19.04.2023

Der Kult um die Betroffenheit

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Sponchia via Pixabay

Nur Betroffene, so die Sicht der Woken, sollen beurteilen dürfen, was eine Herabwürdigung ist. Das verletzt die kommunikative Integrität der Gesellschaft.

Die Gleichberechtigung und Gleichachtung aller Bürger sind Werte, die zum Kern des Normengefüges liberal-demokratischer Gesellschaften gehören. Sie können deshalb aus guten Gründen eingefordert werden, sollten sie in bestimmten Fällen oder gar flächendeckend nicht eingelöst sein. Allerdings dürften, so ist es aus akademisch geprägten Milieus zu hören, ausschließlich „die Betroffenen“ festlegen, was als, wie sie es nennen, „homophob“, „transphob“, „rassistisch“ oder „sexistisch“, also als Achtungsentzug, zu gelten hat. Die Personenkreise, die dies vertreten, werden meist als „woke“ bezeichnet, als hochsensibilisiert für Prozesse und Strukturen der Missachtung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen. Kann ihre Position überzeugen?

Stellen wir uns einmal vor, Benedikt äußere folgende Ansicht: „Ich bin der Meinung, dass das geplante Gesetz, nach dem jeder Mensch einmal pro Jahr unbürokratisch und ohne ärztliches Gutachten seinen Geschlechtseintrag wechseln können sollte, nicht vom Bundestag verabschiedet werden sollte, weil das biologische Geschlecht eine Naturtatsache ist, über die nicht bürokratisch entscheiden werden kann.“ Daraufhin reagiert Berta, die sich als genderfluid begreift, mit dem Vorwurf, die Äußerung von Benedikt sei „transphob“. Benedikt ist jedoch der Ansicht, dass er sehr sachlich seine Auffassung geäußert habe und diese keinesfalls „transphob“ sei. Er habe weder Angst vor Transsexuellen – was der Begriff der „Phobie“ impliziere – noch fände er die Bissigkeit dieses Ausdrucks für seine sachlich vorgetragene Meinungsäußerung angemessen.

Nun interveniert Leni und sagt: „Nur jemand, der selbst transsexuell ist oder sich als genderfluid begreift, kann festlegen, wann sich jemand transphob äußert.“ Was könnte Benedikt hierauf nun erwidern? Er könnte die Position vertreten, dass diese Auffassung in ein Dilemma führt, das selbst diejenigen nicht zu akzeptieren bereit wären, die die Auffassung vertreten, dass nur „Betroffene“ über ihr Herabgewürdigt-Sein entscheiden können. Denn stellen wir uns einmal vor, so Benedikt, dass er nach dem Vorwurf, er habe sich „transphob“ geäußert, geantwortet hätte: „Du versuchst mich gerade zu canceln. Das ist nichts anderes als Cancel Culture!“.

„Die soziale Geltung dessen, wann etwas als Achtungsentzug zählt, ist das Resultat eines komplexen, größtenteils implizit ablaufenden sozialen Aushandlungsprozesses, zu dem alle Beteiligten ein annähernd gleiches Verständnis entwickeln müssen.“

Woraufhin Berta wohl ihrerseits antworten würde: „Ich habe dich überhaupt nicht ‚gecancelt‘, sondern dir nur widersprochen.“ Und sie fügt hinzu: „Meinungsstreit in liberalen Demokratien heißt nicht, dass jede Äußerung unwidersprochen bleibt, sondern dass man gegebenenfalls auch mit einer polemischen, bissigen Reaktion auf eine Meinungsäußerung rechnen muss. Der Vorwurf, etwas entspringe einer ‚Cancel Culture‘ ist nichts als dein Versuch, bisherige Privilegien als heterosexueller Cis-Mann aufrechtzuhalten, die nun durch eine bislang unterdrückte Minderheit in Frage gestellt werden.“

Nun spielt Benedikt die Konsequenz aus dieser Position aus: „Nach deiner eigenen Logik können nur Betroffene festlegen, wann etwas als „transphob“ zu gelten hat. Ich empfinde mich jedoch als von einer Cancel Culture betroffen, und du wirst dir ja wohl nicht anmaßen wollen, einfach über die Wahrnehmung eines Betroffenen hinwegzugehen. Tätest du dies, wäre dies genau die Anmaßung, die du vorhin von dir gewiesen hast, als ich in Frage gestellt habe, dass meine Meinungsäußerung als ‚transphob‘ gelten muss.“

Man sieht an diesem fiktiven Streit um die Betroffenheit kontrastiv, wie die soziale Praxis moralischen Streits in der Realität funktioniert und auch weiterhin funktionieren sollte. Die soziale Geltung dessen, wann etwas als Achtungsentzug zählt, ist das Resultat eines komplexen, größtenteils implizit ablaufenden sozialen Aushandlungsprozesses, zu dem alle Beteiligten ein annähernd gleiches Verständnis entwickeln müssen.

„Eine gänzlich idiosynkratrische, aus der verabsolutierten Ego-Perspektive getroffene Feststellung, wann etwas als Herabwürdigung oder Ausschlussversuch zu gelten hat, ist pragmatisch unmöglich.“

„Gleiches Verständnis“ bedeutet: Dieser Aushandlungsprozess muss sich in irgendeiner Form auf gemeinsam geteilte Normen beziehen (etwa die Norm der Nicht-Diskriminierung, der Gleichbehandlung, der Gleichachtung), um für die Interaktionspartner, die sich herabgewürdigt fühlen, überhaupt verständlich zu sein und interaktionsrelevante Konsequenzen begründen zu können. Wenn ausschließlich die Herabgewürdigten festlegen könnten, was als „transphob“, „homophob“, „rassistisch“ oder „sexistisch“  zu gelten hat, dann würde dies dazu führen, dass genau dieser Bezug auf gemeinsam geteilte Normen schwände, der es jedoch überhaupt erst ermöglicht, dass ein Achtungsentzug als solcher erkannt und entsprechend darauf reagiert werden könnte.

