03.11.2021

Der #metoo-Puritanismus ist in Deutschland angekommen

Von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Elijah O'Donell via Unsplash / CC0

Früher wurde die Bild Zeitung wegen ihrer mangelnden journalistischen Standards angegriffen. Jetzt wird sie angegriffen, weil sie den ‚woken‘ sexuellen Umgangsformen nicht mehr entspricht. Das ist für uns alle schlecht.

„Julian Reichelt ist entthront”, jubelte die Berliner Zeitung, nachdem die Springer SE gezwungen wurde, ihren Bild-Chef zu entlassen. Gezwungen ist das richtige Wort; denn Reichelt, eine der schillerndsten und polarisierendsten Figuren der deutschen Medienlandschaft, verlor seinen Job, nachdem ihm in einem Artikel der New York Times (NYT) Ehebruch vorgeworfen wurde. In dem Artikel wurde behauptet, dass Reichelt, der seit 2016 verheiratet ist, Affären mit jüngeren Kolleginnen hatte. Springer, so das Fazit der NYT, stecke in der Vergangenheit fest, wenn es um Werte am Arbeitsplatz gehe.

Die Anschuldigungen gegen Reichelt wurden von mehreren Frauen, anonym, erhoben. Manche, mit denen er eine Affäre hatte, sollen später von ihm befördert worden sein. So laufe es immer bei Bild, zitiert der NYT-Artikel eine der Anklägerinnen: „Diejenigen, die mit dem Chef schlafen, bekommen einen besseren Job.”

Aus den Statements von Springer wird klar, dass der Verlag Reichelt nicht verlieren wollte, denn er war ein beliebter Journalist. Springer-Chef Mathias Döpfner lobte ihn in einer durchgesickerten privaten Korrespondenz mit einem Freund sogar dafür, dass er der „letzte und einzige Journalist in Deutschland [sei], der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt“ habe. Fast alle anderen seien Propaganda-Assistenten geworden, so Döpfner. Es überrascht nicht, dass auch er als Präsident des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) nun selbst in die Kritik geraten ist.

Warum also sah sich Springer gezwungen, Reichelt zu entlassen? Einige behaupten, das Ganze habe vor allem mit Geld zu tun: Springer drohte der Verlust von Werbeaufträgen und ein Absturz auf dem Aktienmarkt. Die Journalistin Bettina Gaus z.B. äußerte sich dahingehend im Spiegel. Die Vorwürfe gegen Reichelt hielt sie für übertrieben und wies darauf hin, dass es sich um einvernehmliche Beziehungen zwischen Erwachsenen handelte. Wer glaube, dass es nur um Moral ginge, glaube wohl auch, dass Kapitalismus immer nett und moralisch sei, schrieb sie.

„Es sieht so aus, als ob Springer einen beliebten Journalisten auf dem Altar des ‚woken‘ Kapitalismus geopfert hat.“

Da mag einiges dran sein. Tatsächlich hat Springer in letzter Zeit massiv auf dem amerikanischen Markt expandiert. Erst vor wenigen Wochen gab das Unternehmen bekannt, dass es den amerikanischen Verlag Politico für eine Milliarde Dollar gekauft hatte. Aber, Springer ist auch aus einem anderen, ideologischen Grund unter Druck geraten: Dier Verlag sollte gezwungen werden, die strengen ‚woken‘ Werte zu übernehmen, die die derzeitige amerikanische kapitalistische Kultur beherrschen. Reichelts Verhalten wäre in Deutschland vielleicht noch toleriert worden, nicht aber in den USA. Ben Smith, der Journalist der NYT, dessen Artikel dem Journalisten den Job kostete, drückte es so aus: Ein amerikanischer Manager wäre für nur fünf Prozent der Anschuldigungen, mit denen Reichelt konfrontiert war, gefeuert worden. Der Fall zeigt, also, wie weit verbreitet der #MeToo-Puritanismus am amerikanischen Arbeitsplatz bereits ist. Es sieht also so aus, als ob Springer einen beliebten Journalisten – und Döpfner zudem einen persönlichen Freund – auf dem Altar des „woken” Kapitalismus geopfert hat.

Reichelt wird von vielen vermisst werden. Er war wirklich einer der wenigen Journalisten in Deutschland, die bereit waren, sich gegen die Eliten zu stellen. Er begann seine Karriere als Kriegsreporter in Afghanistan, wo er, wie seine Kollegen bezeugen, mehrmals sein Leben riskierte. Er scheute sich nie, Kontroversen auszulösen. So veröffentlichte er 2015 unverpixelte Fotos von mutmaßlichen ISIS-Terroristen, während diese in Deutschland vor Gericht standen.

Während der Covid-Pandemie verärgerte er das Establishment mehr denn je. Keiner kritisierte den Lockdown so entschlossen wie er. Er war sogar bereit, sich mit dem Star-Virologen und Regierungsberater Christian Drosten anzulegen, der von vielen in den Medien wie ein Halbgott verehrt wurde.

„Der mediale Jubel über Reichelts Entlassung zeigt vor allem eins: Wie sehr die Vertreter des ‚respektablen‘ Journalismus die Boulevardpresse und ihre Leser verachten.“

Aber Reichelt war nicht nur der politischen Elite ein Dorn im Auge. Er war auch ungemein beliebt bei vielen Bild-Lesern. Der mediale Jubel über seine Entlassung zeigt vor allem eins: Wie sehr die Vertreter des ‚respektablen‘ Journalismus die Boulevardpresse und ihre Leser verachten. Seine Entlassung wird als Sieg in einem langjährigen Kulturkampf gegen die Bild-Zeitung und ihre Leser gefeiert.

Dieser Kampf dauert nun schon eine ganze Weile an. Seit der Gründung von Bild im Jahr 1952 gab es zahllose Versuche, die Zeitung zu diskreditieren – und auch zahlreiche Gerichtsverfahren gegen sie. Ende der 1970er Jahre veröffentlichte der Schriftsteller und Journalist Günther Wallraff sein Buch „Der Aufmacher". Darin schildert er seine Erfahrungen als Undercover Bild- Reporter. Eines seiner Ziele war sicherlich, wie er später selber sagte, die Menschen vom Kauf dieser Zeitung abzubringen. Damals aber wurde die Bild immerhin noch wegen ihrer mangelnden journalistischen Standards angegriffen. Jetzt wird sie angegriffen, weil sie den ‚woken‘ sexuellen Umgangsformen nicht mehr entspricht – welch eine Ironie!

Mit Reichelts Entlassung ist zu erwarten, dass die Medienlandschaft in Deutschland noch zahmer und langweiliger wird. Es ist durchaus möglich, dass er ein unangenehmer Chef war und seine Mitarbeiter – auch die Frauen – nicht besonders gut behandelt hat. Aber er war ein beliebter und unerschrockener Journalist. Eine Medienlandschaft voller braver Journalisten, die sich an die Regeln halten, mag eine gute Nachricht für das Establishment sein. Für alle anderen ist es eine schlechte.
 

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