01.09.2008

Was die Hirnforschung uns nicht über den Menschen zu sagen vermag

Essay von David Perks

Über die zu einseitige Fixierung der Bildungspolitik auf die Ergebnisse moderner Neurowissenschaften.

Die Erforschung der Funktionsweise jener Maschine, die uns mit Geist und Bewusstsein ausstattet, ist der heilige Gral der modernen Hirnforschung. Diese neue „Geisteswissenschaft“ verspricht, die biologischen Ursprünge vieler Aspekte des menschlichen Charakters aufzuklären und möglicherweise unsere Gedanken besser zu erkennen als wir selbst. Wenngleich derartige Versprechen bereits des Öfteren geäußert wurden, so ist doch der Wunsch nach solcher Erkenntnis heute stärker ausgeprägt als etwa zu Zeiten der Entwicklung des Lügendetektors in den frühen 20er-Jahren. Kaum werden hierzu neue Studien veröffentlicht, schießen erstaunliche Spekulationen ins Kraut über angebliche neue Technologien zum Lesen der Gedanken und deren Potenzial, Bereiche des gesellschaftlichen Lebens radikal zu verändern.

Unser Gehirn kartieren zu wollen, ist bei Weitem keine neue Idee. Doch mit jedem technologischen Fortschritt werden neue Behauptungen hinsichtlich der Möglichkeiten aufgestellt, die Funktionsweise unseres Gehirns zu visualisieren. Eine der neuesten Technologien ist die funktionelle Magnetresonanztomografie (FMRI). Sie steht in einer langen Reihe ähnlich gearteter Technologien, wie beispielsweise der Positronenemissionstomografie (PET) oder der Nahinfrarotspektroskopie (NIRS), die auf Basis der Blutzirkulation und des Sauerstoffmetabolismus die Hirnaktivität messen. Die Vorteile der FMRI liegen in ihrer zeitlichen wie räumlichen Abgrenzung: So können Hirnbereiche in der Größe eines Reiskorns analysiert und Querschnittsanalysen des Gehirns innerhalb von zwei Sekunden vorgenommen werden. Auf dieser Basis können dann Korrelationen zwischen mentalen Prozessen, die infolge einer Stimulation stattfinden, und den erhöhte Aktivität zeigenden Hirnbereichen festgestellt werden. Daher glauben Neurowissenschaftler, sie könnten konkrete Hirnbereiche bestimmten geistigen Vorgängen, etwa dem Erinnerungsvermögen oder aber der Entwicklung von Emotionen, eindeutig zuordnen. Wir alle kennen die Abbildungen, auf denen Hirnbereiche infolge eines bestimmten Stimulus als „aktiv“ markiert werden – etwa die Fusiform Face Area, die dann aufleuchtet, wenn Männer Bilder eines Ferraris oder eines Porsches sehen. Anscheinend ist es uns möglich, durch das Scannen unseres Gehirns einen genaueren Einblick in unsere Gedanken zu erlangen.

Es ist nicht überraschend, dass seit der Entwicklung von FMRI in den frühen 90er-Jahren große Investitionen in diesem Feld getätigt wurden. Das 1998 gegründete Oxford Centre for Functional Magnetic Resonance Imaging of the Brain (FMRIB) ist heute führend in diesem Forschungsgebiet. Einer seiner Ableger ist Neurosense, ein Unternehmen, das sich auf den Zusammenhang zwischen dem Gehirn und dem menschlichen Verhalten konzentriert und ihn für die Marktforschung nutzbar machen will, da „traditionelle Untersuchungsmethoden nur an der Oberfläche ansetzen und viele Faktoren unerkannt bleiben, die das Konsumverhalten beeinflussen“. Mit der kognitiven Neurowissenschaft soll die „Kluft zwischen Gehirn und Verhalten“ geschlossen werden.1 Am stärksten ausgeprägt war der Enthusiasmus bezüglich der neuen Möglichkeiten durch FMRI in den USA. Das in San Diego ansässige Unternehmen „No Lie MRI“ – ebenfalls mit Verbindungen zum FMRIB – gibt an, seine Technologie ermögliche „die erste und einzige Wahrheitsüberprüfung und Lügenerkennung in der Geschichte der Menschheit“. Die Technologie basiert auf der Vorstellung des an der Universität von Pennsylvania arbeitenden Neurowissenschaftlers Daniel Langleben, derzufolge vorsätzliche Irreführung durch FMRI „anatomisch lokalisiert“ werden könne. Zurzeit bemüht sich Joel Huizenga, der Gründer von No Lie MRI, um die Zulassung seiner Technologie als Instrument der Wahrheitsfindung bei Gericht.

