01.08.2025
Der Kampf der Welten und die drei Somali
Darf ein Land Asylbewerber abweisen? Da unterscheiden sich die Staatsauffassungen, nationalliberale sowie rechtsidentitäre von linksliberalen sowie linksidentitären.
Drei Somali versuchten Anfang Mai, drei Mal aus Polen in die Bundesrepublik einzureisen. Zwei Mal wurden sie – vor Betreten des deutschen Staatsgebiets – von der Bundespolizei zurückgewiesen.1 Beim dritten Mal wurden sie nähe Frankfurt/Oder auf deutschem Staatsgebiet aufgegriffen. Und durften erst einmal bleiben – trotz der von Bundesinnenminister Dobrindt (CSU) mit Wirkung zum 7. Mai verordneten Grenzkontrollen. Eine Anwältin meldete sich bei der Bundespolizei und verkündete, dass sie bevollmächtigt sei, im Namen der drei Somali Asyl zu beantragen. Dem im grünen Milieu vernetzten Richter Florian von Alemann vom Verwaltungsgericht Berlin wurde der Fall vorgelegt und er entschied: Die Zurückweisungen waren EU-rechtswidrig.
Beraten wurden die drei Somali von einer polnischen NGO und einer deutschen, Pro Asyl. Offenbar wurde die polnische NGO nach zwei vergeblichen Einreisen auf die drei Personen aufmerksam und bereite im Zusammenwirken mit Pro Asyl das rechtliche Verfahren vor. Stehen nun Dobrindts Grenzkontrollen auf der Kippe? „Justizkrimi um Dobrindts Asylwende“, titelt die Bild. Die CDU stellte gegenüber Pro Asyl den Verdacht der Schleusung in den Raum.
Im vorliegenden Fall argumentierte der Richter: Die Dublin-III-Verordnung mache es notwendig, dass Deutschland prüfe, welcher Staat für die Aufnahme der Somali zuständig sei. Ohne die Durchführung dieses Verfahrens sei eine Zurückweisung nicht rechtmäßig. Deshalb heble die Dublin-III-Verordnung § 18 Absatz 2 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes aus. Dieser lautet: „Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist“. Fast inhaltsgleich findet sich diese Regelung in Artikel 16a des Grundgesetzes. So könne sich auf das Asylrecht „nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“ Da Polen in der EU liegt, handelt es sich um einen solchen sicheren Drittstaat. Gleichwohl sollen das deutsche Grundgesetz sowie das Asylverfahrensgesetz keine Anwendung finden. Dass man dies juristisch anders einordnen kann, zeigt etwa die Stellungnahme von Hans-Georg Maaßen in der Printausgabe der Jungen Freiheit vom 13. Juni. Maaßen bezeichnet dort das Gerichtsurteil als „schlicht rechtswidrig“. Schließe Deutschland nach eigenem Bundesrecht seine Grenzen, sei es nicht dazu verpflichtet zu prüfen, welcher Staat das Dublin-Verfahren durchzuführen habe, da bereits geregelt sei, dass der Staat das Verfahren durchführen müssen, auf dem der Asylbewerber das erste Mal europäischen Boden betritt.
„Ist ein Nationalstaat der Souverän über die Regelungen, die auf seinem eigenen Staatsgebiet gelten oder hat er sich Normen unterzuordnen, die diese Souveränität zugunsten übergreifender Rechtsprinzipien aushebeln?“
Dass der rechtskonservative Maaßen eine andere Rechtsauffassung vertritt als der grün lackierte Richter von Alemann, vermag nicht zu überraschen. Jenseits der Frage nach der juristischen Bewertung geht es bei dem Fall der drei Somali nicht um eine rein rechtliche Angelegenheit, sondern ihr zugrunde liegt ein tief prägender soziopolitischer Konflikt. Es handelt sich gleichsam um politische Meta-Präferenzen, die die Frage beantworten, wie demokratische Gemeinwesen im 21. Jahrhundert aufgebaut und miteinander verflochten sein sollen. Ist ein Nationalstaat der Souverän über die Regelungen, die auf seinem eigenen Staatsgebiet gelten oder hat er sich Normen unterzuordnen, die diese Souveränität zugunsten übergreifender Rechtsprinzipien aushebeln? Zwei idealtypische Staatsverständnisse zeichnen sich ab, und diese zerfallen ihrerseits in zwei Subtypen: Ein nationalliberales und ein rechtsidentitäre Staatsverständnis, die beide auf kollektive Selbstbestimmung setzen, stehen einer linksliberalen und einer linksidentitären Staatsauffassung, die ihrerseits beide die Einbindung in internationale Regelungen betonen, gegenüber.
