24.10.2017

Abtreibungsgegner nutzen Nazi-Paragraph

Von Monika Frommel

Titelbild

Foto: Joanna Malinowska via Freestocks / CC0

Informationen über Abtreibung auf Webseiten von Ärzten könnten als strafbare Werbung gelten. Zeit, das Strafgesetzbuch zu entrümpeln.

In den 1970er Jahren prallten Abtreibungsgegner und Frauen, die ihr „Recht auf Abtreibung“ einforderten, heftig aufeinander. 20 Jahre lang zogen sich die Bemühungen um eine sozial verträgliche Lösung hin. 1995 gelang mit der sogenannten Beratungslösung endlich ein Durchbruch: Frauen sind straflos, wenn sie sich vor der Abtreibung haben beraten lassen. Ganz zufrieden waren die Kämpferinnen allerdings damit nicht und nannten dieses Modell „Zwangsberatung“. Aber da die Beratung „ergebnisoffen“ sein muss und auf diese Weise auch viele weibliche Arbeitsplätze geschaffen wurden, entspannte sich die Debatte.

Das Land Bayern wollte zwar die Ruhe stören. 1998 stellte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) jedoch klar, dass die Ärzte, die sich gegen ein bayerisches Landesgesetz gewehrt hatten, in ihren Grundrechten verletzt worden waren und nicht durch einen „bayerischen Sonderweg“ behindert werden dürfen. Damit war endgültig deutlich, dass Schwangerschaftsabbrüche durch Ärzte eine medizinische Behandlung wie jede andere sind. Ärzte und Ärztinnen sind Teil eines sozial verträglichen Lebensschutzes.

Vorhersehbar war, dass dies Abtreibungsgegner nicht freute. Seit 20 Jahren betreiben sie eine überregionale Webseite mit dem Namen „Babycaust“ – ‚Holocaust’ an Babys – und prangern ganz konkret einzelne Ärzte und Ärztinnen an, nennen deren Adressen, verteilen Flugblätter und sprechen Patientinnen an. Deutsche Zivilgerichte untersagten wiederholt Abtreibungsgegnern derartige Belästigungen und das BVerfG billigte diese Urteile. Aber dies beeindruckte Klaus Günter Annen, den Betreiber der bereits genannten Webseite, nicht. Im Gegenteil: Sein Anwalt klagte in jedem einzelnen Fall durch alle Instanzen. Finanziert wurde dies durch Prozesskostenhilfe (er sei bedürftig) und durch amerikanische Abtreibungsgegner. Mittlerweile gesteht ihm sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies als Meinungsfreiheit zu, so dass zu erwarten ist, dass derartige Belästigungen wieder zunehmen werden. (Zu einer möglichen Abgrenzung von Meinungsfreiheit und Belästigung bei diesem Thema aus angelsächsischer Sicht siehe hier.)

„§ 219 a Strafgesetzbuch muss abgeschafft oder zumindest eingeschränkt werden.“

Eigentlich müsste man sich nach 50 Jahren roboterhaft wiederholter Phrasen nicht mehr um solche Debatten kümmern, wäre da nicht eine Lücke in den mehrfach reformierten Strafgesetzen, die bislang von der Politik übersehen worden ist, aber von Annen und seinen Freunden genutzt wird. Der nur vordergründig plausibel klingende § 219 a Strafgesetzbuch (StGB) verbietet – glaubt man der Überschrift –  „Werbung für den Schwangerschaftsabbruch“. Die einzelnen Formulierungen dieses 1933 geschaffenen Straftatbestandes sind aber – für die NS-Zeit typisch – uferlos weit und stellen bereits das öffentliche „Anbieten von Leistungen, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind“ unter Strafe.

Wäre dieses Gesetz nach 1995 (der letzten Reform) so formuliert worden, dann würde dies bedeuten, dass auch ärztliche Webseiten, die unter der Rubrik „Angebotene Leistungen“ das Wort Schwangerschaftsabbruch enthalten, verboten wären. Juristen würden dann über die Frage diskutieren, ob ein solches Verbot nicht offensichtlich verfassungswidrig sei, da es Frauen die Information verweigert, auf die sie nun einmal angewiesen sind, wenn sie sich über die ärztlichen Angebote informieren wollen. Es ist ja nicht zumutbar, sich auf die Adresse des Arztes beschränken zu müssen, welche die Beratungsstelle nennt (so aber die gängige Praxis). Nun stammt aber die Formulierung in diesem Gesetz aus dem Jahr 1933 (damals als § 120 Reichs-StGB). Heute muss der Paragraph abgeschafft oder zumindest sein Anwendungsbereich eingeschränkt werden. 

