20.01.2012
Der Kult ums Hirn
Analyse von Boris Kotchoubey
Hier wird mit den Mythen der modernen Neurowissenschaft aufgeräumt. Sie bietet oft nicht mehr als Pseudoerklärungen. Die Gehirnmechanik allein liefert nicht den Schlüssel zum Verständnis der Conditio humana
„Gehirn mit geronnenem Blut: Hierzu benötigt man eine spezielle Puddingform in Form eines menschlichen Gehirns. Diese sind aber recht preisgünstig im Handel zu bekommen. Für den Pudding Schokoladen- und Vanillepuddingpulver mischen, das gibt einen hübschen grau-bräunlichen Farbton. Bei der Zubereitung sollte man etwas mehr Puddingpulver benutzen als auf der Packungsanleitung angegeben, damit er richtig fest wird. Hier gilt ca. 1,5 Teile Puddingpulver: 1 Teil Milch. Die Masse nach Packungsanweisung kochen, in die Form einfüllen und über Nacht erkalten lassen. Am nächsten Tag den Pudding vorsichtig aus der Form lösen und auf eine Servierplatte stürzen. Blutrote Himbeersauce über die Hirnwindungen gegossen hat einen ganz besonders schönen und schaurigen Effekt.“ Aus einem Kochbuch
Dass eine der meist verbreiteten Religionen in der frühen Geschichte der Menschheit der Solarkult war, ist nachvollziehbar. Ägypter und Slawen, Afrikaner und Indianer und viele andere vergötterten die Sonne und beteten sie an. Schließlich war sie die wichtigste Energiequelle auf unserem Planeten, ohne die das Leben unvorstellbar wäre. Die einzige Quelle war sie freilich nicht, aktuelle Theorien über die Entstehung des Lebens messen auch der Erdwärme eine sehr hohe Bedeutung zu. Mit ein wenig Fantasie könnte man sich die aktuell in Deutschland verlaufende Diskussion für die Solar- und gegen die Kernenergie als den verspäteten Kampf der himmlischen Solarreligion gegen den chthonischen Glauben (Uranus) vorstellen; aber dieses Thema schieben wir beiseite, da wir in diesem Text mit einer anderen Religion zu tun haben. Wir finden also den über alle Zivilisationen hinweg verbreiteten Sonnenkult verständlich, aber wir können ihn nicht mehr teilen. Denn wir sind klüger geworden und bewundern nicht mehr so sehr Kraft und Stärke als Intelligenz und Organisation. Wie die enorme Energie der Sonne unsere Urväter verzaubert hat, verzaubert uns heute die enorme Leistung des kompliziertesten Gebildes im Universum – des menschlichen Gehirns. Insbesondere seit die US-amerikanische Regierung die 1990er Jahre zur „decade of the brain“ erklärt hat, erreichte die Überzeugung, dass man schließlich alles am Menschen, ja sogar alles in der Welt aus der Hirnmaschinerie erklären kann, das Ausmaß von einem Zerebralkult, ähnlich dem Solarkult unserer Vorfahren. Auch in diesem Fall ist die Anbetung nachvollziehbar, denn so undurchdringlich ist diese Maschinerie, dass man wirklich sagen kann: Wer das Gehirn verstanden hat, muss in der Lage sein, alle Probleme zu lösen.
Die Stellung der Neurowissenschaft heute wird oft mit der der Physik in der Mitte des 20. Jahrhunderts verglichen. Der Vergleich hinkt. Die Naturwissenschaftler der Urzeiten eines Dürrenmatts verdankten ihren Status ihren enormen technologischen Möglichkeiten, ihrer Macht, kolossale Energien in Gang zu setzen und in den Dienst der menschlichen Bedürfnisse zu stellen. Diese Macht wurde von ihnen nicht angestrebt. Im Gegenteil, sie war ihnen eine Last. Niels Birbaumer [1] hat Recht, wenn er die gegenwärtige soziale Rolle der Hirnforscher mit der Rolle der Psychoanalytiker (und nicht der Naturwissenschaftler) im 20. Jahrhundert vergleicht. Lediglich die Wortwahl hat sich geändert: „An Stelle des ‚Ich’ rutschte der ‚Neokortex’, an Stelle des ‚Es’ das ‚limbische System’ und an Stelle des ‚Über-Ich’ der ‚mediale Präfrontalkortex’.“
Der Neurowissenschaftler ist der Hohepriester unserer Zeit. Seinen Status verdankt er nicht seiner technischen Macht, die eher begrenzt ist (s.u.), sondern dem Anspruch, ein neues Menschenbild und Weltbild zu entwickeln, die gesamte soziale Ordnung auf eine neue, angeblich wissenschaftliche [2] Basis zu stellen und für alle Probleme der menschlichen Existenz eine prinzipiell neue Lösung anzubieten. Er verspricht uns, die alten Illusionen wegzufegen, das menschliche Selbstbewusstsein radikal umzuwerten und endlich die letzte Wahrheit über den Menschen, sein Schicksal in der Welt und den Sinn (bzw. die Sinnlosigkeit) seiner Existenz zu entblößen.