Nationalliberal
Zunächst zum Prinzip der kollektiven Autonomie. Diesem Staatsverständnis zufolge soll ein Gemeinwesen mit einem hohen Grad an Selbstbestimmung festlegen können, welche Regeln auf diesem Staatsgebiet gelten. Das Prinzip der Demokratie, also der kollektiven Selbstbestimmung einer Gemeinschaft, ist in diesem Fall höher gewichtet als die Einbindung des Gemeinwesens in internationale Regeln. Sind solche Staaten intern mit einem zuverlässigen, politische und soziale Minderheitenrechte gewährleistenden Rechtsstaat ausgestattet, so können wir von Nationalliberalismus sprechen.
Nationalliberalismus bedeutet: Die Nation grenzt sich von anderen Staaten ab und legt einen großen Wert darauf, die eigenen Belange auf dem eigenen Gebiet selbstbestimmt Regeln zu können. Innerhalb dieses Gemeinwesens jedoch spielen Vorstellungen einer staatsverbindlichen nationalen Homogenität und einer das gesamte Staatswesen übergreifenden substantiellen Kultur eine vergleichsweise geringe Rolle. Welche Kulturen und Traditionen sich in einem nationalliberalen Staat ausbilden, ist abhängig von den Präferenzen der Bürger, die sich frei assoziieren können. Ein weithin geteilter Common Ground im nationalliberalen Staat besteht jedoch darin, dass dieses Prinzip der Liberalität – also die Trennung dessen, was der Einzelne und seine Gemeinschaft für gut befinden, von dem, was für alle gerecht ist – breit in der Gesellschaft geteilt wird.2
„Von ihrer ursprünglichen Verfassungsordnung her ist die Bundesrepublik Deutschland ein nationalliberaler Staat.“
Ein nationalliberaler Staat könnte es demnach um der Selbsterhaltung willen nicht zulassen, dass in großen Zahlen Bürger aus Kulturen auf seinem Staatsgebiet leben, die das Prinzip der Trennung des Guten und des Gerechten nicht stabil verinnerlicht haben. Dies betrifft insbesondere Angehörige von Kulturen, deren Religion die für das postaufklärerische Christentum typische Trennung von religiösem Bekenntnis und politischen Handeln bislang nicht nachvollzogen hat. Personen, die der Überzeugung sind, dass die Worte eines Religionsstifters, eines Gottes, eines religiösen Gesetzbuches auch politisch allgemein verbindliche Regeln für das ganze Gemeinwesen konstituieren, können nur in sehr geringem Maße in ein nationalliberales Gemeinwesen einwandern, ohne die identitätsstiftende Kraft der Liberalität dieses Gemeinwesens zu gefährden. Im nationalliberalen Staat ist Liberalität die Leitkultur: Jeder kann die gleichen Freiheiten in Anspruch nehmen, solange er die Freiheiten des anderen dadurch nicht einschränkt. Von ihrer ursprünglichen Verfassungsordnung her ist die Bundesrepublik Deutschland ein solcher nationalliberaler Staat.
Rechtsidentitär
Die zweite Variante eines Staatsverständnisses, das auf kollektive Selbstbestimmung setzt, streicht dieses liberale Element aus der Nation oder gewichtet es weitaus geringer. Ein rechtsidentitärer Staat fokussiert auf substantiell ausformulierte kulturelle Werte, die innerhalb des Staates von allen Bürgern geteilt werden sollten. Staatliche Vergemeinschaftung geht hier mit einer Tendenz zur Homogenisierung der Bürgerschaft einher, wenngleich auch dieser Typus noch einen vergleichsweise hohen Spielraum für als legitime erachtete Abweichungen unter den Bürgern lässt. Ein rechtsidentitärer Staat ist kein totalitäres System. Gleichwohl bedeutet die rechtsidentitäre Staatsauffassung die Wiedererrichtung christlicher Kultur und traditioneller Familienwerte, die nicht nur als Ausdruck einzelner Teile der Bürgerschaft gilt, sondern eine normative Verbindlichkeit für das gesamte Staatswesen beansprucht.