Gerichte können dies schon ohne Gesetzgebung, die aber sinnvoll wäre, tun. Sie verlangen, dass nur dann das Merkmal „Anbieten“ gegeben ist, wenn eine angebotene Leistung nach dem reformierten Recht rechtswidrig ist, etwa wenn sie Abtreibungen „anpreist“. Neutrale Hinweise hingegen oder ein Link, der lediglich ein persönliches Gespräch und eine offene Beratung ermöglicht, müssen zulässig sein. So sehen es auch 99 Prozent aller Staatsanwälte und stellen die Ermittlungsverfahren ein, die sie in im Rahmen des Legalitätsprinzips in Gang setzen müssen, wenn ihnen eine Strafanzeige ins Haus flattert.

„Abtreibungsärzte wurden schon 1933 als ‚Volksschädlinge‘ definiert und massiv bedroht.“

Schaut man in die Kriminalstatistik (die erfasste Arbeitsbelastung der Polizei und der Staatsanwaltschaften), dann werden im Jahr etwa 25-30 solcher Strafanzeigen geschickt. Sie stammen alle von Abtreibungsgegnern, die das Ziel verfolgen, die „Rechtswidrigkeit“ einer Abtreibung symbolisch festschreiben zu lassen. Ärzte werden unter Druck gesetzt, indem deren Webseiten systematisch nach entsprechenden Hinweisen durchforstet werden. Irgendwann – so das Kalkül der Abtreibungsgegner – findet sich eine Staatsanwaltschaft, die ihrem Wunsch nachgibt. Vernetzt werden diese örtlichen Vereine (meist nennen sie sich „Nie wieder“) über die erwähnte Website Babycaust. In Gießen hat ein Staatsanwalt angebissen und eine Anklage geschrieben, Gestützt auf die in Fachkreisen völlig unübliche Zeitschrift für Lebensrecht hält er jede Information, auch neutral gehaltene, für eine strafbare Werbung.

Das Amtsgericht Gießen wird daher am 24. November 2017 über einen bizarren Fall verhandeln (Aktenzeichen 507 Ds-501 Js 15031/15). Eine Gynäkologin setzte auf ihrer Webseite einen Link, der es potentiellen Patientinnen ermöglicht, ein ärztliches Gespräch und eine Beratung wegen eines Schwangerschaftskonfliktes zu erhalten. Es wird spannend; denn die Richterin muss nun darüber entscheiden, wie sie mit einer Gesetzesformulierung umgeht, welche 1933 – kurz nach der NS-Machtergreifung – dazu diente, jüdische, kommunistische oder liberale Ärztinnen und Ärzte einzuschüchtern, zu vertreiben oder ihnen zumindest die Approbation entziehen zu lassen.

Schließlich gab es seit den 1920er Jahren eine Vereinigung sozialistischer Ärzte, die den § 218 Reichs-StGB bekämpften und über Empfängnisverhütung aufklärten. Abtreibungsärzte wurden schon 1933 als „Volksschädlinge“ definiert und massiv bedroht. Eine konsequente NS-Sexualpolitik war den Machthabern so bedeutsam, dass 1936 eine „Reichszentrale zur Verfolgung der Homosexualität und Abtreibung“ gebildet wurde. Auch das Verbot des Anbietens von Leistungen, die zum Schwangerschaftsabbruch geeignet sind, gehörte zu diesem Vorgehen.

Was ist zu tun? Die künftige Bundestagsmehrheit sollte das Wort „anbietet“ in diesem Straftatbestand streichen. Dann ist auch einem wenig kreativen Staatsanwalt klar, dass es nur um anstößige Werbung gehen kann und nicht um neutrale Information. Alle Patienten haben das Recht, sich über das Internet über die angebotenen Leistungen von Ärzten und Ärztinnen zu informieren. Das ist ein Menschenrecht.

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