Doch nicht nur an den Rändern des Wissenschaftsbereichs spüren wir den wachsenden Einfluss der Neurowissenschaften. Auch die moderne Bildungspolitik wird heute durch Annahmen und Versprechungen der Neurowissenschaften stark beeinflusst. Im Jahr 1999 rief das zur OECD gehörende Centre for Education Research and Innovation ein „Brain and Learning Project“ ins Leben, in dem viele Fachleute und Experten aus aller Welt zusammengeführt wurden. Nach sieben Jahren intensiver Arbeit mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen der Lernwissenschaft und der Hirnforschung einerseits sowie zwischen Wissenschaftlern und Politikern andererseits zu intensivieren, publizierte das Projekt seinen Bericht „Understanding the Brain: The Birth of a Learning Science“.2 Seither erlangen Ideen und Vorstellungen aus der Neurowissenschaft über die Rolle des Gehirns im Lernprozess immer größere Bedeutung in der Bildungspolitik. Im Zuge des in allen großen Industriestaaten zu beobachtenden relativen Niedergangs von Bildungsstandards wenden sich Bildungspolitiker verstärkt den Neurowissenschaften zu, um neue politische Ansätze abzustützen. Führende Universitäten der westlichen Welt haben ihr Hauptaugenmerk auf die Verbindung von Neurowissenschaften und Bildung gerichtet. So unterhält die Harvard-Universität das „Mind, Brain and Education Programm“ (MBE), während an der Universität von Cambridge die „Neuroscience and Psychology in Education Academic Group“ (NPEAG) arbeitet. Beide Initiativen sind darauf ausgerichtet, die Lehrpraxis in den Klassenzimmern zu beeinflussen. Auf ihrer Website formuliert die NPEAG als eines ihrer Ziele, „Lehrern und Ausbildern Informationen über Neurowissenschaften zur Verfügung zu stellen“. In den meisten heute in Großbritannien angebotenen Aus- und Weiterbildungskursen für Lehrer wird auf Ideen und Ansätze verwiesen, die von den Neurowissenschaften inspiriert sind, etwa in den Bereichen Lernmethoden oder emotionaler Intelligenz. In dem OECD-Bericht wird vorgeschlagen, dass bildgebende Verfahren möglicherweise einen wichtigen zusätzlichen Mechanismus bieten, um individuelle Lerncharakteristika zu identifizieren, und so die Grundlage für eine Personalisierung darstellen.3 Es scheint, als böten die moderne Neurowissenschaften eine Basis für die Einführung individueller Lernansätze im Schulbetrieb.

Doch die Sache hat einen Haken: Die Begeisterung für diese Wissenschaft ist in politischen Kreisen weitaus größer als in der akademischen Welt. Schon bei oberflächlicher Betrachtung der zu diesem Thema erschienenen Beiträge zeigt sich, dass die Hirnforschung heute mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert. Ganz offensichtlich steht sie erst am Anfang ihrer Entwicklung. Die aktuell im Umlauf befindlichen Theorien über die biologischen Grundlagen des Bewusstseins bieten jedoch zweifellos Diskussionsstoff. So vertritt Benjamin Libet von der University of California die Ansicht, dass der Prozess, in dem das Gehirn die Ausführung einer einfachen Handlung vollzieht, etwa 0,3 Sekunden, bevor wir uns dessen bewusst sind, abläuft. Anders formuliert: Es scheint, als handele das Gehirn bereits, bevor wir uns bewusst zu einer Handlung entschieden hätten. Hieraus ziehen manche den Schluss, dass der „freie Wille“ lediglich eine Illusion darstellt, die uns unser Gehirn vorgaukelt. Auch der deutsche Neurophysiologe Wolf Singer hält den „freien Willen“ für ein „kulturelles Konstrukt“. Für ihn ist alles, was wir tun, „Folge des unmittelbar vorausgehenden Zustands unseres Gehirns, von dem wir nur wenige Variablen bewusst kontrollieren“.

Die Kernfrage der Hirnforschung „Ist Gehirn gleich Geist?“ hat zu einer Vielzahl neuer Veröffentlichungen geführt. In einem Überblick über die derzeitigen Theorien im Scientific American Mind im Jahr 2005 thematisiert David Dobbs die stark ausgeprägte Neigung vieler Wissenschaftler, FMRI-Scans als Lösung für nahezu alle Fragen zu preisen und damit nicht nur das Konsumentenverhalten entschlüsseln, sondern auch gerichtszulässige Lügendetektoren entwickeln zu können.4 Dobbs zeichnet ein weitaus weniger eindeutiges Bild der Erfolgsaussichten moderner Brain-Imaging-Technologien. Tatsächlich können mittels FMRI nur Bereiche des Gehirns mit Tausenden oder gar Millionen von Neuronen analysiert werden, und dies zudem über Zeiträume, die tausende Male länger sind als die Aktionszeiten einzelner Neuronen. Zudem basieren selbst die interessantesten Studien auf Untersuchungen von um die 20 Personen und wurden unter Bedingungen durchgeführt, in denen die kleinste Bewegung die Ergebnisse der gesamten Prozedur verfälscht hätte. Selbst ein Enthusiast müsste zugeben, dass es sich hierbei um sehr unreife Forschung handelt.

