23.07.2015

Der fremdbestimmte Sterbewunsch

Essay von Boris Kotchoubey

Der Tod ist unumkehrbar. Darüber sollten wir nicht einfach hinwegsehen. Der Sterbewunsch ist keine autonome Entscheidung, sondern ein Hilferuf. Und der Tod ist keine Hilfe. Wir müssen in der Debatte über Sterbehilfe umdenken.

Seit Mose auf seinen Tafeln das Gebot „Du sollst nicht töten“ den überraschten Juden übergab, entwickelten Menschen eine bemerkenswerte Kreativität bei der Erfindung verschiedenster Gründe, mit denen sie dieses Gebot umgehen konnten. Selten aber beruht die Aufforderung, unschuldige Menschen zu töten, auf einfachen Missverständnissen, fehlendem Wissens und der faulen Unwilligkeit, allgemein zugängliche Tatsachen kennenzulernen. So ist es aber bei der Diskussion über die Sterbehilfe.

Unerträgliche Leiden

Seit Jahrhunderten quälte den Menschen der Gedanke an die unerträglichen Schmerzen, mit denen viele Krankheiten und der von diesen Krankheiten ausgelöste Sterbeprozess oft verbunden sind. Noch in der Antike entstand der Begriff „Euthanasie“, der damals nicht wie im 20. Jahrhundert ein Euphemismus für die Massentötung der „Unwürdigen“ war. Er bezeichnete einen ruhigen, vor allem schmerzfreien Tod. Leider schenkten die olympischen Götter nur einer glücklichen Minderheit einen solchen Tod. Viele mussten an ihrem Sterbebett mit starken und manchmal sehr lange andauernden Schmerzen rechnen. Die Angst vor einem solchen unendlich erscheinenden Sterben war möglicherweise schlimmer als die Angst vor dem Tod selbst. Das Arsenal der Schmerzmittel bestand bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Alkohol, Opium und Gebet.

Die Lage hat sich in der zweiten Hälfte des 20. bis Anfang des 21. Jahrhunderts völlig geändert. Der Fortschritt der Schmerzmedizin war in diesen Jahrzehnten enorm. Kein anderes psychisches Phänomen ist inzwischen so gut untersucht worden wie Schmerz. Es gibt eine reiche und sehr bunte Palette an Schmerzmitteln zentraler und peripherer Wirkungen sowie unterschiedlichste Medikamente, die zwar keine unabhängige schmerzlindernde Wirkung haben, aber die Effekte der Schmerzmedikation beliebig modifizieren und potenzieren können. Für die allerschlimmsten Fälle gibt es auch die Schmerzchirurgie: Neurochirurgische Eingriffe, die bestimmte Komponenten der „Schmerzmatrix“ im Gehirn ausschalten, ohne sonstige Hirnfunktionen zu beinträchtigen.

„Bei jeder Krankheit kann heute jeder Patient völlig schmerzfrei leben“

Bei jeder Krankheit, die letzten Stadien von Krebs nicht ausgeschlossen, kann heute jeder Patient völlig schmerzfrei leben, und zwar bei vollem Bewusstsein. Endlich kann die Menschheit stolz sagen: Unheilbare Schmerzen gibt es nicht! Andere quälende Symptome des Sterbens wie Atemnot, Husten oder Blutungen können zwar nicht immer behoben, aber wesentlich gelindert werden. Dennoch leiden immer noch zahlreiche Sterbende an starken Schmerzen, auch in Deutschland und anderen Ländern mit einer hochentwickelten Medizin und Pharmakologie. Woran liegt das?

Es gibt zwar keine unerträglichen Schmerzen mehr, wohl aber inkompetente Ärzte. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin beschwert sich seit Jahrzehnten über die mangelnde Ausbildung der Mediziner auf dem Gebiet Schmerz. Die angemessene Dosis von Medikamenten wird systematisch unterboten, die Angst vor Nebenwirkungen wie z.B. Medikamentensucht übertrieben (von welcher Sucht kann man überhaupt bei Patienten sprechen, die sich im Sterbeprozess befinden?), die von Experten entwickelten Schemata nicht beachtet.

