01.12.2014
„Nicht für das Recht auf Sterben kämpfen“
Interview mit Kevin Yuill
Der Bundestag diskutierte kontrovers über Sterbehilfe, eine schwerkranke junge Amerikanerin tötete sich nach Vorankündigung auf Facebook. Position gegen unterstützte Selbsttötung, aus humanistischer Perspektive.
Marco Visscher: Welches Problem haben Sie mit Sterbehilfe?
Kevin Yuill: Ich habe ein Problem damit, wenn wir durch unsere Gesetzeslage dem Leben bestimmter Menschen, insbesondere Alten und Kranken, weniger Wert beimessen. Sterbehilfe ist schließlich Menschen vorbehalten, deren Leben wir als weniger wertvoll betrachten. Die Vorstellung, dass wir um unser 70. Lebensjahr herum unser Leben vollendet haben und es prima, vielleicht sogar besser wäre, ihm ein Ende zu bereiten, finde ich widerlich.
Ist das nicht unsere eigene Entscheidung? Es zwingt uns ja keiner.
Sie zielen auf unser Recht auf Autonomie ab. Meiner Meinung nach glauben die Sterbehilfebefürworter gar nicht daran. Wenn man ernsthaft der Idee anhängt, dass Menschen tun dürfen, was sie wollen, würde man das Recht auf Selbsttötung jedem zuteilwerden lassen, auch einem jungen Mann, dessen Freundin gerade mit ihm Schluss gemacht hat. Und weshalb braucht man dann die ganzen Hindernisse und Instanzen bei der Sterbehilfe, wenn man zur Autonomie steht? Warum keine Selbstmordpille, wie die Drion-Pille, für alle, die danach ein Bedürfnis verspüren? Wenn man dem einen Autonomie zugesteht und dem anderen nicht, schafft man Ungleichheit.
In Belgien wurde kürzlich das einschlägige Gesetz erweitert und erfasst nun auch Kinder mit unheilbaren Leiden.
Ja, Kinder, denen man noch sagen muss, was sie anzuziehen haben, können ihren Todeswunsch äußern, und wenn sie ihn gut begründen, hört man auf sie. Dabei schockiert mich vor allem die Nonchalance, mit der man diese Entscheidung getroffen hat. Die Gesundheitsministerin und Vizeministerpräsidentin Laurette Onkelinx erschien nicht einmal zur Debatte. Es fand auch kaum eine Debatte statt, die Gesetzesänderung wurde mit breiter Mehrheit angenommen. Belgien zeigt, was geschieht, wenn man einmal diesen Weg einschlägt.
„Man ist in eine Situation hineingeschlittert, in der Sterbehilfe nun als Recht gilt, das jeder in Anspruch nehmen darf.“
Sie befürchten also ein Hineinschlittern in Schlimmeres?
Inzwischen ja. Mit diesem Argument war ich immer sehr zurückhaltend, es ist ja sehr konservativ – es impliziert, dass man wegen möglicher negativer Folgen nie etwas Neues probieren darf – und ich sehe mich nicht als Konservativen, sondern als Liberalen. Aber jetzt erkennen wir, dass immer mehr Menschen ebenfalls euthanasiert werden wollen. In Belgien hat man einem Insassen der forensischen Psychiatrie seinen Antrag auf Sterbehilfe genehmigt. Er war als junger Mann gerichtlich für unzurechnungsfähig erklärt worden und erklärte sich auch selbst für eine Freilassung als psychisch ungeeignet. Aber sein Antrag auf Sterbehilfe fand Zustimmung, weil er ihn so vernünftig begründet hatte! Das ist unerhört.
Und wenn man in die Niederlande schaut, stößt man auf eine Bürgerinitiative, die Sterbehilfe für Menschen mit einem „erfüllten Leben“ ermöglichen wollte und dabei viel Unterstützung erhielt. Man ist eine Situation hineingeschlittert, in der Sterbehilfe nun als Recht gilt, das jeder in Anspruch nehmen darf.
Spricht nicht Mitgefühl für Sterbehilfe?
Gegen Mitgefühl hat niemand etwas. Wissen Sie, echtes Mitgefühl beinhaltet eine Verantwortung für sein Handeln. Bei der Sterbehilfe scheint man aber Angst zu haben, selbst zu agieren und verschiebt die Verantwortung lieber professionellen Helfern in die Schuhe. Aus meiner Sicht ist einem Arzt die persönliche Abwägung gestattet, das Leben eines Patienten zu beenden – dabei kann Mitgefühl eine Rolle spielen –, sobald das aber zur Politik wird, haben wir ein Problem.
Sie heißen es also gut, wenn ein Arzt einem Leben ein Ende macht?