Eine vollständige Auseinandersetzung mit den verschiedenen Sekten und Strömungen der Zerebralreligion ginge über den Rahmen eines kurzen Artikels hinaus. [3] Wir gehen in diesem Text nicht inhaltlich, sondern eher von der Form aus vor, um zu zeigen, dass die Neurobewegung, so wie sie sich öffentlich präsentiert, schon ihren formellen Merkmalen nach keine Wissenschaft, sondern vielmehr eine neue Idolatrie ist.
Probleme mit Verifizierung
Angesichts der bereits angesprochenen enormen Komplexität des Gehirns ist es verständlich, dass innerhalb der Hirnforschung Millionen einzelne Fragestellungen möglich sind, und dass daher jeder Forscher lieber sein eigenes Thema entwickelt als die Versuche wiederholt, in denen ein anderer bereits die Pionierarbeit geleistet hat. Die finanziellen sowie Medieninteressen motivieren zusätzlich, ein eigenes Forschungsgebiet aufzubauen, statt auf der Spur der anderen zu bleiben. „Der Sieger bekommt alles“: Der Entdecker steht im Rampenlicht und wird vom Geldregen gesegnet, seine Artikel werden auf den ersten Seiten von Nature und Science gedruckt. Wer sein Ergebnis lediglich wiederholt hat, bekommt bestenfalls eine Randnotiz in Petit. Dies führt zum nahezu vollständigen Verschwinden des Instituts der Replikation. Die überwiegende Mehrheit aller publizierten Befunde wird nur ein Mal berichtet, oder, falls doch wiederholt, dann von denselben Forschern. [4]
Wenngleich nachvollziehbar, bedeutet dieser Trend einen krassen Bruch mit der klassischen Tradition der Naturwissenschaft, nach welcher nur diejenige Erkenntnis als wissenschaftlich gesichert gilt, die in mehreren Experimenten verschiedener Mitglieder der „Weltrepublik der Gelehrten“ unabhängig voneinander bestätigt worden ist. Ohne dieses Prinzip in der Physik hätten wir z.B. heute geglaubt, eine Kernfusion funktioniere bei Raumtemperaturen, denn solche Befunde wurden tatsächlich in den renommiertesten Zeitschriften publiziert; doch die Berichte konnten nicht repliziert werde, und das Thema ist vergessen. Genauso läuft es in der klinischen Medizin: Berichtet ein Doktor A, dass ein Medikament X bei Krankheit Y hilft, so wollen natürlich viele dieses Medikament nutzen, und es stellt sich sehr schnell heraus, ob der erste optimistische Bericht zuverlässig war, oder ob das positive Ergebnis möglicherweise durch zufällige Zusammenwirkung unklarer und unvorhersehbarer Kräfte eintrat (eine beabsichtigte Fälschung ist nur eine, und relativ seltene, Ursache der fehlenden Wiederholbarkeit).
Als Konsequenz dieser Entwicklung stellt uns die Neurowissenschaft heute eine Flut spannendster Entdeckungen dar, deren überwiegende Mehrheit leider nur die Lebensdauer eines Schmetterlings hat. Ein sensationeller Befund (so aktiviere z.B. bei Schwangeren das Hören von Mozart-Symphonien die Gehirnentwicklung des künftigen Kindes) geht schnell über die ganze Welt, und erst viel später findet man vielleicht, wenn man gut sucht, in einer halbvergessenen Fachzeitschrift einen Bericht, dass alle nachfolgenden Versuche, diesen Effekt zu wiederholen, leider erfolglos blieben.