„Endlich kann die Menschheit stolz sagen: Unheilbare Schmerzen gibt es nicht!“

Die Ursachen sind nicht nur unzureichende Kenntnisse (Kenntnisse kann man erwerben, wenn man will), sondern vor allem eine falsche Einstellung gegenüber Schmerztherapie als Therapie zweiten Ranges. Nach dem vorherrschenden kurativen Paradigma ist die Medizin dafür da, Krankheiten zu heilen und den Tod möglichst weit aufzuschieben; wenn dies nicht mehr möglich ist, erklärt sich die kurative Medizin für nichts mehr zuständig. Bei einer solchen Philosophie hat die Schmerztherapie wie überhaupt Symptomtherapie nur einen bescheidenen Platz, weil sie nicht heilt, sondern lediglich Symptome beseitigt! Wenn die kurative Medizin keine Heilungsmöglichkeit mehr sieht, bleibt ihr nur die Kapitulation.

Notwendig ist daher der Wechsel vom kurativen zum palliativen Paradigma, dessen Ziel es nicht ist, das Leben des Patienten unbedingt zu verlängern, sondern seine Tage angenehm und nach Möglichkeit auch glücklich zu machen. Die palliative Medizin, wie sie z.B. in der Hospiz-Bewegung praktiziert wird, geht über die falsche Alternative (entweder den Tod trotz des Leidens mit allen Mitteln bekämpfen oder aufgeben) hinaus. Die dritte, dem kurativen Paradigma unbekannte Option heißt: Beim Sterbenden dabei zu sein, seine Leiden zu behandeln und ihn auch in seinen letzten Stunden das Leben genießen zu lassen.

Das unerträgliche Leiden der Sterbenden ist keine unabänderliche Strafe Gottes, sondern das Ergebnis einer falschen Einstellung. Das Gebot „die Medizin soll keine Symptome, sondern die Krankheit an ihrer Wurzel behandeln“ erweist sich in vielen Fällen als Denkfehler. Aber es gibt kaum etwas Törichteres als sich töten zu lassen, nur weil ein anderer einen Denkfehler gemacht hat.

Autonomie

Das Recht eines Patienten, nach Lust und Laune seinen Tod zu fordern, wird oft als Patientenautonomie bezeichnet. Lassen wir die Frage beiseite, warum eigentlich die Autonomie erst angesichts des Todes anerkannt werden soll. Auf den ersten Blick scheint es natürlich, dem Patienten in Namen der Autonomie mehr Rechte in seinen täglichen Geschäften zu geben, z.B. in der Wahl des Arztes oder der Krankenversicherung; auch sollte er mehr Mitspracherecht bei allen Entscheidungen innerhalb des Gesundheitssystems bekommen. Aber nein: Wenn er andauernden Husten hat, so reicht seine hochgepriesene Autonomie nicht aus, dass er sich selbstständig an einen HNO-Spezialisten wendet; erst sein Hausarzt darf ihn an diesen überweisen.

Für einen Versicherungswechsel, bei dem er ein paar Euro weniger zahlen oder ein paar Leistungen mehr bekommen würde, ist er nicht autonom genug. Erst wenn er sich töten lassen will, da wird er plötzlich völlig autonom und von allen Mächten unabhängig. Noch merkwürdiger ist, dass aus der Sicht der modernen Autonomiebefürworter nur die Entscheidung unseres Patienten in die eine Richtung, d.h. für den Tod, seine Autonomie beweisen würde; die alternative Entscheidung „ich will doch leben“ beweise seinen autonomen Willen offensichtlich nicht. Mit anderen Worten wird der autonome Wille des Patienten erstaunlicherweise immer dann, und nur dann, gefragt und in den Rang des Gesetzes erhoben, wenn dieser Wille mit dem Sparen von Gesundheitskosten übereinstimmt; honni soit qui mal y pense.