Ja, das kann unter bestimmten Umständen ein richtiger Entschluss sein. Es wäre sogar inhuman, wenn Ärzte solche Entscheidungen nicht treffen dürften. Das haben sie im Übrigen immer schon getan, seit Jahrhunderten. Es wirkt manchmal, als sei Sterbehilfe ein neues Phänomen. Dem ist natürlich nicht so. Sie ist schon immer erfolgt, gänzlich informell. Das Problem sehe ich vielmehr bei der Legalisierung, wenn Gesetzgebung erfolgt, die die Tötung einiger Patienten erlaubt. Mir wäre lieber, Sterbehilfe bliebe unter dem Radar. Ich bin schlichtweg nicht der Auffassung, dass der Staat sich mit dem Töten seiner Bürger beschäftigen darf.
Man könnte einwenden, dass der Staat bei der Sterbehilfe einem großen Wunsch seiner Bürger nachkommt.
In den Vereinigten Staaten sitzen haufenweise Menschen in der Todeszelle, die gegen ihre Todesstrafe nicht rechtlich vorgehen, sich also offenbar mit ihrem nahenden Tod abgefunden haben. Finden Sie es gut, dass sie exekutiert werden? Wohl nicht. Ich bin aus demselben Grund gegen Sterbehilfe wie gegen die Todesstrafe: Der Staat darf niemanden exekutieren, weder als Strafe in einem Gefängnis noch als Hilfe in einem Altersheim.
„Wer wirklich sterben will, braucht dafür keine Gesetzgebung, noch nicht einmal einen Arzt.“
Wie erklären Sie das starke Bedürfnis nach Regulierung von Sterbehilfe, wie es aktuell etwa in Deutschland in politischen Vorstößen zum Ausdruck kommt?
Ich vermute dahinter teilweise eine feindselige, argwöhnische Haltung gegenüber den Technologien, die auch bei schweren Krankheiten eine Lebensverlängerung ermöglichen. Außerdem spielt das Aufkommen der New-Age-Bewegung mit ihrem Mantra, dass jeder für sein eigenes Leben selbst verantwortlich ist, eine Rolle. Es ist doch paradox: Wer wirklich sterben will, braucht dafür keine Gesetzgebung, noch nicht einmal einen Arzt. Aber gut, ausgerechnet diejenigen, die sich für antiautoritär und für ihr Selbstbestimmungsrecht engagiert wähnen, plädieren für eine Legalisierung.
Sie verstehen sich als Humanist. Befürworten nicht gerade humanistische Organisationen Sterbehilfe, um auf diese Weise Menschen von ihrem Leiden zu erlösen?
Als Humanist bereitet es mir große Sorge, dass in der Gesellschaft eine Überzeugung wächst, die in der menschlichen Existenz ein Problem sieht. Das zeigt sich ganz deutlich an der heutzutage populären und kaum noch in Frage gestellten Vorstellung, dass es auf der Erde zu viele Menschen gibt. Dieses misanthropische Weltbild spiegelt sich auch in der Furcht vor Überalterung wider. Dabei richtet sich die Angst vor Überbevölkerung auf Senioren: Menschen, die nicht mehr arbeiten und viel Betreuungsbedarf haben. Die britische Philosophin Baronin Mary Warnock hat wörtlich von einer „Pflicht zu sterben“ für Ältere, die dem Staat auf der Kasse liegen, gesprochen. Als wäre es völlig normal, nach Menschen Ausschau zu halten, die es am wenigsten wert sind, noch länger weiterzuleben. Ich sehe aber den Tod nicht als Lösung gesellschaftlicher Probleme.
Gibt es wirklich einen Kampf gegen Alte? Aus der Altersgruppe selbst heraus ist der Wunsch zu vernehmen, ihnen die Möglichkeit zur Sterbehilfe zu gewähren, wenn es soweit ist.
Das ist ein faszinierendes Phänomen, nicht zuletzt wegen der Unterstützung durch in der Öffentlichkeit agierende Intellektuelle. Wissen Sie, die am meisten von der Sorge um Überbevölkerung Beseelten gehören zur Elite. Für sie gibt es zu viele „von denen“, von den Afrikanern, von Menschen, die nicht so sind wie sie selbst. So erkläre ich mir, dass der Ruf nach einer Legalisierung oder umfangreicherer Gesetzgebung zur Sterbehilfe aus der Elite erschallt und nicht von unten, aus der Masse heraus.
Die unheilbar an einem Gehirntumor erkrankte 29jährige Amerikanerin Brittany Maynard, die sich nach vorheriger Ankündigung auf Facebook jüngst am 1. November mit einer tödlichen Medikamentendosis das Leben nahm, erfuhr viel Lob für ihre mutige Entscheidung.
Maynards traurige Geschichte berührt sehr. Es ist unmöglich, keine Sympathie für diese junge Frau zu empfinden. Ich bezweifle allerdings, ob ihre Entscheidung wirklich so mutig war. Sie hatte sich wohl aus Angst vor dem, was noch kommen würde, für die Sterbehilfe entschieden. Es ist aber vielleicht mutiger, sich dem zu stellen, was das Leben uns bereitet.