Probleme mit Falsifizierung
Sir Karl Popper (1902-1994), der britische Philosoph deutscher Herkunft, ist bekannt als Autor der Idee, dass die Wissenschaft vor allem durch die Zurückweisung alter Theorien und Modelle, vielmehr als durch die Bestätigung neuer Theorien, fortschreitet. In einer hochkomplexen Welt können wir nämlich immer irgendwelche Bedingungen finden, unter denen unsere Theorie mit den experimentellen Daten in Einklang gebracht werden kann; das bedeutet aber nicht, dass die Theorie im Allgemeinen stimmt. Deshalb hat ein bestätigendes Experiment nur eine sehr begrenzte Aussagekraft; ein Experiment dagegen, dessen Resultate der Theorie klar und unmissverständlich widersprechen, bedeutet einen realen Fortschritt, denn es zeigt, dass die Zeit gekommen ist, eine neue Theorie zu entwickeln. Der Popperianer John Platt formulierte diese Prinzip so: Eine Theorie ist nur dann sinnvoll, wenn es Experimente oder Beobachtungen geben kann, die, falls sie zutreffen, diese Theorie widerlegen würden. Ein Experiment ist nur dann sinnvoll, wenn es eine Theorie geben kann, die von diesem Experiment widerlegt werden könnte. [5]
Diese wissenschaftstheoretischen Vorstellungen sind heute allgemein bekannt und werden überall in den Universitäten gelehrt. Trotzdem ist die Praxis der gegenwärtigen Neurowissenschaft genau umgekehrt. Die meisten Experimente werden aufgebaut, um Theorien zu bestätigen. Man geht z.B. von der Annahme aus, die Aktivität bestimmter Hirnareale hänge mit dem Gedächtnis zusammen. Die Aufgaben werden dann so gestellt, dass die Gedächtnisleistung variiert. Die mit Hilfe der Bildgebungsverfahren beobachteten Hirnaktivierungen werden mit dieser Gedächtnisleistung in Verbindung gebracht. Somit wird die Ausgangshypothese bestätigt. Dabei wird ignoriert, dass in anderen Studien dasselbe Hirnareal oft im Zusammenhang mit völlig anderen Prozessen aktiviert wird, und dass schon deshalb die allgemeine Aussage „das Areal X ist für Gedächtnis verantwortlich“ nicht stimmen kann.
Ganz allgemein kann man sagen, dass einige verhaltensrelevante Prozesse im Gehirn (z.B. Gesichtserkennung) lokalisierbar sind, d.h. sich in einer bestimmten Region konzentrieren, andere sind dagegen breit verteilt. Erst in einer ganzen Versuchsserie kann herausgestellt werden, ob der untersuchte Prozess zu der ersten oder zweiten Klasse gehört. In der Tat wird aber eine gelungene Lokalisierung als ein „gutes“ Ergebnis angesehen und gerne in renommierten Zeitschriften veröffentlicht. Kann man dagegen im Experiment keinen Bezug einer Funktion auf bestimmte Hirnareale finden, so wird dies als „Versagen“ betrachtet und dann sofort nach methodischen Mängeln durchsucht. [6] Vergleichen wir dies wieder mit der Medizin. Was wäre, wenn eine Studie, die den positiven Effekt eines Medikaments nachweist, schon deshalb einen höheren Rang hätte, als diejenige, die keinen nützlichen Effekt findet, oder als eine, die schädliche Nebenwirkungen feststellt? Hätten wir in der Medizin die gleiche Situation wie in der experimentellen Neurowissenschaft, so würden wir zum Glauben gebracht, alle jeweils ausprobierten Medikamente seien höchst effizient und völlig nebenwirkungsfrei! Zehntausende Autoren schreiben stolz in Abschlusszeilen ihrer Manuskripte: „wir waren in diesem Experiment in der Lage, die Theorie XY erfolgreich zu bestätigen“, ohne zu merken, dass dieses Selbstlob ihre Ergebnisse
entwertet.
Massive Übertreibungen und Überinterpretationen
Zahlreiche US-amerikanische und deutsche Medien berichten schon seit einem guten Jahrzehnt, dass es dem kalifornischen Neurochirurgen Itzhak Fried gelungen sei, durch die Stimulation bestimmter Gehirnteile bei Patienten eine vollständige Illusion einer willkürlichen, absichtlichen Handlung auszulösen. Hunderte Vorlesungen werden über diese sensationelle Entdeckung gehalten. Die Schlüsse daraus werden immer radikaler: Eine Handlungsabsicht sei eine Illusion; der sogenannte Wille sei nichts anderes als die Erregung bestimmter Hirnareale. Man fordert gigantische soziale Konsequenzen, wie z.B. die Veränderung des gesamten Strafrechtssystems aufgrund der Tatsache, dass es beim Verbrechen um keine willentliche Handlung gehe, sondern nur um die anomale Erregung einer Gruppe von Nervenzellen.
