13.05.2015

Medizinischer Paternalismus am Sterbebett

Analyse von Monika Frommel

Der Bundestag will wieder das Strafrecht verschärfen, diesmal geht es um ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung. Die allermeisten Strafrechtsprofessoren diese Bestrebungen ab. Kritisiert wird die bevormundende Haltung der Ärztekammern.

Wer nach einer paternalistischen Norm im Strafrecht sucht, wird schnell fündig. Selbstmord ist erlaubt [1], auch die Beihilfe dazu [2], aber Tötung auf Verlangen ist (nach § 216) strafbar, obgleich dies eigentlich systemwidrig ist. Denn nach der seit über 150 Jahren unbestrittenen Dogmatik der Tötungsdelikte muss die Beihilfe zum Selbstmord straflos sein, weil die Haupttat, die Selbsttötung, nun einmal erlaubt ist. Eigentlich müsste dies also auch für eine Tötung auf Verlangen gelten. Die Gesetzgebung hat dennoch anders entschieden und einen eigenständigen Straftatbestand geschaffen, der auch dann greift, wenn der Sterbewillige einwilligungsfähig ist, sich seinen Wunsch also gut überlegt hat und nicht unter Zwang handelt.

Allerdings ist nur die täterschaftliche Verursachung dieses gewünschten Todes strafbar – und zwar sowohl durch aktives Tun als auch durch Unterlassen, wenn man für den Sterbewilligen verantwortlich ist, etwa als Arzt oder als Verwandter bzw. Partner (Garantenstellung). Auf eine einfache Formel gebracht ist Sterben von eigener Hand legitim und legal, Sterben durch fremde Hand hingegen verboten.

Totschlag hat eine Mindeststrafe von fünf Jahren, die aktive Sterbehilfe wird erheblich milder bestraft: § 216 StGB sieht mindestens sechs Monate und höchstens fünf Jahre vor. Für Strafrechtler ist dennoch klar, dass diese Strafnorm nur so lange legitim bleibt, wie sie so eng wie möglich ausgelegt wird. Die Niederlande und Belgien haben die sich in der Praxis häufig stellenden Probleme des Sterbewunsches flexibler geregelt. Sie verbieten die aktive Sterbehilfe nicht ausnahmslos, sondern nur dann, wenn das zur Rechtfertigung bestimmte Verfahren nicht eingehalten worden ist.

Aktuelle Gesetzentwürfe

Im Bundestag liegen verschiedene Gesetzesentwürfe vor, die verschärfen wollen, was hier als erlaubt geschildert wurde. Die einzelnen Entwürfe unterscheiden sich nur unwesentlich, daher soll im Folgenden der Vorschlag von Taupitz u.a. dargestellt werden. Danach soll ein neuer § 217 StGB die ärztliche Beihilfe zum Selbstmord verbieten, aber dennoch ein Verfahren vorsehen, das sie ausnahmsweise erlaubt. Ärzte dürfen danach helfen, wenn sie

  1. aufgrund eines persönlichen Gesprächs mit dem Patienten zu der Überzeugung gelangt sind, dass der Patient freiwillig und nach reiflicher Überlegung die Beihilfe zur Selbsttötung wünscht,
  2. aufgrund einer persönlichen Untersuchung des Patienten zu der Überzeugung gelangt sind, dass der Patient an einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leidet,
  3. sie den Patienten umfassend und lebensorientiert über seinen Zustand, dessen Aussichten, mögliche Formen der Suizidbeihilfe sowie über andere – insbesondere palliativmedizinische – Möglichkeiten aufgeklärt haben,
  4. mindestens einen anderen, unabhängigen Arzt hinzugezogen haben, der den Patienten persönlich gesprochen, untersucht und ein schriftliches Gutachten über die in den Punkten 1 und 2 bezeichneten Gesichtspunkte abgegeben hat, und
  5. zwischen dem nach dem Aufklärungsgespräch und der Beihilfehandlung zehn Tage verstrichen sind.

Angehörige können hingegen straflos Beistand leisten, nicht aber unbeteiligte Dritte. Mit dieser Änderung des Strafgesetzes soll auch noch ein weiteres, das Problem der kommerziellen Sterbehilfe, gelöst werden.