Aber diese überraschenden Züge der Sterbehilfebewegung seien dahingestellt, denn hier interessiert die philosophische Seite des Problems. Der Begriff des autonomen Subjekts wurde von Immanuel Kant eingeführt, der die Autonomie, d.h. die Fähigkeit bestimmter Wesen (Menschen, Engel…), für sich selber Gesetze festzulegen, allen anderen Wesen (Tieren, Steinen, Himmelskörpern…) gegenüberstellte, die „heteronom“ sind, d.h. sich den Gesetzen unterwerfen, die ihnen von außen (von Gott bzw. der Natur) aufgezwungen werden. Die Befürworter der Sterbehilfe verschweigen, dass Kant aus seinem Autonomiebegriff die Schlüsse zog, die ihren genau entgegengesetzt sind.

Die Fähigkeit zur Selbst-Gesetzgebung, so Kant, schließt ihre eigene Erhaltung und Entwicklung ein. Ein Vernunftwesen kann nicht wünschen, unvernünftig zu werden, denn dieser Wunsch wäre unvernünftig und zeige, dass das Wesen eben nicht vernünftig ist. Genauso wenig kann sich ein autonomes Subjekt ein Gesetz geben, nach welchem es aufhören würde, autonom zu sein. Ein solches Gesetz wäre ein Paradox und höbe die Autonomie auf. Da ein Toter selbstverständlich nicht autonom sein kann, kann schon per Definition kein autonomes Subjekt seinen Tod wünschen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Mensch seinen Tod nicht wünschen kann. Das bedeutet nur, dass er sich in dem Augenblick, in dem er unter dem Einfluss von Enttäuschungen, Krisen, existenziellen Katastrophen oder eben unheilbaren Krankheiten seinen Tod wünscht, nicht mehr wie ein autonomes Subjekt verhält. Man kann möglicherweise seine Situation verstehen und seinen Wunsch nachvollziehen. Man kann ihn aber nicht autonom nennen. Seine Entscheidung, sein Leben zu beenden, ist gerade von den oben genannten Faktoren (Krisen, existenziellen Bedrohungen usw.) bestimmt, und das bedeutet: Fremdbestimmt. Diese Schlussfolgerung kann von keinen empirischen Tatsachen widerlegt werden, sie ist ein Ergebnis einer logischen Konzeptanalyse: Der Sterbewunsch eines autonomen Subjekts ist laut Kant undenkbar. Ein Suizident handelt notwendigerweise heteronom.

„Der Sterbewunsch eines autonomen Subjekts ist laut Kant undenkbar“

Eine politische Analogie macht diesen Gedanken klar. In einer Republik beschließt das frei und demokratisch gewählte Parlament, sich selbst aufzulösen, die republikanische Ordnung, die demokratischen Regeln und alle bürgerlichen Freiheiten abzuschaffen und die volle Macht an einen absoluten Diktator abzugeben. Ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt übrigens, dass das Beispiel nicht frei erfunden ist. Würden wir nun mit reinem Gewissen diesen Parlamentsbeschluss frei und demokratisch nennen? Aber wenn nein, wenn wir in der Selbstvernichtung einer autonomen sozialen Ordnung einen Verstoß gegen diese selbe Ordnung sehen, warum gilt nicht dasselbe auch für ein einzelnes autonomes Subjekt, eine menschliche Person?

Patienten und Angehörige

Eines der besten Kunstwerke, die je für das Recht der Mediziner, einen unheilbar Kranken frühzeitig zu „erlösen“, geschaffen wurde, ist der heute halbverbotene, aber im Netz jedem zugängliche Propagandafilm von Wolfgang Liebeneiner: „Ich klage an“ (1941). In diesem Film rettet Dr. Lang, der zu jenem Zeitpunkt noch zutiefst davon überzeugt ist, dass er als Arzt dem Leben verpflichtet sei, ein schwerkrankes Mädchen – aber das Gehirn des Mädchens ist irreversibel gestört. Einige Monate (oder Jahre; das ist im Film nicht ganz klar) später besucht Dr. Lang die kleine Gertrude (so heißt das Mädchen) in der Anstalt, in der sie ihr „völlig idiotisches“ Dasein führt.