Die rechtsidentitäre Staatsauffassung findet ihre soziale Trägerschaft in rechtspopulistischen Politikangeboten, wie sie in unterschiedlichem Ausmaß in Deutschland in der AfD, bei Meloni in Italien, bei Órban in Ungarn, bei Trump in den USA oder bei Farage in Großbritannien als Backlash gegen in den letzten Jahren erstarkten linksidentitären Tendenzen in der politischen Klasse der jeweiligen Länder zum Ausdruck kommen. Zuwanderung wird nicht, wie im nationalliberalen Staat, deshalb negativ wahrgenommen, weil sie möglicherweise Liberalität unterminiert, sondern weil substantiell andere Kulturen in die Gewohnheiten, Traditionen und kulturellen Eigenheiten einer als relativ homogen vorgestellten Bevölkerung eindringen. Die Bereitschaft, kulturfremde Zuwanderer zu akzeptieren, ist in der rechtsidentitären Staatsauffassung denn auch gering ausgeprägt. Schließlich birgt jede Form der Zuwanderung im rechtsidentitären Staatsverständnis die Gefahr, dass Traditionen und Kultur verwässert werden und damit ihre Funktion für das jeweilige Gemeinwesen verlieren. Rechtsidentitäre haben deshalb eine geringe Präferenz für nationenüberschreitende Regelungsgeflechte, weil diese die Autonomie des Staatsgebietes gefährden, und ziehen lockere Kooperationsverbünde mit möglichst geringen Eingriffen in die nationale Souveränität vor. Mit der Vorstellung eines großen Maßes an nationaler Autonomie geht innerhalb des jeweiligen Gemeinwesens die Auffassung einher, ein Volk – das primär ethnisch-kulturell definiert ist – weise in sich eine relativ geringe Pluralität auf. Schließlich sind seine Mitglieder ja durch Abstammung, Tradition und Kultur relativ eng miteinander verbunden, so dass fundamentale Einstellungsdifferenzen die Ausnahme bilden.
„Es geht im nationalliberalen und rechtsidentitären Staatsverständnis um die Absicherung von individueller und kollektiver Freiheit der eigenen Bürger beziehungsweise um das Bekenntnis des Staates zu einer substantiellen Kultur.“
So verschieden nationalliberale und rechtsidentitäre Staatsauffassung sind, so teilen sie doch den Impuls, dass das Wohl des je eigenen Gemeinwesens gegenüber einer abstrakten Konzeption von Menschheit im Vordergrund steht. Es geht im nationalliberalen und rechtsidentitären Staatsverständnis um die Absicherung von individueller und kollektiver Freiheit der eigenen Bürger beziehungsweise um das Bekenntnis des Staates zu einer substantiellen Kultur.
Linksliberal
Der zweite staatliche Vergemeinschaftungstyp gewichtet das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung wesentlich geringer und wertet demgegenüber die Einbindung des jeweiligen Staates in internationale Regelungsgeflechte auf. Dieser linksliberale Staatstyp setzt auf weltweite Vernetzung und ist stark universalistisch ausgerichtet: Fluchtpunkt der Staatsauffassung ist die Menschheit, nicht primär der Angehörige des jeweiligen Gemeinwesens. Nationale Selbstbestimmung ist hier in einem viel geringerem Maße ein Wert an sich; vielmehr sollen nationale Grenzen zugunsten von Regelungen, die jeden Menschen unabhängig von seiner Einbindung in ein partikulares, durch Tradition und Kultur bestimmtes Gemeinwesen gleich behandeln, eine nur sehr geringe Rolle spielen.
Innerhalb des Staates gibt es der linksliberalen Staatsauffassung entsprechend keine oder nur eine sehr geringe Präferenz für substantielle staatsübergreifende Traditionen und Gewohnheiten: Jeder kann in den Schranken, die ihm die Bedürfnisse anderer setzen, so leben, wie er möchte, und dies wird ihm zugestanden, weil er ein Mensch ist, der über eine individuelle Würde verfügt. Dieses Prinzip teilt der linksliberale Staat mit dem nationalliberalen. Im Gegensatz zum nationalliberalen Staat wird jedoch im linksliberalen Staatsverständnis die Integration in supranationale Geflechte wie die EU, die WHO, internationale Handelsabkommen oder in Menschenrechts- und Flüchtlingsschutzverträge, die einzelne Staaten in ihrem Handlungsspielraum vergleichsweise stark an abstrakte Rechtsnormen binden, positiv bewertet. Zuwanderung wird insgesamt positiv gesehen, im Gegensatz zum nationalliberalen Staat auch kulturfremde Zuwanderung – also Zuwanderung aus nicht-liberalen Kulturkreisen. Wenn ein Ausländer in einem bestimmten Staat leben möchte, dann sehen dies Personen, die über eine linksliberale Weltanschauung verfügen, als grundsätzlich rechtmäßig an. Insbesondere Personen, denen politische Verfolgung oder Flucht vor Krieg als Grund für ihre Einwanderung attestiert wird, werden vor dem Hintergrund, dass man die schwächsten Teile der Menschheit schützen müsste, gleichsam als Ausdruck einer einheitlichen und solidarischen Menschheit idealisiert.