Nun lesen wir mal die Originalbeschreibung von Dr. Fried: „Neben den motorischen Reaktionen, aber weniger häufig, führte die elektrische Stimulation zu Berichten über verschiedene Sinneserfahrungen. Diese waren dreierlei: (1) Das Gefühl des Prickelns, der Taubheit, sehr selten der Wärme oder eines milden Schmerzes [...]; (2) subjektives Gefühl einer Bewegung ohne die eigentliche Bewegung (z.B. sagt ein Patient ‚ich spüre, dass sich mein Arm bewegt’, aber keine Armbewegung wird beobachtet); (3) subjektiver ‚Druck’ oder ‚Drang’, eine Bewegung auszuführen, oder ein Vorgefühl, dass eine Bewegung gleich ausgeführt wird [...] An einigen Stellen, an denen schwache Stimulation solche Antworten hervorrief, löste stärkere Stimulation tatsächlich eine Bewegung aus, aber wenn ein stärkerer Strom in der Tat zur Bewegung führte, so war dies nicht unbedingt dieselbe Bewegung, zu welcher der ‚Drang’ bei einer niedrigeren Reizintensität gespürt wurde [...] An anderen Stellen, an denen ein solcher ‚Drang’ ausgelöst werden konnte, führte stärkere Stimulation zu keinem beobachtbaren Effekt.“ [7]
Nun denken wir an eine willentliche Entscheidung, die wir mal getroffen haben: Job wechseln oder nicht? Ins Kino gehen oder zu Hause bleiben? Im Restaurant ein Steak bestellen oder lieber Maultaschen? Oder ganz einfach: Ein Glas greifen, einen Mantel vom Haken nehmen. Wie fühlen sich solche Handlungen an? Wie Prickeln oder Taubheit? Wie das Gefühl, dass wir eine nicht durchgeführte Bewegung durchgeführt haben? Passiert es oft in einem Restaurant, dass wir Maultaschen bestellen, während der Ober behauptet, er habe keine Bestellung bekommen? Solche Dinge sind, milde gesagt, eher ungewöhnlich. Und wenn wir tatsächlich einen „Druck“ oder „Drang“ zu einer Handlung verspüren, so wissen wir sofort und genau, dass sie eben deshalb keine willkürliche Handlung ist, sondern unter innerem Zwang ausgeführt wird. Fazit: Die Beobachtungen von Fried (die neulich von einer französischen Gruppe wiederholt wurden) sind zwar aus neurologischer Sicht höchst interessant und können vielleicht auf einige Mechanismen von Zwangsneurosen hinweisen, aber die Behauptung, dass man damit im Gehirn „den Ort des absichtlichen Handlungsentschlusses“ gefunden habe, ist eine pure Fantasie der Neuropriester. Es gäbe keine Einwände dagegen, wenn gesagt würde, man glaube, dass irgendwann der Wille im Gehirn lokalisiert werden kann. Jeder darf glauben, was er will. Doch die Behauptung, dieser Glaube sei von Fakten untermauert, ist ein Hirngespinst.
In einem anderen Experiment sollten die Teilnehmer entscheiden, ob sie die zwei ihnen dargebotenen Zahlen addieren oder subtrahieren wollen. Einige Sekunden davor wurde in einem Areal des Stirnlappens Aktivierung registriert, die mit der Entscheidung einen (schwachen) Zusammenhang aufwies. Wer die Gepflogenheit der Hirnanbeter kennt, kann ihre Deutung des Befundes schon erraten: Wir sind soweit, nach den Hirnbildern vorherzusagen, ob ein Mensch addieren oder subtrahieren will, und zwar lange bevor er das will!
Stellen wir uns aber vor, wir registrieren die Arbeit eines Verteidigungsministeriums. Dann passiert ein Krieg, und im Nachhinein erkennen wir (wen soll das wundern) zwischen einigen Vorgängen im Ministerium vor dem Krieg und anderen Vorgängen im Krieg einen Zusammenhang. Über einen Historiker, der nun sagen würde, er könne aufgrund der Untersuchungen von Unterlagen des Verteidigungsministeriums einen Krieg und sein Ergebnis vorhersagen, würde die ganze Welt lachen. Vielen Neuroforschern entgeht aber der Unterschied zwischen der Ursache eines Prozesses (so wie ein Stoß die Bewegung eines Balls verursacht) und einem Faktor, der neben zahlreichen anderen Faktoren zu einem Prozess beiträgt (wie die Entscheidung eines Beamten im Verteidigungsministerium eine gewisse Wirkung auf den Verlauf eines Krieges – falls es überhaupt zu diesem kommt – haben kann.) [8]
Pseudoerklärungen
Die Neurowissenschaft verspricht uns, die jahrhundertelange Trennung zwischen Körper und Geist zu überwinden, und somit die Einheit der Realität wiederherzustellen. Wahrlich ist es ein großes und ehrwürdiges Ziel, denn der Dualismus, die Gegenüberstellung der „höheren“ geistigen Wirklichkeit der „niederen“ materiellen, den die platonische Philosophie und die von ihr stark beeinflusste paulinische Religion in unser Denken eingebaut haben, stört uns täglich, die Welt als eine Welt zu erleben. Überall – von der Öko-Problematik bis auf die intimsten Probleme zwischen Mann und Frau – spüren wir dieses Hindernis.