Wir sehen, wie die Krankenschwester ihm die Tür in die Station aufmacht, wie er hineingeht und wie die Tür sich wieder schließt. Dann sehen wir einige Sekunden nur die geschlossene Tür, auf die der Schatten des Fensters fällt, der merkwürdigerweise die Form eines Kreuzes hat. Endlich geht die Tür auf und Dr. Lang kommt wieder raus. Unbeschreibliches Schrecken steht auf seinem Gesicht. Was er hinter dieser Tür gesehen hat, sehen wir nicht, aber uns wird klar, dass es ein unfassbarer Horror gewesen sein musste. Die Krankenschwester war offensichtlich der Vergil, der Dr. Lang in die Hölle begleitet hat. Nach kurzem Schweigen fragt er den Anstaltsleiter: „Wie können die Schwestern das aushalten?“, bekommt aber keine Antwort.

Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen Dr. Lang und Dante: Im Gegensatz zum Letzteren beschreibt der Erstere das in der Hölle Erlebte nicht. Wir begreifen, wie erschreckend das Leid des Doktors war, als er das von ihm einst gerettete „idiotische“ Mädchen sah. Ob das Mädchen selbst leidet, erfahren wir nicht.

Somit illustriert die Episode im Film noch eine folgenschwere Irrung: Die Verwechslung zwischen dem „unerträglichen Leid“ der Patienten einerseits und sonstiger Betroffener andererseits. Ist es ein furchtbarer Zustand, ein komplett gelähmter, hilfloser, auf Geräte angewiesener Patient zu sein? Oder ist es vielmehr ein furchtbarer Zustand, einen solchen Patienten zu sehen?

„Die Lebensqualität der Angehörigen ist häufig niedriger als die der Patienten“

Untersuchungen zu diesem Thema gibt es in großer Menge. Man verglich unheilbar kranke, todgeweihte Menschen im Zustand vollständiger Hilfslosigkeit, aber mit klarem Bewusstsein, ihre Angehörigen und die behandelnden Mediziner. Wie fühlen sich diese Patienten, wie gut ist ihre Stimmung in ihrem für die Gesunden furchterregenden Zustand, wie hoch ihre Lebensqualität? Das Ergebnis dieser Studien war eindeutig. Die Ärzte geben die niedrigsten Werte für die Patienten an, knapp gefolgt von den Freunden und Verwandten der Patienten. Am besten aber finden ihre Situation die Patienten selbst. Sie sind mit ihrem Leben viel zufriedener, ihre Stimmung ist wesentlich besser, als alle anderen es sich vorstellen können. Aber die Angehörigen bewerten nicht nur die Lebensqualität der Patienten schlechter als die Patienten. Auch ihre (der Angehörigen) eigene Lebensqualität ist niedriger als die der Patienten.

Die Korrelationsanalyse spricht eine noch deutlichere Sprache. Je höher die Angehörigen ihre eigene Belastung in der Pflegesituation einschätzen, je niedriger ihre eigene Lebensqualität, je schlechter ihre eigene Stimmungslage, desto niedriger bewerten sie die Stimmung und die Lebensqualität des Patienten. Zwischen ihrer Einschätzung der Lage des Patienten und der Meinung des Patienten über seine eigene Lage besteht jedoch kein Zusammenhang; ebenfalls keiner zwischen der Lebensqualität eines Patienten und dem Grad seiner körperlichen Beschwerden. Patienten mit sehr schweren und schwersten körperlichen Behinderungen können mit ihrem Leben zufriedener sein als die mit mittelschweren Behinderungen. Soweit wir beurteilen können, ist eine schwere Krankheit oder Behinderung als solche nicht die Ursache einer schlechten Lebensqualität.