„Ich finde es gruselig und schaurig, dass so viele Menschen klaglos Maynards kommenden Tod akzeptiert hatten.“
Verurteilen Sie Maynards Beschluss?
Nein, gewiss nicht. Sie stand vor einem grässlichen Dilemma. Ich kritisiere allerdings sehr wohl die massenhaften öffentlichen Unterstützungsbekundungen. Dabei muss ich immer an das Bild des depressiven Mannes denken, der auf einem Hochhaus steht, während die Menge unten ruft: „Spring! Spring!“. Ich glaube zwar nicht, dass Maynard in so extremer Form zu ihrem Schritt ermutig wurde, aber sie dürfte einigen Druck verspürt haben, um ihn an dem von ihr gewählten Tag auch zu vollziehen.
Mir scheint, dass wir unsere eigenen Ängste über die letzte Phase unseres Lebens auf Menschen in so misslichen Situationen wie Maynard projizieren. Dann entsteht Stellvertreter-Trauer. Man erklärt dieser jungen Frau seine Unterstützung, weil man davon ausgeht, dass man sich selbst in einer solchen Situation ebenfalls für den Tod entscheiden würde. Ich finde es gruselig und schaurig, dass so viele Menschen klaglos Maynards kommenden Tod akzeptiert hatten.
Der ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter, der sich kürzlich selbst getötet hat, sprach vorher davon, dass er nicht als Pflegefall enden wollte, um den sich andere intensiv kümmern müssten. Ist es nicht selbstlos, um Euthanasie zu bitten, um anderen nicht zur Last zu fallen?
Fast jeder Selbstmord dürfte damit zu tun haben. Ich kannte Herrn Reiter nicht und kann daher seinen Fall nicht beurteilen, aber viele Selbstmörder äußern Dinge wie „Die Welt ist ohne mich besser dran.“ Das rührt meist eher aus Selbstmitleid denn aus echter Selbstlosigkeit. Es gibt wahrhaft selbstlose Selbstmorde – ein englisches Beispiel dafür wäre Captain Oates –, aber kaum jemand fände es richtig, kranken Senioren zum Tod zu verhelfen, weil, wie wir wissen, in den letzten beiden Lebensjahren eines Menschen mehr Gesundheitskosten entstehen als in der ganzen Zeit davor. Dafür respektieren wir menschliches Leben zu sehr.
Wenn die Motivation, ein Leben zu nehmen, um Geld zu sparen, unmoralisch ist, kann es dann eine Rolle spielen, wer den Finger am Abzug hat? Die Kostendiskussion ist in anderer Hinsicht eine gefährliche: Sie impliziert, dass wir Gesundheitsleistungen rationieren sollten, statt sie allen zukommen zu lassen, die ihrer bedürfen. Gerade für Behinderte und Menschen mit Erbkrankheiten hätte das immense negative Auswirkungen. Das wäre die logische Folge dieser „Selbstlosigkeit“.
„Wenn man nicht mehr sagen darf, dass der Tod etwas Schlechtes ist, was darf man dann überhaupt noch sagen?“
Warum sind Sie als Dozent für amerikanische Geschichte so engagiert beim Thema Sterbehilfe?
Ich meine, dass unsere Gesellschaft ein ernsthaftes Problem mit Moral hat. Wir wissen nicht mehr, was gut oder schlecht ist, und trauen uns kein Urteil mehr zu. Unsere Haltung zum Selbstmord – und darum geht es ja letztlich – dient dafür als guter Indikator. Man neigt heutzutage dazu, keine Meinung zu haben oder andere zurechtzuweisen, die sich äußern, z.B.: „Wie kommst du überhaupt dazu, den Selbstmord von Robin Williams zu verurteilen?“ Wenn wir uns hierüber kein moralisches Urteil mehr bilden dürfen, finde ich das sehr problematisch. Ein Urteil zu fällen, ist doch gerade ein Ausdruck dessen, dass man den anderen respektiert und sich für ihn interessiert. Ein Selbstmord hinterlässt Menschen in Trauer und Unverständnis. Das reicht schon, um Selbstmord grundsätzlich abzulehnen. Wenn man nicht mehr sagen darf, dass der Tod etwas Schlechtes ist, was darf man dann überhaupt noch sagen?
Dem heutigen zynischen Menschenbild widerspreche ich, wo es fast unwidersprochen als akzeptabel gilt, dass wir Menschen das Leben nehmen, wenn es weniger Wert hat. Wir gehören alle zueinander und es sollte uns nicht egal sein, ob jemand lebt oder tot ist. Ich möchte die Debatte über Sterbehilfe führen, weil ich auf Menschen etwas gebe, weil ich Humanist bin. Ein Humanist sollte heutzutage nicht für das Recht auf Sterben kämpfen, sondern für das Recht auf Leben. Menschen sind das Beste, was auf diesem Planet herumläuft. Das sollte möglichst so bleiben.