„Alle Entwürfe fordern eine Verschärfung des Strafrechts“

Der genannte Gesetzesentwurf – und die anderen Entwürfe – stellen das Regel-Ausnahmeverhältnis auf den Kopf. Sie ignorieren alle strafrechtsdogmatischen Regeln und gehen auch noch davon aus, dass verboten ist, was nicht erlaubt wird. Aus diesem Grund lehnen fast alle Strafrechtslehrer diese Entwürfe ab. Der BGH-Richter Thomas Fischer empfiehlt darüber hinaus, auch die Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe zu lockern und die prozeduralen Regelungen der Benelux-Länder zu übernehmen. [3] So weit gehen 141 Strafrechtslehrer in einem Aufruf nicht. [4] Sie fordern aber, die im Bundestag demnächst zur Beratung anstehenden Gesetzesentwürfe nicht zu verabschieden und das geltende Recht zu belassen, wie es ist. Alle Entwürfe fordern nämlich – mehr oder weniger deutlich – eine Verschärfung des Strafrechts.

Bundesärztekammer und Standesrecht

Was sind die Gründe? Die Gruppen, welche zurzeit entsprechende Entwürfe eingebracht haben, meinen auf die Haltung der Bundesärztekammer (BÄK) reagieren zu müssen. Diese hat bereits seit Jahren sehr bevormundende Empfehlungen gegeben und etwa die Hälfte der Landesärztekammern haben diese umgesetzt. Faktisch ist es in Deutschland sehr schwer, ärztliche Hilfe zu bekommen, wenn ein Patient sterben will. Die Justitiare vieler Kliniken geben nämlich Empfehlungen, die es für Ärzte und Ärztinnen als zu riskant erscheinen lassen, die Hilfe im Sterben zu gewähren, welche ihnen das Strafrecht erlaubt – die aber ggf. berufsrechtlich problematisch sind. Zwar hat die höchstrichterliche Rechtsprechung den Behandlungsabbruch selbst dann explizit als erlaubt festgestellt, wenn die sterbewillige Person durch einen Vorsorgebevollmächtigten vertreten bzw. von einem Betreuer unterstützt wird, also selbst die Einwilligung gar nicht mehr geben kann. [5]

Die Standesorganisationen der Ärzteschaft wollen dies dennoch berufsrechtlich verbieten, obgleich es strafrechtlich erlaubt ist. Sie ignorieren auch den naheliegenden verfassungsrechtlichen Einwand, dass ein solches ärztliches Berufsrecht nichtig ist, da es nur das Verhalten der Ärzteschaft, nicht aber das der Patienten regeln und schon gar nicht in Grundrechte der Patienten eingreifen darf. Wir haben also nicht nur einen weltanschaulichen Disput, sondern auch einen Konflikt der Professionen. Die Ärzte werden von einer Organisation vertreten, die es ihnen erschwert, im Interesse der Patienten zu handeln.

„Ihre Standesorganisation erschwert es Ärzten, im Interesse der Patienten zu handeln.“

Strittig war und ist noch immer zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (etwa der katholischen Kirche auf der einen Seite und den an Freiheitsrechten orientierten Gruppen auf der anderen), ob es moralisch ein Verfügungsrecht über das eigene Leben geben darf. Das Strafrecht garantiert zwar dieses Recht. Unterschiedlich bewertet wird hingegen das ärztliche Berufsbild. Liberale gehen davon aus, dass Menschen in jeder Lebenslage, also auch bei einem Sterbewunsch, ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen dürfen, Ärzte also nicht nur lebenserhaltend, sondern auch hilfreich beim Sterben handeln dürfen.

Die BÄK will demgegenüber eine Sterbebegleitung erst dann zulassen, wenn der Sterbeprozess bereits unmittelbar eingesetzt hat oder zumindest bevorsteht. Sie empfiehlt dann Palliativmedizin. Aber dies ist nicht ausreichend. Es gibt Situationen, in denen Palliativmedizin nicht helfen kann, insbesondere nicht dann, wenn zwar die Diagnose klar ist, der Sterbeprozess aber nicht, schon gar nicht unmittelbar bevorsteht. Schließlich gibt es auch Erkrankungen wie Alzheimer, die gefürchtet werden, aber für sich gesehen nicht zum Tode führen, sondern nur das Leben so beeinträchtigen, dass es Menschen gibt, die das nicht ertragen wollen. Die moralische Bewertung sollte jedem Einzelnen überantwortet werden.

Selbstbestimmung und Ethik

Sind Patienten nicht mehr handlungs- und auch nicht einwilligungsfähig, etwa weil sie bewusstlos sind oder dauerhaft im Koma liegen, muss ihr Wille über Indikatoren und Erklärungen, die sie früher gegeben haben – auch Patientenverfügungen –, erschlossen werden. Hierfür gibt es belastbare juristische Lösungen. Ist klar, was sie im einwilligungsfähigen Zustand gewollt haben (etwa weil der vom Patienten frei gewählte Vorsorgebevollmächtigte seine frühere Entscheidung umsetzt, oder eine Betreuung), dann ist ein (voraussichtlich tödlich wirkender) Behandlungsabbruch nicht nur zulässig, sondern geboten. [6]