Die Umgebung eines Schwerkranken leidet oft viel schlimmer als der Kranke selbst. Das Schlimmste ist aber, dass die Umgebung in der Regel keine Möglichkeit hat, ihr Leid offen auszudrücken. Im Mittelpunkt des Geschehens steht natürlich der Patient, um ihn kümmern sich die Medizin und die Gesellschaft. Ein Angehöriger, der sagt (oder bloß denkt), dass er seine Last nicht mehr tragen kann, erntet kein Verständnis, auch seitens des eigenen Gewissens. Er wird den Vorwürfen und Selbstvorwürfen ausgesetzt, er sei egoistisch, kaltblütig, gefühllos und denkt nur an seine Unannehmlichkeiten statt an seinen kranken Verwandten. Die wahre Tragödie besteht nicht darin, dass das Leben des Pflegenden sehr schwer ist, sondern darin, dass diese Schwere auch nicht anerkannt wird, da seine Beschwerden dem heuchlerischen Ideal eines selbstlosen Fürsorgers gegenübergestellt werden. Ein Fürsorger, der sein eigenes Leben zugunsten eines Kranken vergisst und der keine eigenen Probleme außer denen des Kranken haben soll. Seine emotionale, körperliche, moralische und nicht zu vergessen: finanzielle Belastung, die er zugunsten des Kranken immer in den Hintergrund stecken soll, seine eigene Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, die Lage zu ändern, projiziert er auf den Kranken und schreibt seine niedrige Lebensqualität diesem zu.

Das ist die Lage, die die Gesellschaft, will sie ihren Schwerkranken helfen, unbedingt ändern muss. Der geschlossene Kessel negativer Emotionen der Pflegenden muss ein Ventil bekommen. Unterstützungsgruppen, in denen die Angehörigen der Schwerkranken über eigene – nicht der Kranken – Probleme sprechen könnten, würden keine erheblichen Kosten verursachen, den Pflegeprozess aber wesentlich entlasten. Nur derjenige Angehörige kann den Patienten zuverlässig unterstützen, der von der weiteren Umgebung und v.a. vom behandelnden Arzt als Person mit eigenem Leben, eigenen Lebensplänen und eigenen Lebensschwierigkeiten wahrgenommen wird und nicht als derjenige, dessen einzige Pflicht in der Sorge für den Patienten besteht. Auch wenn so ein Angehöriger sagt, dass er die Situation nicht mehr ertragen kann und manchmal seinem Vater oder seiner Mutter den Tod wünscht, so ist es noch immer besser, als diesen selben Todeswunsch dem Patienten zuzuschreiben. Die Todeswünsche der Patienten sind sehr oft versteckte, projizierte und verinnerlichte Wünsche ihrer Umgebung. Was bedeuten also diese Todeswünsche?

Mensch und Maschine

„Ach, lieber sterbe ich, als diese Situation weiter zu ertragen!“ Fast jeder von uns hat vielleicht mindestens einmal einen solchen Schrei von einem Bekannten oder Verwandten gehört; einige können sich sogar daran erinnern, dass sie selbst diesen Satz ausgerufen haben. Kein normaler Mensch kann diese Aussage missverstehen. Sie ist ein verzweifelter Hilferuf. Nur in einem sehr schlechten Witz könnte man sich jemanden vorstellen, der, als er hört, wie sein Freund schreit: „Ich kann nicht mehr, lieber den Tod!“, seelenruhig antwortet: „Alles klar, du willst also den Tod. Da ich davon ausgehe, dass du ein vernünftiger Mensch bist und über einen freien Willen verfügst, muss dein Wunsch erfüllt werden“ – und seinem Freund Zyankali in den Tee einschenkt.