„Ebenso wie der rechtsidentitäre Staat den Liberalismus gegenüber dem national- oder linksliberalen Staat stark untergewichtet, ist auch der linksidentitäre Staat ein tendenziell illiberaler Staat.“
Während die nationalliberale und die rechtsidentitäre Weltanschauung die Begründungsverpflichtung für die Einreise eines Ausländers auf die Seite des Ausländers verlagert, liegt bei der linksliberalen Staatsauffassung die Begründungsverpflichtung auf Seiten des potentiellen Aufnahmelandes: Das jeweilige Land muss nicht begründen, warum es jemanden aufnimmt, sondern es muss rechtfertigen, warum es jemanden nicht aufnimmt. Der Ausschluss von anderen – und damit auch die Begrenzung des Staatswesens selbst – wird nun rechtfertigungspflichtig. Faktisch ist denn auch die Europäische Union mehrheitlich aus in unterschiedlichem Maß linksliberal akzentuierten Staaten zusammengesetzt und es entstehen große Spannungen, wenn Staaten, die einem solchen Regelungsgeflecht angehören, rechtsidentitäre Tendenzen ausbilden – also ein höheres Maß an kollektiver Selbstbestimmung mit einem Bekenntnis zu einer staatsweit für verbindlich erklärten Nationalkultur verbinden, wie dies in den ostmitteleuropäischen Ländern Polen, der Slowakei und insbesondere Ungarn der Fall ist.
Linksidentitär
Die zweite Variante einer Staatsauffassung, die auf die Einbindung in internationale Regeln setzt, ist die linksidentitäre Staatsauffassung. Ebenso wie der rechtsidentitäre Staat den Liberalismus gegenüber dem national- oder linksliberalen Staat stark untergewichtet, ist auch der linksidentitäre Staat ein tendenziell illiberaler Staat. Während im rechtsidentitären Staat die relative Homogenität einer national bestimmten Identität abgesichert werden soll, baut das linksidentitäre Staatsverständnis auf der Unterscheidung von „Unterdrückern“ und „Unterdrückten“ und davon abgeleiteten Identitätsgruppen auf. Die linksidentitäre Staatsauffassung unterstellt westlichen Nationen, dass nicht nur Staaten, die eine substantielle Kultur für alle Bürger verbindlich machten, sondern auch Staaten, die ein freiheitliches Verhältnis unter ihren Bürger ermöglichten und förderten, Unterdrückung gegenüber Frauen, geschlechtlichen, sexuellen Minderheiten, Menschen nicht-weißer Hautfarbe sowie nicht westlichen Religionen ins Werk setzten.
So formuliert ein gängiges Lehrbuch der Critical Race Theory, eine der akademischen Quellen linksidentitären Denkens: „Anders als traditionelle Diskurse über bürgerliche Rechte, die ein inkrementalistisches Konzept des Fortschritts vertreten, das also mit kleinen Schritten arbeitet, stellt die Critical Race Theory die Grundlagen der liberalen Ordnung auf den Prüfstand: Die Theorie der Gleichheit, die Argumentation auf der Basis von Rechten, aufklärerischen Rationalismus, und die neutralen Prinzipien des Verfassungsrechts.“3 Mit dieser Fundamentalkritik an Liberalismus, Aufklärung und modernem Verfassungsrecht wird häufig die Auffassung verbunden, dass westliche Staaten eine koloniale Erbschuld mit sich trügen, die es unausweichlich mache, dass westliche Staaten nach wie vor Unterdrückung für die Menschen des globalen Südens sowie die in diesen Staaten lebenden Ausländer in Form von „strukturellem Rassismus“ bedeuteten. Die Konsequenz ist, dass auch bereits linksliberal ausgeformte, also bereits einwanderungsfreundliche Staaten, möglichst aufgelöst werden müssen, indem sie mit Strömen von Migranten mit möglichst vielen Unterdrückungsmerkmalen (muslimisch, schwarz, arm etc.) geflutet werden.
Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus – und analog zum rechtsidentitären Staatsverständnis – begreift das linksidentitäre Denken den Menschen ebenfalls in Identitätsgruppen. Während der Liberalismus auf das Individuum zentriert, fokussiert das linksidentitäre Denken auf die Gruppe und zugleich auf Über- und Unterordnungsverhältnisse innerhalb dieser Gruppen. Während der klassische Liberalismus die im Westen entstanden Menschenrechte im Kern als universell gültige Ausformung von praktischer Rationalität betrachtet, steht das linksidentitäre Denken zu den Menschenrechten in einer ambivalenten Beziehung. Auf der einen Seite zielt das linksidentitäre Staatsverständnis darauf ab, allen Gruppen als Gruppen gleiche Teilhabe zu sichern. Auf der anderen Seite betrachtet es genau jene Weltanschauung – nämlich den individuumszentrierten Menschenrechtsuniversalismus – als Ideologie des Westens, die gerade nicht auf die Gleichberechtigung aller Menschen in ihren jeweiligen kulturellen und sozialen Bezügen abzielt, sondern auf die universalisierende Ausweitung eines Lebensmodells – nämlich das des weißen, westlichen, heterosexuellen Cis-Mannes.
„Aus dem Identitätsdenken folgt, dass es vom jeweiligen Individuum unabhängige Opferpyramiden gibt.“
Die linksidentitäre Staatsauffassung ist gleichsam eine hoch ambivalente Variante des Liberalismus: Sie zielt auf gleiche Freiheiten für jedermann ab, versteht diese gleichen Freiheiten jedoch als Ansprüche von Gruppen, nicht von Individuen. In den letzten 15 Jahren hat sie weite soziale Sphären in linksliberalen Staaten durchdrungen – Universitäten, Medien, Kultureinrichtungen, Politik, Behörden – und hat so einen diskurshegemonialen Status erringen können. Diese metapolitischen Erfolge des linksidentitären Denkens rühren daher, dass es bei oberflächlicher Betrachtung schwer von liberalen Werten – wie sie im Linksliberalismus ebenso wie im Nationalliberalismus vorkommen – zu unterscheiden ist und somit viele Menschen keine Einwände geltend machen, da es dabei ja scheinbar nur um etwas geht, dass in liberalen Staaten aller Couleur selbstverständlich ist: gleiche Rechte für jedermann.
Das Denken in Identitätsgruppen jedoch widerspricht genau diesem Prinzip fundamental. Aus dem Identitätsdenken folgt nämlich, dass es vom jeweiligen Individuum unabhängige Opferpyramiden gibt, die einzelnen Identitätsgruppen paradoxerweise umso eher einen höheren (Opfer-)Status verleihen, je unterdrückter die jeweilige Gruppe sei. Eine schwarze, behinderte, alleinerziehende, muslimische LGBTQIA+-Frau aus dem globalen Süden hat einen höheren Opferstatus als jemand, dem eines dieser Merkmale fehlt. Die meisten Privilegien kann man entsprechend dem weißen, heterosexuellen, bürgerlichen Cis-Mann aus dem globalen Norden wegnehmen.
Im Gegensatz zum klassisch liberalen Denken, das es strikt auf die gleichen Rechte eines jeden Individuums abgesehen hat, tendiert das linksidentitäre Denken zur Umkehrung von Unterdrückungsverhältnissen. Identitäten werden als Nullsummenspiel betrachtet: Nur, wenn der weiße Cis-Mann (und die ihm patriarchal untergeordnete weiße Cis-Frau) seine Kultur verliert, können andere Kulturen aufblühen. Daher kommt es, dass im linksidentitären Denken jede Kultur als schützenswert betrachtet wird – mit Ausnahme der weißen, westlichen Kultur, die ja gerade die Unterdrückung und Abwertung aller anderen kulturellen Entwürfe auf den Weg gebracht haben soll.
Quo vadis, Staatsverständnis?
Legen wir diese vier Staatsauffassungen zugrunde, so zeigt sich, dass wir derzeit eine schrittweise Ablösung des nationalliberalen beziehungsweise des linksliberalen Staatsverständnisses durch ein rechts- und linksidentitäres Staatsverständnis durchleben. Die Europäische Union verwandelte die einst nationalliberale Bundesrepublik seit den 1990er Jahren zunehmend in einen linksliberalen Staat, der sich selbst nicht mehr begrenzen darf und von einem immer höheren Geflecht an internationalen Normierungen überlagert wurde. Gleichzeitig akzeptieren seit etwa 15 Jahren vor allem osteuropäische Länder in zunehmend geringerem Maße die linksliberalen Tendenzen, die mit der institutionellen Europäisierung einhergehen: pro Migration, pro Menschenrechte, pro vertiefte Einbindung in internationale Abkommen.