Doch das Mittel, das die Neurowissenschaft benutzt, um jenes hehre Ziel zu erreichen, ist viel zu simpel, um wahr zu sein. Es besteht darin, die Funktionen, die unser Denken traditionell dem Geist zuschrieb, einfach dem Gehirn umzuadressieren. Statt des Ausdrucks „ich habe entschieden“ (welcher unerwünschte philosophische Assoziationen mit einer „Ich-Substanz“ hervorrufen könnte) wird uns vorgeschlagen, „meine Neuronen haben entschieden“ zu sagen. Zurück zu Birbaumer: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn z.B. einem Patienten statt „Ihr Superego unterdrückt die Impulse Ihres Es“ gesagt wird „Ihr Präfrontalkortex unterdrückt die Impulse Ihres limbischen Systems“? Ist damit die traditionelle Trennung zwischen Körper und Geist schon aufgehoben?
Angenommen, Sie haben eine unbestimmte Angst und wissen selber nicht wovor. Sie hätten gerne etwas über die Ursache Ihrer Unruhe erfahren. Kein Problem, sagt der Neurowissenschaftler, diese Ursache sei die Übererregung des Mandelkerns [9]. Ihr Mandelkern müsse beruhigt werden. (Man merke: Er, der Kern – nicht Sie! – müsse beruhigt werden.) In einem anderen Fall wollen Sie z.B. umziehen. Hier im Gegenteil wissen Sie ganz genau, warum Sie umziehen: Die neue Wohnung ist zwar etwas teurer, aber geräumig, ruhig gelegen und nah an der Arbeitsstelle. Quatsch, sagt der Neurowissenschaftler, all diese Gründe sind nichts als Illusion. In der Tat habe das supplementärmotorische Areal [10] in Ihrem Hirn ohne Ihr Wissen entschieden umzuziehen und Ihnen jene pseudorationalen Gründe vorgetäuscht.
Ich behaupte nicht, dass diese Erklärungen falsch sind. Die Sache ist schlimmer: sie erklären gar nichts. Wenn sie sagen, dass ich durch die Aktivität des Mandelkerns meine Angst erlebe und durch die Aktivität des Stirnlappens schwierige Probleme löse, dann ist es genau so absolut wahr, wie dass ich durch die Aktivität meiner Arme einen Baum fälle und durch die Aktivität meiner Beine laufe. Aber es wäre ein Unsinn, die Aktivität der Arme und Beine als Ursache dessen anzubieten, warum ich einen Baum fällen oder zu einem Ort laufen soll.
An dieser Stelle wird oft mit der Zeitabfolge argumentiert. Manchmal zumindest können einige Arten der Hirnaktivität registriert werden, bevor wir einer bestimmten Verhaltensoption bewusst geworden sind. Spricht dies nicht dafür, dass das Gehirn dem Geist vorangeht, dass also die Hirnprozesse die bewussten Prozesse verursachen? Sehen wir davon ab, dass diese angebliche Zeitabfolge in sehr wenigen Experimenten nachgewiesen wurde; dass diese Experimente gravierende, allgemein bekannte methodische Fehler inklusive arithmetischer Fehler [11] aufweisen; dass spätere methodisch viel bessere Studien diese Zeitabfolge – zuerst Hirnaktivität, dann bewusste Entscheidung – nicht bestätigen konnten [12]. Diese Kritik ist nicht sehr wichtig, weil die Zeitabfolge keine entscheidende Rolle gespielt hätte, selbst wenn alle Experimente methodisch einwandfrei wären. Denn unser Bewusstsein ist nicht verpflichtet, das Verhalten millisekundengenau abzubilden.