Der Grund, warum wir den angeblichen Todeswunsch einer mehr oder weniger gesunden Person zweifelsfrei als Hilferuf erkennen, ist, dass wir uns mit dieser Person identifizieren und sie menschlich verstehen. Vom grundsätzlichen Unterschied zwischen der menschlichen und der maschinellen Rationalität hat oft Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, gesprochen und u.a. die folgende Geschichte erzählt. Ein Wissenschaftler erfindet eine Maschine, die jedem drei beliebige Wünsche sofort erfüllen kann. Wenn er seine Erfindung seinem Freund zeigt, sagt dieser gleich: „Ich will Millionär werden!“ Sofort klingelt es an der Tür und ein Versicherungsangestellter tritt ein. Er sagt dem Mann, dass seine geliebte Tochter in einem Unfall umgekommen ist, dass sie kurz davor eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, und dass der Mann jetzt eine Million Dollar bekommen kann. Verzweifelt schreit der unglückliche Vater: „Nein! Ich will jetzt meine Tochter wieder sehen!“ Wieder klingelt es an der Tür, und die Mitarbeiter einer Beerdigungsfirma tragen den offenen Sarg mit der toten Tochter hinein. Dem Mann bleibt nun der dritte Wunsch, der lautet: „Ich will, dass meine zwei vorigen Wünsche ungültig sind.“

„Die Todeswünsche der Patienten sind sehr oft Wünsche ihrer Umgebung“

Jedem Menschen, der anstelle der Maschine in der Lage wäre, drei Wünsche zu erfüllen, würde ohne jegliches Bedenken und Erklärung offenbar, dass „Ich will eine Million“ bedeutet: „Ich will eine Million ohne große Opfer“. Der Wünschende müsste den zweiten Teil des Satz nicht aussprechen, er ist absolut selbstverständlich. Genauso selbstverständlich ist jedem Menschen, dass derjenige, der ruft „Ich will meine Tochter sehen!“, meint, dass er die lebendige Tochter sehen will und nicht ihre im Autounfall entstellte Leiche. Wenn ein Mensch einen anderen Menschen darum bittet, ihm aus der Küche ein Glas Wasser zu bringen, und wenn in der Küche zwei Gläser je 200 Milliliter stehen, das eine halb voll Wasser, das andere voll Schnaps, dann bringt ihm der andere, ob Verwandter, Pfleger oder Diener, selbstverständlich nicht den Schnaps. Aber genau das würde ein Roboter machen, denn 200 Milliliter Schnaps beinhalten ca. 125 Milliliter Wasser, und 125 > 100.

Aus den Gründen, die im Rahmen dieses Artikels nur angedeutet werden können, versagt bei uns dieses menschliche Miteinandersein bei einem gewissen Grad der körperlichen oder geistigen Behinderung des anderen. Wenn der um Hilfe Schreiende querschnittgelähmt ist und im Rollstuhl sitzt, so ändert sich unsere Wahrnehmung und wir werden zu den Robotern, die die Worte des anderen mechanisch nehmen, und wundern uns, wenn uns ein Missverständnis vorgeworfen wird. Was gibt es falsch zu verstehen? Wenn einer sagt, er wolle den Tod, dann geben wir ihm, was er will. Das ist so einfach wie 125 > 100.

Aus verständlicher Angst vor schweren Krankheiten und dem Tod hören wir auf, menschlich zu kommunizieren, und schalten auf formell-mechanische Informationsverarbeitung um. Trotz des rationalen Scheins ist dies ein völlig irrationaler Abwehrprozess, denn die Annahme, dass derselbe Satz im Mund eines körperlich gesunden Menschen „Ich will leben!“ bedeuten kann, im Mund eines Schwerkranken oder Gelähmten aber „Ich will sterben!“ bedeutet, beruht auf keinem logischen Grund.

Laut dem psychiatrischen Klassifikationssystem DSM (Diagnostical and Statistical Manual) ist der Sterbewunsch eines der drei Kardinalsymptome einer Depression.Das bedeutet zwar nicht, dass beim Sterbewunsch immer eine Depression vorliegt, aber, dass der behandelnde Doktor bei diesem Symptom immer in der ersten Linie Depression ausschließen muss. Die Depression muss jedoch nicht immer direkt durch innere Faktoren (Stoffwechselstörung im Gehirn) verursacht sein („endogene Depression“). Sie kann auch von äußeren Faktoren wie Lebenskrisen, dem Tod einer geliebten Person oder auch einer schweren körperlichen Krankheit, einer tödlichen Diagnose ausgelöst werden. Am häufigsten ist eine Kombination von inneren und äußeren Ursachen im Spiel und es ist unmöglich, den genauen Beitrag der einen und der anderen Komponente herauszurechnen. Wenn aber der Sterbewunsch im Rahmen einer depressiven Störung geäußert wird (und zwar völlig gleichgültig, ob die Depression endogen oder von außen ausgelöst ist), dann muss die Depression behandelt werden.

