22.07.2014

Der hässliche Beigeschmack der Wut auf Israel

Analyse von Brendan O’Neill

In Ihrer hysterischen Anti-Israel-Stimmung zeigen viele westliche „Linke“ ihre eigene Doppelmoral. Dabei verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen Antizionismus und Antisemitismus.

Jeder, der nur ein wenig kritischen Verstand besitzt, wird sich zu einem gewissen Zeitpunkt in der Debatte über den Gaza-Konflikt gefragt haben, warum so viele westliche „Linke“ den israelischen Militarismus so sehr verdammen und warum von Israel abgeschossene Raketen viel mehr Empörung auslösen als Raketen der USA, Frankreichs, Großbritanniens oder des syrischen Machthabers Assad.

Als französische Truppen in den letzten zwei Jahren „Françafrique“[1], also die ehemaligen französischsprachigen Kolonien in Afrika, zurückeroberten und von der Zentralafrikanischen Republik über Mali bis zur Elfenbeinküste marschierten, löste das in Frankreich vor allem Achselzucken aus. Am vorletzten Wochenende hingegen demonstrierten in Paris Abertausende zum Teil gewalttätig gegen den „israelischen Imperialismus“ und „israelische Barbarei“. Amerikaner, die letzten Monat die von der US-Regierung angeordnete Wiederaufnahme der Drohnen-Attacken in Pakistan mit Gleichmut betrachteten, versammelten sich vergangene Woche vor der israelischen Botschaft in Washington, um sich über die israelischen „Morde“ aufzuregen. (Unglaublich, dass dies genau einen Tag nach dem 375. amerikanischen Drohnen-Angriff innerhalb von zehn Jahren erfolgte, dem sechs Pakistaner zum Opfer fielen[2]. Offenbar ist der amerikanische Militarismus nicht so übel wie der israelische, und tote Pakistaner verdienen es im Gegensatz zu toten Palästinensern nicht, dass ihre Fotos, Namen und ihr Alter von besorgten „Linken“ auf Twitter veröffentlicht werden.) Zeitgleich in London brachten hunderte sehr wütende Briten den Verkehr zum Erliegen. Sie versammelten sich vor der israelischen Botschaft, kletterten auf Busse und prangerten israelische Brutalität an – Szenen, die man vor drei Jahren vermisst hat, als England Militärflugzeuge in Libyen einsetzte. Auch in Deutschland, das die drei genannten Kriegseinsätze zumindest organisatorisch und logistisch, im Falle Malis sogar mit Soldaten vor Ort, unterstützte, trieben erst die Pro-Gaza-Demonstrationen der vergangenen Wochen die Leute zu Tausenden auf die Straße, um gegen den „Kindermörder Israel“ zu protestieren.

„Von den USA zu fordern, Israel für den Angriff auf Gaza zu verurteilen, wäre so, als ob man einen Weißen Hai auffordern würde, einer Robbe auszureden, einen Fisch zu verspeisen.“

Diese Vergleiche zeigen, dass für Israel offenbar andere moralische Standards gelten. Die unbegründete Wahrnehmung, dass der israelische Militarismus blutiger und willkürlicher ist als jede andere Art von Militarismus, hat sich so eingeprägt, dass nun zahlreiche westliche „Linke“ ihre Regierungen auffordern, Israel zu verurteilen oder gleich Sanktionen zu verhängen. Sie fordern also von denen, die den Irak, Afghanistan, Libyen etc. angegriffen und zerstört haben, Israel für seinen Gaza-Angriff zu bestrafen. Das wäre, als ob man einen Weißen Hai auffordern würde, einer Robbe auszureden einen Fisch zu verspeisen. Amerika müsse Israel im Zaum halten – so sagt man jetzt. Um die israelischen Truppen zurückzuhalten, solle die internationale Gemeinschaft intervenieren, schreibt etwa ein Kolumnist des linksliberalen Guardian[3]  aus Großbritannien. Mit „internationale Gemeinschaft“ meint er ein Treffen des UN-Sicherheitsrates – der Sicherheitsrat, dessen dauerhafte Mitglieder sich zusammensetzen aus den USA, England und Frankreich, also genau den Nationen, die in den letzten Jahrzehnten enorm dazu beigetragen haben, den Mittleren Osten und Nord-Afrika in weiten Teilen zu destabilisieren und verwüsten. Dazu kommt Russland, dessen militärische Interventionen in Georgien und Tschetschenien es auch nicht als Anhänger des Weltfriedens erscheinen lassen, und China, das zwar nicht in andere Länder einmarschiert, aber ein Meister der Unterdrückung abweichender Meinungen im eigenen Land ist. In was für einer Welt können Nationen, deren militärische Interventionen den aktuellen Angriff auf Gaza wie ein Kaffee-Kränzchen erscheinen lassen, ernsthaft aufgefordert werden, Israel in Zaum zu halten? In einer Welt, die Israel mit anderen Maßstäben misst als alle andere Nationen.