Um dies zu zeigen, hilft ein einfaches Beispiel. Ich bin auf dem Weg zu einem Ziel – sagen wir, ins Kino. An einer Ecke muss ich links abbiegen. Dazu muss mein rechtes Bein ein paar stärkere Schritte machen als das linke. Diesem stärkeren Schritt entspricht auf der physiologischen Ebene eine zusätzliche Anspannung der Beinmuskulatur, z.B. in dem starken vierköpfigen Oberschenkelmuskel. Man kann diese Anspannung registrieren und einen strengen Zusammenhang zwischen ihr und meinem Verhalten („links Richtung Kino abbiegen“) feststellen, aber keine kausale Erklärung daraus ziehen. Die Zeitabfolge ist dabei völlig belanglos. Ich bin nämlich, wie man sich unschwer vorstellen kann, im Geiste schon beim erwarteten Film. An den Weg, den ich ja seit Jahren kenne, denke ich nicht. Daher ist durchaus möglich, dass ich eine klare gedankliche Idee, warum ich jetzt gerade links abgebogen bin, erst im Nachhinein bekomme, vielleicht mehrere Sekunden nachdem der kluge Physiologe die Anspannung in meinem rechten Schenkel erfasst hat. Es ist sogar möglich, dass ich diese klare bewusste Idee gar nicht bekomme, sondern meinen Weg automatisch laufe. Diese Tatsache ist nicht ganz ohne Bedeutung. Sie zeigt z.B., wie komplex und vielschichtig das Bewusstsein des Menschen ist, indem eine ganze Reihe von Handlungen, einmal geplant, weiter ohne kontrollierte Aufmerksamkeit ausgeführt werden kann. Aber es wäre widersinnig, zum Schluss zu kommen, dass mein rechtes Bein meinen Weg bestimmt hat, und dass das Bein mir den scheinbaren Grund dafür (dass ich nämlich ins Kino will) als eine Illusion darstelle. Diesen Unsinn erzählen uns die Hirnpriester.
Eine einfache und unbequeme Wahrheit, die die Hirnanbeter zu leugnen versuchen, lautet: Ein Zusammenhang erklärt nichts. Angenommen, wir haben festgestellt, dass bei kreativen Handlungen der Puls beschleunigt ist. Sinnlos wäre eine solche Beobachtung nicht. Doch was würde sie uns im Phänomen der Kreativität erklären? Dies liegt nicht nur daran, dass die Pulsbeschleunigung nicht spezifisch ist, sondern auch unter anderen Umständen, z.B. bei körperlicher Arbeit auftritt. Auch ein Zusammenhang mit einer ganz spezifischen Reaktion – solange er nur ein Zusammenhang ist – kann keine Erklärung bieten.
Betrachten wir das folgende Beispiel. Ein großes Problem in der Psychologie, Philosophie und Computerwissenschaft ist die Mustererkennung. Wie erkenne ich eine Katze? Katzen können groß oder klein sein, weiß-rot oder grau getigert, sibirisch oder siamesisch, können von oben, von hinten oder von der Seite angeschaut werden. Das Signal auf der Netzhaut meiner Augen ist in all diesen Fällen völlig unterschiedlich, und trotzdem erkenne ich in jedem Fall sehr schnell, dass es sich um eine Katze und nicht z.B. einen Hasen oder Hund handelt. Nun könnte vielleicht ein Neurowissenschaftler nachweisen, dass immer, wenn er mir unter verschiedensten Aspekten eine Katze zeigt, in meinem Gehirn eine Erregung in einem bestimmten Netzwerk registriert wird. Bis heute sind solche Befunde fast so unspezifisch, wie der Puls bei kreativen Einfällen; aber das muss nicht immer so sein, und wir nehmen jetzt an, dass mein Kollege tatsächlich eine ganz spezifische Erregung findet. Jetzt steht also dem Muster „Katze“ das Erregungsmuster in meinem Gehirn streng gegenüber.
„Hurra“, – sagt der Kollege. „Das Problem ist gelöst. Du weißt, dass es eine Katze ist, dann und nur dann, wenn in deinem Gehirn diese und jene Neuronen zusammen feuern.“ Entschuldigung, aber wer weiß in diesem Fall, dass es eine Katze ist? Natürlich nur er, der Kollege! Er bietet mir Katzenbilder dar, er registriert das Feuern meiner Neuronen, so kann nur er das eine mit dem anderen vergleichen und aus dem Vorhandensein der neuronalen Erregung auf eine Katze schließen (oder umgekehrt). Ich kann das nicht, denn ich habe zu der Katze keinen anderen Zugang als nur durch mein Gehirn (und hätte ich diesen Zugang, bräuchte ich das Gehirn nicht!) Der Zusammenhang „eine Katze – neuronales Muster X“ existiert nur für ihn, nicht für mich. Das entdeckte katzenspezifische Erregungsmuster kann ihm ermöglichen, einen wissenschaftlichen Artikel zu schreiben, aber es kann mir nicht ermöglichen, eine Katze zu sehen.