Ähnlich zurückhaltend gegenüber dem vielerorts zur Schau getragenen Enthusiasmus ist auch Willian Uttal, emeritierter Professor an der Universität von Michigan. Seiner Ansicht nach sind viele der kognitiven Fähigkeiten viel zu abstrakt und vage, als dass wir aus der „Messung“ mittels FMRI konkrete Rückschlüsse auf die Funktionsweise unseres Gehirns ableiten könnten. Angesichts unseres begrenzten Wissens über unser Gehirn vergleicht Uttal die moderne Neurowissenschaft mit der Phrenologie des 19. Jahrhunderts, als man versuchte, aus der Form des Schädels einer Person auf deren Charaktereigenschaften zu schließen. Es mag sein, dass Uttal in dieser Gleichsetzung ein wenig übertreibt. Doch andere Wissenschaftler geben ihm insofern recht, als „viele Probleme der Lokalisierung von Hirnfunktionen, die Uttal beschreibt, tatsächlich bislang ungelöst sind“.5

Die jüngste Geschichte der Bildungsreformen in Großbritannien liefert einige Erklärungen für das große Interesse vonseiten der Politik an der noch in den Kinderschuhen steckenden Neurowissenschaft. Einer der heute am häufigsten verwandten Begriffe im Bildungsbereich ist der der „Multiplen-Intelligenz-Theorie“ (MI). Diese Theorie wurde von Howard Gardner in seinem Buch Frames of Mind im Jahre 1983 entwickelt und ersetzt die Vorstellung einer allgemeinen Intelligenz durch die multipler Intelligenzen, die alle auf verschiedenen und autonomen biologischen Potenzialen und Befähigungen basieren. MI ist ein geschickter Schachzug, um die Konsequenzen der bisherigen Intelligenzmessung – über den individuellen Intelligenzquotienten IQ – zu umgehen. Gardner geht davon aus, dass Intelligenz nicht vergleichend gemessen werden könne, sondern eine selbstreferenzielle Größe sei, zu deren Bestimmung der IQ ungeeignet sei, so wie etwa auch die körperlich-kinästhetische Intelligenz nur kinästhetisch gemessen werden könne. Seine Theorie basiert auf dem 1983 von Jerry Fodor entwickelten Konzept der „Modularität des Geistes“. Das Problem mit Theorien des Geistes besteht jedoch in ihrer Kurzlebigkeit: Bereits im Jahr 2000 distanzierte sich Fodor von seiner früheren Arbeit und kritisierte die übertriebene Nutzung der Modularitätstheorie in der Erforschung und Erklärung des menschlichen Geistes.6 Obwohl dies auch die wissenschaftliche Basis für Gardners Theorie unterminierte, so erfreut sie sich in Großbritannien dennoch bis heute großer Beliebtheit.7

Der Durchbruch gelang Gardners Ideen mit dem Wahlsieg von New Labour im Jahr 1997 und mithilfe des britischen Think Tank „Demos“. Heute ist es üblich, dass Lehrer ihre Schüler ganz in der Art, wie von Gardner beschrieben, hinsichtlich ihrer körperlich-kinästhetischen oder ihrer musischen Fähigkeiten einstufen; dies, obwohl nur sehr wenige Neurowissenschaftler diese Ideen für tragfähig halten.

Eine Erklärung hierfür liefert die erklärte Ideologiefeindlichkeit von New Labour. Politik geriet unter Tony Blair zu einem rein auf pragmatischen Erwägungen beruhenden Gesellschaftsmanagement: Politik hat „anwendbar“ und „faktenbasiert“ zu sein. Das Fehlen jeglicher ideologischer Erklärungen und Rechtfertigungen für politische Vorhaben erhob die Wissenschaft zu einer attraktiven Begründung von Reformen. Der vielerorts zu beobachtende Rückgriff auf „die Wissenschaften“ zur Absicherung von politischen Entscheidungen hat jedoch mehr mit der Legitimationskrise des Politischen als mit der tatsächlichen Stärke bestimmter wissenschaftlicher Theorien zu tun. Vielmehr scheint es, als könne heute nahezu jede Politik mit dem Verweis auf „die Wissenschaften“ durchgesetzt werden.

„Faktenbasierte Politik“, auch wenn diese Bezeichnung auf den ersten Blick vernünftig klingt, zeichnet sich durch eine ausgesprochene Abneigung gegenüber Debatten und Unklarheiten aus. Stattdessen fordert sie die Bildung eines wissenschaftlichen Konsenses, um ihre darauf beruhenden Entscheidungen sicher legitimieren zu können. Die Forderung nach einer solchen „faktenbasierten Politik“ engt die für die Entwicklung von Wissenschaft nötige offene und kontroverse Debatte ein mit dem Ziel, Kritik an einmal getroffenen Entscheidungen zu unterbinden. Wenn die moderne Neurowissenschaft tatsächlich eine Bedrohung für unsere Freiheiten darstellt, dann nicht, weil einige Wissenschaftler die Existenz des freien Willens wegerklären, sondern eher, weil sie dazu missbraucht wird, um Dissens und Debatten über die Sozial- und Bildungspolitik zu verhindern.

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