„Die anti-israelische Stimmung wird immer emotionaler, gereizter und vorurteilsbehafteter, so dass die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus verschwimmt.“

Die westliche Doppelmoral in Bezug auf Israel besteht schon lange. Nicht nur ruft israelischer Militarismus besondere Wut hervor, sondern auch den Wunsch, alles boykottieren zu wollen, was aus Israel kommt, ob Akademiker oder Äpfel. Ein Wunsch, der in diesem Ausmaß gegenüber keinem anderen militaristischen oder autoritären Regime zu beobachten ist. Aber während des aktuellen israelischen Angriffs auf Gaza ist die anti-israelische Stimmung immer emotionaler, gereizter und sogar hasserfüllter geworden, so dass die Grenzen zwischen Antizionismus und Antisemitismus verschwimmen. Der Zorn richtet sich nicht nur gegen den israelischen Staat oder sein Militär, sondern gegen alle Israelis, ja oft sogar gegen alle Juden. Was vor zwei Wochen in Paris als Protest gegen Israel begann, endete in gewalttätigen Übergriffen auf zwei Synagogen. In einem Fall mussten sich deren Besucher verbarrikadieren, weil Anti-Israel-Aktivisten, „Tod den Juden“  schreiend, versuchten, sich mit Knüppeln und Holzlatten Zugang zu verschaffen. Dieser offene Rassismus wurde nach dem Ereignis als Ausrutscher oder Einzeltat wildgewordener Migranten dargestellt. In Berlin wurde am Samstag ein zufällig in eine Pro-Palästina-Demonstration geratenes israelisches Ehepaar von Demonstranten massiv bedroht: „Nazimörder Israel!“, „Scheiß Juden, wir kriegen Euch!“ und „Wir bringen euch um!“, riefen die Aktivisten und versuchten, die Israelis anzugreifen, nachdem sie auf die Kippa des Mannes aufmerksam geworden waren[4]. „Ihr Juden seid Bestien“, stand auf dem Plakat eines Demonstrationsteilnehmers in Frankfurt, während andere „Kindermörder Israel“ schrien. Teilnehmer einer großen Demo vor der israelischen Botschaft in London zeigten Plakate mit der Aufschrift „Zionistische Medien verheimlichen Palästinensischen Holocaust“, ein klarer Bezug zu dem bekannten antisemitischen Mythos, dass die Juden alle Medien kontrollieren. Auf einem Anti-Israel-Protest in den Niederlanden hissten einige muslimische Teilnehmer die schwarze ISIS-Flagge und skandierten: „Juden, die Armee von Mohammed kommt zurück.“

„Aktuell verschwimmen nicht nur die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus, sondern auch die zwischen Fakt und Fiktion.“

Auch in der virtuellen Welt verschwimmt die Grenze zwischen Antizionismus und Judenhass. Als ein dänischer Journalist ein Foto veröffentlichte, auf dem, so seine Behauptung, Israelis im Städtchen Sderot Popcorn-essend dem israelischen Raketenregen über Gaza zuschauten[5], wurde es zu einem Kristallisationspunkt des Zornes gegen die Israelis – jedes Nachrichtenmagazin veröffentlichte das Bild und Amnesty International twitterte darüber. Manch zornige Twitter-User bezeichneten die Israelis (nicht Israel in diesem Fall) als „erbärmlich“, „mörderisch“, „rassistisch“, „unmenschlichen Abschaum“, „Schweine“, und so weiter. Es dauerte nicht lange, bis echte Antisemiten auf diesen Zug aufsprangen. Unter anderem veröffentlichte ein rassistisches Magazin das Sderot-Foto unter der Überschrift „Rattengesichtige israelische Juden lachen und applaudieren dem Luftangriff auf den Gaza-Streifen“[6]. Die Geschwindigkeit, mit der Anti-Kriegs-Stimmung gegen Israel in Hass gegenüber Israelis umkippte, und die Leichtigkeit, mit der sich Demonstranten zu physischen Übergriffen auf Juden hinreißen ließen, deuten darauf hin, dass mehr hinter der gegenwärtigen Anti-Israel-Stimmung steckt, etwas nur schwer greifbares, etwas, das schnell ins Gedankenlose abgleiten kann, sodass in einer scheinbar typischen Anti-Kriegs-Parole auf einmal ein bösartiger, vorurteilsgeprägter und vergangen geglaubter Kern zum Vorschein kommt.