Umsetzung in die Praxis
Neurowissenschaftler schmücken sich gerne mit fremden Federn und schreiben die in der Tat großen Fortschritte in der Behandlung neurologischer und besonders geistiger Krankheiten ihrer Forschung zu. Tatsächlich beruhen diese Fortschritte auf dem Erbe früherer Jahrzehnte. Die drei wichtigsten Klassen psychoaktiver Medikamente (antipsychotische, antidepressive und angstlösende Präparate) wurden in den 50er und 60er Jahren erfunden, längst vor der Zeit der modernen Neurowissenschaft. Die wichtigen Voraussetzungen der Revolutionen in der Psychopharmakologie waren keine massiven staatlich kontrollierten Investitionen in die Neurowissenschaft, sondern die Forschungsfreiheit, der Glaube an den naturwissenschaftlichen Fortschritt und die Möglichkeit, innerhalb der pharmakologischen Großbetriebe (die damals noch nicht verteufelt wurden) kreativ zu arbeiten. Die Grundlagenforschung folgte diesen Entdeckungen nach; sie klärt im Nachhinein die überraschend starke Wirkung der Medikamente und hilft, sie so zu modifizieren, dass ihre positiven Effekte maximiert und Nebenwirkungen minimiert werden. Das ist eine wichtige Justierarbeit, aber sie beruht auf den fundamentalen Entdeckungen und Erfindungen der Zeit, als es das Wort „Neurowissenschaft“ noch nicht gab.
Die Verbesserung der Lage der psychisch Kranken in den letzten zwei Jahrzehnten hat mit der Neurowissenschaft wenig zu tun. Vielmehr ist das dem Aufbau der sozialen Netzwerke, den Selbsthilfegruppen und –vereinen und der besseren Organisation des psychiatrischen Dienstes zu verdanken. Wo es tatsächlich Fortschritte in der praktischen Anwendung neurowissenschaftlicher Kenntnisse gibt, betrifft er meistens die Bereiche (z.B. Neurorehabilitation), die innerhalb des neurowissenschaftlichen Mainstreams eher eine Randexistenz führen. So ist die Neurorehabilitation in den meisten europäischen Ländern überhaupt nicht in die Universitätsmedizin eingegliedert.
Man soll weiterhin keinen logischen Fehler machen, indem man den grundlagenwissenschaftlichen Fortschritt mit dem technologischen verwechselt. Den letzteren gibt es reichlich. Moderne Geräte verbessern die Diagnostik neurologischer Krankheiten erheblich und lassen heute neurochirurgische Eingriffe mit einer Präzision zu, von der man früher nicht hätte träumen können. Aber das hat mit dem versprochenen „neuen Menschenbild“, mit der „Revolution im Verständnis der Gesellschaft“ gar nichts zu tun.
Über den Beitrag der Neuroforschung zur Erziehungswissenschaft wurde bereits so oft gesprochen, dass wir nichts mehr hinzufügen können. Mit Hilfe der funktionellen Bildgebung erfahren wir z.B., dass Menschen immer lernfähig bleiben, dass aber ein Kind besser und schneller lernt als ein Erwachsener, und dass starke Angst Lernprozesse hemmt. Quintilian, der Klassiker der römischen Pädagogik, wusste das vor nahezu 2000 Jahren.
Die Chancen, dass die Neuroforschung in einer absehbaren Zukunft ein Gedankenlesegerät hervorbringt, mit dem ein Geheimdienst unsere verborgene Staatsuntreue aufdeckt, oder eine Hirnsteuerungsmaschine, mit denen z.B. Großkonzerne unser Konsumverhalten manipulieren würden, sind viel geringer als die Chancen, auf der Basis der Präimplantationsdiagnostik gezielt ein hochintelligentes Kind zu zeugen. Ehrlich gesagt, macht mich diese Tatsache nicht traurig. Es wäre nicht auszuschließen, dass einige der Neuropriester ein solches Gerät aus Geltungssucht sofort in Gang setzen könnten.