Die Krankheit kommt aber nicht allein. Ein Schwer-(oder gar Tod-)kranker verliert seine soziale Stellung, seinen Job, seine Beziehungen, oft wird er vom Geldbringer zum Schmarotzer, vom Stolz seiner Mitmenschen zu ihrer Last. Ziehen wir jetzt von diesem Krisenkomplex die Krankheit ab – es bleibt immer noch genug, um depressiv zu werden und an den Tod zu denken.

„Wer sich den Tod wünscht, handelt fremdbestimmt“

Ist es überhaupt für Menschen möglich, völlig vernünftig, sine ira et studio, alle Dafür und Dagegen abzuwiegen und auf einer vollkommen rationalen Basis die Entscheidung zu treffen: Ich soll mein Leben jetzt beenden? Ich kann es nicht kategorisch ausschließen. Aber weder ich selbst, noch meine zahlreichen Kollegen, die sehr viel mit Schwerkranken gearbeitet haben, haben je einen solchen Menschen gesehen. In jedem Fall ohne Ausnahme, in dem ein Patient, in welchem körperlichen Zustand auch immer, den Sterbewunsch äußert, lässt sich eine Analyse seiner Lage immer einen Konflikt im sozialen Umfeld finden, der diesem Wunsch zugrunde liegt – in der Regel eine Krise im Bereich der Familie, der Pflegesituation oder des beruflichen Lebens. Wird dieser Konflikt behoben, verschwindet der Sterbewunsch. Wir wissen nicht, womit genau der Sterbewunsch zusammenhängt; unter den begünstigenden Faktoren werden z.B. niedrige Bildung, Kommunikationsschwierigkeiten oder bestimmte Persönlichkeitseigenschaften genannt. Eines ist aber vollkommen klar: Die körperliche Erkrankung bzw. Behinderung als solche (eine komplette Lähmung der sämtlichen Muskulatur inklusive) kann nicht die Ursache des Verlangens nach Sterbehilfe sein.

Wer sich den Tod wünscht, handelt fremdbestimmt. Zu diesem Schluss, den Kant allein durch die philosophische Reflexion über seinen Autonomiebegriff erreichte, kommt jeder durch seine praktische Erfahrung, der mit Schwerstkranken gearbeitet hat.

Ohne Recht auf Fehler

Komisch ist das deutsche politische System: Fast jedes Jahr ist ein Wahljahr. Immer wieder müssen wir eine politische Entscheidung treffen. Aber auch im privaten Leben stehen wir stets vor einer Berufs-, Partner-, Ortswahl. Was all diese Wahl- und Auswahlsituationen kennzeichnet, ist ihre prinzipielle Umkehrbarkeit und Symmetrie. Ich kann einmal z.B. eine konservative Partei wählen und bei der nächsten Wahl enttäuscht zu den Sozialisten wechseln; aber genauso gut könnte es andersrum sein. Der eine fährt auf Mallorca, ist dort mit seinem Urlaub unzufrieden und wählt nächstes Mal lieber Costa Brava; bei einem anderen ist es umgekehrt. Die Symmetrie ist zwar nie vollständig, da eine schlechte Wahl oft zum Verlust wichtiger Ressourcen wie Zeit, Geld oder Freiheit führt, aber sie ist vorhanden. Sogar wenn ich eine extreme Partei wählte und diese, an die Macht kommend, alle Wahlen abschaffte und mich der Möglichkeit, meinen Fehler zu berichtigen, beraubte – auch dann könnte ich immerhin meine Entscheidung bereuen und wenigstens im privaten Kreis über meinen Fehler sprechen. Zumindest geistig kehre ich meine Fehlentscheidung um, selbst wenn ich sie nicht in der Wirklichkeit umkehren kann.