Vor diesem Hintergrund verschwimmt nicht nur die Linie zwischen Antizionismus und Antisemitismus – sondern auch die zwischen Fakt und Fiktion. Wie die BBC berichtete, ist das beliebte Hashtag #GazaUnderAttack, das in den letzten Tagen viele hunderttausend Male benutzt wurde, um schockierende Fotos von den Auswirkungen der israelischen Angriffe zu teilen, extrem unzuverlässig[7]. Manche der getwitterten Bilder (die dann von Tausenden anderen Menschen geteilt werden) stammen in Wirklichkeit aus dem Jahr 2009. Andere zeigen Leichen von Konflikten im Irak und Syrien. Alle werden mit Kommentaren wie „Seht Israels Unmenschlichkeit“ versehen. Es scheint hier nicht darum zu gehen, die Wahrheit über die Ereignisse in Gaza herauszufinden, sondern nur, sich aufzuregen und zu betrauern, was Israel tut, und je mehr man öffentlich weint, desto besser, da es zeigt, wie sensibel man auf israelische Barbarei reagiert. Es geht darum, tief verwurzelte Emotionen frei zu setzten. Das bedeutet, das Dinge wie Genauigkeit und Fakten nicht mehr viel gelten: der Ausdruck der Emotion ist alles was zählt, und jedes alte Foto toter Kinder aus dem Mittleren Osten – Irak, Syrien, Libanon… – genügt, um diese zur Schau gestellte Empfindsamkeit zu untermalen.

„Israel ist zu einer Projektionsfläche für westliche Schuldgefühle und Selbstzweifel geworden.“

Wie konnte es dazu kommen? Wie hat sich die Kritik am israelischen Militarismus aus einer einzelnen Facette einer anti-imperialistischen Position, wie sie in den 1980ern vorherrschte, zum zentralen und manchmal einzigen Fokus der selbst ernannten Kriegsgegner entwickelt? Warum kippt die Wahrnehmung des israelischen Militarismus so oft und so beiläufig in einen Ausdruck von Ekel gegenüber den Israelis und gegenüber den Juden im Allgemeinen? Weil Wut auf Israel heutzutage keine rational begründete politische Position ist. Dahinter steckt keine durchdachte Haltung gegenüber dem Nahostkonflikt und dessen Rolle im globalen Machtgeschehen. Die Anti-Israel-Stimmung ist vielmehr ein Ventil für ein allgemeines Gefühl der Erschöpfung und Wut gegenüber Allem – auf die westliche Gesellschaft, die Moderne, den Nationalismus, Militarismus und die gesamte Menschheit. Israel wurde zu einer Projektionsfläche für westlichen Selbstekel, westliche Schuldgefühle und westliche Selbstzweifel. Israel gilt als Symbol für das, was wir heute als veraltete westliche Werte betrachten: militärische Selbstverteidigung und Nationalismus. Und weil es diese Werte verkörpert, wird es beschimpft und bespuckt. Es wird nicht einfach nur für die Unterdrückung des Wunsches nach einem Palästinenserstaates angeprangert, sondern auch dafür, Werte zu verfolgen, aus denen der Rest der westlichen Welt angeblich herausgewachsen ist, und gilt damit gleichzeitig als Quelle von Krieg und Terror, nicht nur im Mittleren Osten, sondern überall auf der Welt. Laut einer Umfrage sehen die meisten EU-Bürger Israel heute als die Hauptquelle globaler Instabilität[8].

Hier zeigt sich, was der neue Antizionismus mit dem alten Antisemitismus gemeinsam hat: Beide suchen nach dem einen Sündenbock in der Welt – egal ob es ein böser Staat oder ein Volk ist - über den der Rest der Menschen sich aufregen und auf den wir die Schuld für alle politischen Probleme projizieren können.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!