Die zentrale Prämisse
Zurzeit zweifelt kein ernstzunehmender Neurologe, Biologe oder Psychologe daran, dass das Gehirn das wichtigste Organ im menschlichen Körper ist, das unser Verhalten im Wesentlichen steuert und zum großen Teil bestimmt. Diese Aussage, die wir als „allgemein akzeptierte Meinung“ (AAM) bezeichnen würden, bedeutet aber nicht, dass wir all diese Forscher an der Zugehörigkeit zur Sekte der Hirnanbeter verdächtigen können. Die Hauptprämisse der Neuroreligion geht über die AAM weit hinaus. Auch über die AAM kann man streiten: Sie unterschätzt z.B. die weitreichende Selbständigkeit des Rückenmarks, das auch unabhängig vom Gehirn lernen kann, und sie kann nicht das komplexe Verhalten jener Tiere erklären, die über kein Gehirn im eigentlichen Sinne verfügen (Kraken). Aber sie hat keine religiösen Züge. Laut AAM befindet sich der Mensch in einer Umwelt, an die er sich biologisch und sozial anpasst, und dieser Anpassungsprozess ist im Wesentlichen vom Gehirn gesteuert und durch dieses vermittelt.
Die Lehre der Zerebralreligion formuliert ein anderes Weltbild. Es gäbe nämlich weder die Welt noch den Menschen in ihr, sondern nur die Gehirne. Alles andere sei „Konstruktion des Gehirns“. Was sind erstens die Gründe und zweitens die Konsequenzen dieser seltsamen Sichtweise? Die Gründe sind spärlich. Man verweist auf Täuschungen in unserem bewussten Erlebnis. Diese sind divers und reichen von der Wahrnehmung (ich sehe im dunklen Wald einen zum Angriff bereiten Räuber, während dies in der Tat nur ein Busch ist), Gedächtnis (manchmal „erinnert“ man sich an Dinge, die gar nicht passiert sind) bis hin zu Absichten (man rechtfertigt seine Handlung im Nachhinein mit „guten Gründen“, obwohl sie vielleicht aus ganz anderen Gründen erfolgte). Keiner bestreitet, dass es diese Täuschungen auf verschiedenen Ebenen des Bewusstseins gibt.
Doch warum interessieren wir uns für diese Täuschungen? Was macht sie zum spannenden Objekt der Forschung? Ja natürlich die Tatsache, dass die Einzelfälle der Illusionen auf dem Hintergrund von Millionen und Abermillionen Fällen richtiger Wahrnehmung (Erinnerung, Einschätzung usw.) auftreten. Nur deshalb ist es so wichtig, warum ich statt Gebüsch den Räuber sehe, weil ich schon Tausende Male davor einen Busch angetroffen habe, und immer nichts anderes als einen Busch gesehen! Und in dem Fall, in dem ich den Räuber sehe, können spezifische Faktoren gefunden werden: Angst, schlechte Beleuchtung usw. Illusionen liefern keinen besseren „Beweis“ dafür, dass das Gehirn die Welt konstruiert, als Verkehrsunfälle dafür, dass Autos nicht fahren können.
Nun zu den Konsequenzen. Kaum jemand hat sie so weit bis zum Ende gedacht und so klar formuliert wie der finnische Bewusstseinsphilosoph Arni Revonsuo. [13] „Wenn alles nur im Bewusstsein existiert, und das Bewusstsein nur im Gehirn, so folgt notwendigerweise, dass die gesamte Welt innerhalb unseres Schädels ist.“ Sämtliches Leben und Erleben sei vom Gehirn fabriziert und habe mit „etwas da drüben“ kaum was zu tun. „Die neuronalen Mechanismen, die jede Art Empfindung hervorbringen, sind innerhalb des Schädels begraben und können daher nichts ‚draußen’ erreichen – die Welt um uns herum, soweit sie keine virtuelle Welt ist, muss für immer dunkel und nicht wahrnehmbar bleiben.“ Die Welt sei ein „schwarzer Planet“, in dem wir „nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen können“. Wir leben im absolut geschlossenen Turm einer virtuellen, imaginierten Welt, während die reale Welt draußen „dunkel und stumm“ ist und für alle Ewigkeit so bleibt. Das ist das erschreckende Weltbild, das uns die Hirnreligion darbietet.
„Nach Eurem Glauben soll Euch geschehen.“ [14] Wer unbedingt glauben will, im Horror des schwarzen Planeten zu leben, in dem er nichts fühlen, nichts wahrnehmen, nichts erreichen kann, den können wir leider aus dem Gräuel des von ihm selbst aufgebauten Gefängnisses nicht zurückholen. Alle anderen können jedoch weiter in der unendlich weiten Welt leben, die voll schöner Farben und wunderbarer Aromen, Pflanzen und Tiere, faszinierender Landschaften und bewundernswerter menschlicher Leistungen ist. Und das letzte Wort: Eine Mozart-Symphonie zu hören, davon würde ich einer schwangeren Frau trotz alles Gesagten nicht abraten. Schaden wird sie auf keinen Fall.