ProFamilia, aber auch der Ärzteschaft blieben bei ihren eigentlich überholten Positionen stehen und kämpften wie gewohnt in der ins Deutsche übertragenen US-amerikanischen Sprache entweder für pro choice oder für pro life. Die gegenwärtige US-amerikanische Debatte zeigt, dass auch ein Fristenmodell politisch angreifbar bleibt. Eine achtbare Gewissensentscheidung der Frau ist ethisch stärker als die blasse Nicht-Entscheidung bis zur 12. Woche.

„Garantiert werden soll ferner die Unabhängigkeit des oder der Ärztin, weil nur dann auch die Entscheidungsfreiheit der Frau verbessert werden kann.“

Denkt man das anspruchsvollere Modell der Beratungslösung in der Lesart des Senats des BVerfG im Jahr 1998 weiter, dann bedeutet Lebensschutz nicht mehr wie noch 1975 oder gar im Verständnis von Abtreibungsgegnern, möglichst viele Abtreibungen zu verhindern, sondern die Selbstverantwortung der betroffenen Frau zu stärken. Nicht Kriminalisierung, sondern Achtsamkeit im Umgang mit dem menschlichen Leben in der Frühphase. Dies ist auch das Ziel des verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich geschaffenen Sicherstellungsauftrags der Länder, ein angemessenes Angebot zu garantieren und vorhandene Strukturen stärken.

Diese Sicht verändert auch die Konstruktion des Werbeverbots in der aktuellen Form des reformierten § 219 a StGB, einer Norm, die allerdings weder Gegenstand der damaligen Verfassungsbeschwerden noch der Reformgesetzgebung war. Sie hatte lange Zeit keine Kontroversen ausgelöst. Mit der Beratungslösung änderte sich der Sinn des Werbeverbots. Wenn die Teleologie und Systematik der §§ 218, 219, 219a StGB in der Sicherung einer verantwortlichen Entscheidung liegt, was von der Kommentarliteratur oft nicht gesehen wurde und wird, dann sichert ein Werbeverbot die Unparteilichkeit der angerufenen Ärzteschaft ab und verhindert Beeinflussungen. Dass §219a StGB oft nicht angemessen dargelegt wird, liegt daran, dass beide Seiten einen Tunnelblick haben. Sie nehmen die BVerfG-Entscheidung 1998 nicht zur Kenntnis, weil sie entweder nicht in das ideologische Konzept passt oder „nicht weit genug“ geht. Im Ergebnis verkürzen beide das sorgfältig argumentierende Grundsatzurteil in eine banale, aber ebenfalls folgenreiche Kompetenzentscheidung (Länder dürfen Bundesrecht nicht verschärfen). Nimmt man beide Ziele (Rechtssicherheit für Ärzte und eine bewusste Neutralität aller staatlichen Regeln) ernst, kann man es sich sparen, die Abtreibungsfrage erneut zu moralisieren.

Das Verbot der §§ 218 ff. StGB betrifft in der liberalen Lesart lediglich die Störung der Entscheidungsfreiheit. Garantiert werden soll ferner die Unabhängigkeit des oder der Ärztin (keine Beeinflussung), weil nur dann auch die Entscheidungsfreiheit der Frau verbessert werden kann. Ärzte und Beratungsstellen sollen sich lediglich versichern, dass die Frau nicht unter dem Zwang Dritter steht oder ihre Ansprüche auf konkrete Hilfe nicht kennt. Sie sollen nicht durch zu viel und überschießende Informationen oder gar gezielte Werbung seitens des Abtreibungsarztes in eine Richtung motivieren. Auch soll eine ärztliche Webseite nicht deutlich machen, dass der oder die Verfasserin es der Ratsuchenden besonders leichtmacht.

„Für die Länder besteht die Pflicht, für ein angemessenes Angebot an ambulanter und stationärer Versorgung zu sorgen.“

Eine Beratung kann, was oft übersehen wird, insbesondere sehr jungen Schwangeren helfen, sich von den Erwartungen ihrer Familie zu lösen. Sinn einer Prozeduralisierung ist es, einen Freiraum zu schaffen zum Nachdenken über die eigenen Interessen und Maßstäbe. Das Ergebnis darf nicht aufgezwungen, sondern muss selbst gefunden werden. Eine ergebnisoffene Beratung kann mittelbar dem Lebensschutz dienen, besser formuliert: der Betonung der Achtung des sich entwickelnden menschlichen Lebens. Jedoch darf es nicht um die Beeinflussung der Frau gehen.7 Nach dem Gesetz sollen Berater lediglich darauf achten, dass die jeweilige individuelle Entscheidung ohne Zwang und zu starker heteronomer Beeinflussung getroffen wird, sowie in Kenntnis der zur Verfügung stehenden Hilfsangebote und Rechtsansprüche.

Was bedeutet das praktisch? Auf der persönlichen Webseite dürfen – so die bisherige Rechtsprechung – keine öffentlich lesbaren PDF-Dateien zu vertiefenden Fragen der Praxis zu §§ 218 ff. StGB niederlegen. Sie dürfen aber sehr wohl auf Nachfrage (Link auf der persönlichen ärztlichen Webseite) persönlich informieren und weitergehendes Material denen zusenden, welche dies wollen. Schließlich dient auch das der eigenen Entscheidungsfindung. Ärzte können sich auch mit anderen Institutionen zusammentun und fachlich über die Vor-und Nachteile der verschiedenen Methoden einer Abtreibung erörtern. Auch Links zu bereits existierenden Veröffentlichungen sind erlaubt. Werden solche Formen erprobt und umgesetzt, dann ist für eine angemessene Information gesorgt, ohne dass die Unparteilichkeit des jeweiligen Abtreibungsarztes oder Ärztin infrage gestellt werden kann.

Fazit

Unbestreitbar hat sich in den letzten Jahren eine empfindliche Versorgungslücke aufgetan. Hauptgrund ist nicht das Recht, weder die §§ 218ff. StGB noch das SchKG, sondern eine unangemessene Auslegung, welche weder die liberale Logik der Reform des Jahres 1995 noch die BVerfG-Entscheidung 1998 zur Kenntnis nimmt und verarbeitet. Ein beratener Schwangerschaftsabbruch ist kein strafbares Unrecht. Der Tatbestandsausschluss genügt lediglich nicht, um im Sinne des Krankenversicherungsrechts eine Zahlungspflicht der Krankenkassen auszulösen. Mehr steckt nicht dahinter. Für die Krankenkassen muss eine ärztlich festgestellte Indikation vorliegen.

Unabhängig von diesen Fragen besteht für die Länder die Pflicht, für ein angemessenes Angebot an ambulanter und stationärer Versorgung zu sorgen. Eine Kollision mit dem garantierten ärztlichen Weigerungsrecht kann zwar bestehen, aber dann muss das Land sowohl privat niedergelassene Ärzte zu Ambulanzen motivieren und zugleich den Kliniken zusichern, dass sie Personal einstellen können, welches nicht religiös gebunden ist, sondern Schwangerschaftsabbrüche durchführt.

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