„Moralische Entscheidungen werden in einem hohen Maße verrechtlicht“

Eine Vorsorgevollmacht sollte allerdings in Zeiten der vollen Entscheidungsfähigkeit möglichst notariell beglaubigt werden. Noch gibt es Streit, so steht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bei einem Koma-Patienten an. [7] Es scheint, als ob auch der EGMR – ähnlich wie schon der BGH – das Prinzip stärken wird, dass grundsätzlich der Patientenwille vorgeht. Jede aufgedrängte Behandlung verstößt gegen die Grundrechte des Patienten [8]

Wieso tun sich Standesorganisationen der Ärzte damit so schwer? Wieso stellen sie nicht das Recht der Patienten über paternalistische Bedenken? Wieso wollen sie die erlaubte passive Sterbehilfe berufsrechtlich untersagen, die das Leben ggf. verkürzende Schmerzbehandlung [9] aber erlauben? Offenbar haben wir uns in den letzten 15 Jahren daran gewöhnt, sog. ethische Standards aufzustellen und die Höchstpersönlichkeit moralischer Entscheidungen zwar zu betonen, sie aber zugleich, wenn es konkret wird, in Frage zu stellen. Sie werden in einem Maße verrechtlicht, wie dies zwar für autoritäre Gesellschaften typisch ist und üblich war, aber seit den 1970er-Jahren hier eher verpönt war.

Die jeweiligen Ethikdebatten hatten am Ende des 20. Jahrhunderts eher liberalen Charakter, werden aber – ungefähr seit Beginn des 21. Jahrhunderts – sehr viel bevormundender. Freigeister haben es zunehmend schwer. Eine neue maternalistische und/oder paternalistische Ethik problematisiert nicht nur die „Freiwilligkeit“, sondern sieht diffuse strukturelle Zwangslagen. Sie präferiert statt einer Beratung und Suizidbeihilfe eine besser ausgebaute Palliativmedizin. Die Protagonisten dieser Einschränkungen haben sich also längst vom frei verantwortlich handelnden bürgerlichen Subjekt verabschiedet und denken in Kategorien der Hilfe und/oder Überforderung. Es spricht nichts gegen informelle Regeln, wenn sie nicht festgelegt und in Rechtsform gegossen werden. Die Freiheit wird erst eingeschränkt, wenn Berufsrecht Ärzten und anderen beruflich erfahrenen Helfern verbietet, Suizidbeihilfe zu leisten und Strafrecht anfängt, prozedurale Regeln zuzulassen, die regulieren, was frei sein sollte.

„Innere Zwänge sind letztlich nicht juristisch zu entscheiden“

Dies geschieht seit Jahren durch ein schwer durchschaubares Geflecht komplizierter rechtlicher Regeln. Sie betreffen zum einen die Schmerztherapie. Der sog. Sterbetourismus in die Schweiz hängt nicht mit gravierenden Unterschieden der strafrechtlichen Regelungen zusammen, sondern mit den Unterschieden im Betäubungsmittelrecht. Ärzte in der Schweiz können leichter tödlich wirkende Schmerzmittel verschreiben, welche dann von sog. Sterbehilfeorganisationen verabreicht werden. Noch folgenreicher sind die angesprochenen Richtlinien der Bundesärztekammer, welche es Ärzten untersagen, Sterbehilfe zu leisten. Deren Umsetzung durch etwa die Hälfte der LÄK wirkt faktisch wie ein Verbot.

Der Grundsatz, dass Berufsrecht nicht in die Grundrechte von Patienten eingreifen darf, ist akademisch richtig, aber ohne Folgen. Denn Anweisungen an das ärztliche Personal wirken wie eine Zugangsbarriere. Nur sehr erfahrene Bürger finden sich hier zurecht. Die Unterschiede zwischen einer strafrechtlichen und einer eher paternalistischen, sich „ethisch“ nennenden Sichtweise hängen damit zusammen, dass Freiwilligkeit rechtlich gesehen lediglich Freiheit von Zwang ist, innere Zwänge, das Thema von Moraldebatten, aber letztlich nicht juristisch zu entscheiden sind.

Rechtlich ist die Entscheidung einfach: Wenn es keine objektivierbaren Gegenindikatoren gibt, muss Freiheit zugeschrieben werden. Das stört manche Teilnehmer einer ethischen Debatte. Sie wollen ihre jeweiligen moralischen Präferenzen allgemein verbindlich machen. Sie tendieren deshalb zur maternalistischen bzw. paternalistischen Sichtweise und können nicht begründen, wieso ihre höchst subjektiven Urteile „moralisch“ als allgemeinverbindliche Sozialethik gelten sollen.

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