In Gegenreaktion auf diese Abwendung osteuropäischer Staaten von der linksliberalen Staatsauffassung zeigt der linksliberale Staat selbst die Tendenz, seine Linksliberalität zu pointieren und so seine Institutionen für den Einfluss linksidentitärer Deutungen zu öffnen. Die Europäische Union ist dann zunehmend pro „Klimaschutz“, pro „LGTQIA+“-Rechte, pro Bekämpfung von (linksliberale und linksidentitäre Deutungen gefährdender) „Desinformation“, „Hassrede“ und „Fake News“, während in Nationen, in denen ein rechtsidentitäres Staatsverständnis vorherrscht, „Klimaschutz“ und „LGBTQIA“+Rechten sowie bestimmten Formen der Migration mit größerer Skepsis begegnet wird. Siehe Ungarn, siehe, etwas ambivalenter, Polen.
Seit Trump wird diese Spannung innerhalb der EU zunehmend durch ein geopolitisches Auseinanderdriften zwischen den USA und Europa überlagert. Die USA verfolgen, insbesondere seit der zweiten Wahl von Donald Trump im November 2024, eine offensive Abwendung von einem linksidentitären Politikverständnis. Diese geht einher mit der Re-Institutionalisierung von Zweigeschlechtlichkeit, dem Rückbau von „affirmative action“-Maßnahmen, dem Eingrenzen einer linksidentitären Unterwanderung der Wissenschaft sowie massiven Bestrebungen zur Re-Migration illegaler Migranten. Demgegenüber positionieren sich die Institutionen der Europäischen Union in bewusster Abgrenzung dazu als anti-trumpesker Politikentwurf und setzen weiterhin auf die militärische Unterstützung der Ukraine, auf eine nur kaum abschottende Migrationspolitik sowie auf das offensive Bekämpfen von „Desinformation“ und „Hass“ mit Hilfe des Digital Services Act und der an die staatlichen Institutionen angelagerten NGOs.
„Die vier unterschiedlichen Deutungsmuster dessen, was Nationalstaat im 21. Jahrhundert bedeutet, werfen auch ein Licht auf den Fall der drei Somali.“
Die vier unterschiedlichen Deutungsmuster dessen, was Nationalstaat im 21. Jahrhundert bedeutet, werfen auch ein Licht auf den Fall der drei Somali. Auf der einen Seite steht eine CDU, die verzweifelt versucht, ihre stramme Einbindung ins links-grüne Mainstream-Medien- und Parteienstaats-Milieu mit jenen nationalliberalen Anteilen zu versöhnen, die insbesondere in der Migrationsfrage den Auftrag ihrer Wähler darstellen. Die völlig harmlose und immer noch nicht den grundgesetzlichen Vorgaben entsprechende – also nach wie vor nationalen Rechtsbruch darstellende – Zurückweisungspolitik ist ihr Ausdruck.
Auf der anderen Seite steht ein Staat, der zunehmend vom linksidentitären Denken der linken Parteien infiltriert wird: Die stramm links-grüne Einbindung des Richters von Alemann wirkt wie ein Resultat dessen, was das grüne Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses Benedikt Lux bereits im Jahr 2020 frohlocken ließ: „Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht. Bei der Feuerwehr, der Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft und auch beim Verfassungsschutz." Hinzu kommt die immer selbstbewusster auftretende, vom Staat mittlerweile seit über zehn Jahren besonders gepamperte NGO-Landschaft.
Und so positionierte sich ein Richter gegen von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragene politische Tendenzen innerhalb Deutschlands, eine in höherem Maße auf kollektive Selbstbestimmung setzende Migrationspolitik zu forcieren. Diese zielen unter Dobrindt gleichsam darauf ab, die ins Linksidentitäre hineinreichende, auf die Destruktion der Nation setzende Staatsauffassung zurückzudrängen, um gleichsam zum linksliberalen Normalbetrieb zurückzukehren. Dass selbst Grenzkontrollen in homöopathischen Dosen den linksidentitär geprägten Teil des Staatsapparates in Gang setzten, um die Verschärfung der Migrationspolitik zu verhindern, zeigt, wie ausprägt die Spannungsverhältnisse auch in der Bundesrepublik Deutschland bereits geworden sind.