Der Grund dieser Umkehrbarkeit ist der unlösbare Zusammenhang zwischen Freiheit und Fehlbarkeit. Noch die alten Kirchenväter stellten sich die Frage „Warum lässt Gott Menschen irren, statt sie geradeaus zur Wahrheit zu führen?“ und antworteten: „Weil es logisch unmöglich ist, dem Menschen Freiheit zu geben, ohne ihn irren zu lassen.“ Wer frei ist, muss auch dazu frei sein, einen Fehler zu begehen.

Stellen wir uns eine Situation vor, in der unsere Entscheidung auf alle Ewigkeit gelten würde. Ich wähle z.B. die CDU, aber mit der Bedingung, dass ich jetzt immer und bis zum Ende aller Zeiten nur die CDU wählen muss und nie ein kritisches Wort über diese Partei sagen darf. Oder ich muss beim Kauf eines VW ein Gelübde ablegen, dass ich von nun an immer und täglich einen VW und nur den VW fahren und völlig unabhängig von meiner Erfahrung dieses Modell loben werde. Absurd, sagen Sie? Aber freie Wahl zwischen Leben und Tod ist eine analoge Situation. Im Gegensatz zu allen von uns erlebten und überhaupt denkbaren Auswahlsituationen ist sie absolut unumkehrbar und absolut asymmetrisch. Ein Patient, der entschieden hat, weiterzuleben, kann seine Meinung ändern. Ein Patient, der den Tod gewählt hat, kann es nicht.

„Wer frei ist, muss auch dazu frei sein, einen Fehler zu begehen“

Dass sehr viele (mit Abzug von schweren psychischen Erkrankungen, die meisten) gerettete Selbstmörder froh und ihren Rettern dankbar sind, ist bekannt. Damit geben sie zu, dass ihre suizidale Absicht ein Fehler war. Das hat nur scheinbar damit zu tun, dass diese Menschen in der Regel körperlich gesund sind. Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) wissen, was ihre Diagnose bedeutet. In wenigen Jahren werden sie an Atemstillstand sterben. Einige haben (meistens auf Druck der Ärzte) eine Patientenverfügung, dass sie in diesem Fall keine künstliche Beatmung wollen. Aber die Atemnot kann bei der ALS auch plötzlich auftreten, der Patient gerät zu einem Intensivarzt, der keine Zeit für die Suche nach der Patientenverfügung hat. Er sieht den Sterbenden und muss ihn retten, d.h. künstlich beatmen. Die Mehrheit dieser Patienten ist danach mit ihrem Leben im hohen Maße zufrieden. Ihre Patientenverfügung war ein Fehler. Darum lautet die erste Regel der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM), einer Patientenorganisation der Schwerstgelähmten: Keine Patientenverfügung unterschreiben!

Das wirklich Überraschende an solchen Befunden ist, dass sie überhaupt jemand überraschen. Bei der Wahl eines Bundestagsabgeordneten oder eines Ortsvorstehers, bei der Job- oder Partnerwahl, beim Kauf eines Hauses oder einer Hose begehen wir immer wieder Fehler, und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir Menschen sind. Aus diesen Fehlern lernen wir und versuchen, es bei der nächsten Gelegenheit besser zu machen. Warum ausgerechnet bei der Wahl zwischen Leben und Tod, und zwar von einer sich in einer Krisensituation befindenden Person, ein völlig rationaler und fehlerfreier Entscheidungsprozess erwartet wird, ist nicht nachvollziehbar.

Somit haben die Befürworter der Sterbehilfe einen Zaubertrick geschafft, der sogar für den allmächtigen Gott – und zwar nach der Meinung der höchsten Autoritäten in der christlichen Lehre – unmöglich ist! Sie geben einem Kranken die freie Wahl, so aber, dass ihm bei dieser Wahl nur eine einzige Möglichkeit bleibt: In den Tod.

Aber es gibt kaum etwas Dümmeres, als sich töten zu lassen, nur weil ein anderer nicht gelernt hat, widerspruchsfrei zu denken.

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