An der dilemmatischen Konsequenz, die sich aus unserem fiktiven Dialog zwischen Benedikt und Berta ergibt, dass nun nämlich auch Benedikt aus seiner verabsolutierten Ego-Perspektive festschreibt, wann er sich als „gecancelt“ empfindet, wird dies schlagend deutlich. Wenn jeder Interaktionspartner permanent in die Interaktion zurückspiegeln würde, dass er nur seine eigene Situationsdefinition akzeptiert, wäre dies nicht nur selbstwidersprüchlich, da der Vorgang des verbalen Zurückspiegelns bereits wiederum auf eine gemeinsam geteilte Wahrnehmung der Situation rekurrieren müsste, um als solche für alle beteiligten Interaktionspartner verständlich zu sein. Sondern es hätte auch über kurz oder lang zur Folge, dass man einfach überhaupt nicht mehr miteinander spricht und damit den Grund beseitigt, warum man sich überhaupt voreinander als Gleiche anerkannt wissen möchte und deshalb auf Achtungsentzug oder reflexhafte Ausschlussmanöver verzichten sollte. Eine gänzlich idiosynkratrische, aus der verabsolutierten Ego-Perspektive getroffene Feststellung, wann etwas als Herabwürdigung oder Ausschlussversuch zu gelten hat, ist pragmatisch unmöglich.

Mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein gesprochen: Der Versuch, die Deutungshoheit bezüglich der Feststellung, wann ein Fall von Herabwürdigung vorliegt, ausschließlich auf „die Betroffenen“ zu verlagern, ist nicht weniger als der Versuch, eine Privatsprache zu etablieren. Das Milieu der Woken hat einen folgenreichen Widerspruch auf den Weg gebracht: Die Gesellschaft soll dazu gebracht werden, eine Privatsprache als Privatsprache zu akzeptieren und dabei gleichzeitig diejenigen, die diese Privatsprache verwenden, als Gleiche anzuerkennen, indem sie die kritisierten Herabwürdigungen unterlassen. Aus den Kultstätten der Betroffenheit wird also folgende paradoxe Botschaft in die Gesellschaft ausgestrahlt: „Ob mir die Achtung entzogen wurde, ist nur für mich selbst verständlich, aber ich wünsche, dass der Achtungsentzug durch euch anerkannt und zukünftig unterlassen wird.“

„Der Kult um die Betroffenheit mündet in einer toxischen Gesprächskultur, einer kommunikativen Tyrannis; er ist das Trauma, das die Woken der Gesellschaft zufügen.“

Der Kult um die Betroffenheit ist die ultimative Bildung einer „Blase“ im Sinne einer gänzlich von anderen sozialen Bezügen abgekapselten sozialen Sphäre. Diese soziale Sphäre stellt nichts Geringeres als die Fundamente unserer Gattung in Frage, nämlich Angehörige einer Spezies zu sein, die sich über intersubjektive Verständigung und gemeinsam geteilte Normen vergemeinschaftet. Wenn wir nicht wollen, dass die Gesellschaft in unterschiedliche Stämme zerfällt, die sich noch nicht einmal mehr wechselseitig als ‚fremder Stamm‘ identifizieren können, müssen wir auch Achtungsentzug weiterhin als Ausdruck eines gemeinsam geteilten Verständigungshorizontes begreifen.

Dazu ist es notwendig, systematische und pauschale Ausschlussversuche Andersdenkender zu beenden. Denn die Cancel Culture ist die Kehrseite des Kultes der Betroffenheit. Menschen als Unmenschen aus der Kommunikation auszuschließen, denen man zuvor suggeriert hat, dass sie überhaupt gar nicht einsehen können, warum sie jemanden beleidigt haben (denn dies können ja nur die Betroffenen), ist die Willkür als Absolutum: „Nur ich selbst verstehe es, wenn ich herabgewürdigt wurde; du hast zwar die Konsequenzen meiner Reaktion in Gänze tragen, kannst aber die Gründe hierfür prinzipiell nicht erkennen.“

Mehr Gutdünken als der Kult um die Betroffenheit – der im Übrigen eher selten von ‚den Betroffenen‘ selbst aufgeführt wird, sondern vielfach von akademisch gebildeten Fürsprechern, ‚Privilegierten' also, die sich bisweilen anmaßen, für die Betroffenen zu sprechen – ist schlechterdings nicht denkbar. Es wäre deshalb günstig, sich auch gegenüber den unerwünschten Nebenfolgen des Wokeseins sensibel zu zeigen: Der Kult um die Betroffenheit mündet in einer toxischen Gesprächskultur, einer kommunikativen Tyrannis; er ist das Trauma, das die Woken der Gesellschaft zufügen. Erst wenn die kommunikative Integrität der Gesellschaft wieder hergestellt wird, können die Folgen einer jeden Form von Achtungsentzug sozial adäquat adressiert werden und sich zwischenmenschliche Beziehungen weiter in Richtung eines höheren Maßes an Gleichachtung und Gleichberechtigung entwickeln.

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