17.09.2025
Der blaue Himmel über der Ruhr
Wo der Verfall in NRW am sichtbarsten ist, hat die AfD bei der Kommunalwahl am Sonntag am besten abgeschnitten. Auch Migranten sind unzufrieden.
„Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“, forderte Willy Brandt 1961. Damals hatte er freilich keine Parteifarbe im Sinn. Jahrzehnte später sind das Ruhrgebiet und andere Teile Nordrhein-Westfalens so massiv deindustrialisiert, dass schon alleine deshalb keine Abgase mehr den Blick nach oben versperren. Kohle, Stahl, Textil, selbst das Dortmunder Bier – alles fort. Von abgehängten bzw. „ruinierten westdeutschen Randgebieten“ sprach der Satiriker Martin Sonneborn bereits in den frühen Jahren seiner PARTEI.
Als Sinnbild des Niedergangs fungiert seit langem Gelsenkirchen, einst die „Stadt der 1000 Feuer“, heute bundesweit an der Spitze bei der Arbeitslosigkeit. Schon 2004 präsentierten der örtliche Oberbürgermeister und NRWs Vize-Ministerpräsident besonders herausragende Ecken der Ruhrpott-Großstadt dem Bundesverkehrsminister. Manfred Stolpe (SPD), damals für den Aufbau Ost zuständig, musste eingestehen: „Gelsenkirchen hat es schwerer als Cottbus“.
Bei solchen Feststellungen ist es geblieben, anderes hat sich gewandelt, so etwa die Bevölkerungszusammensetzung durch den Zuzug nicht nur von Asylmigranten, sondern auch von gewissen bulgarischen und rumänischen Armutsmigranten, die sich als EU-Bürger umstandslos niederlassen können – „Zigeuner“ darf man sie ja nicht nennen. Und so war das Bild von Gelsenkirchen, das die in Albanien geborene AfD-Landtagsabgeordnete Enxhi Seli-Zacharias ihrer Parteichefin Alice Weidel bei einer Wahlkampftour präsentierte, dazu angetan, die ansonsten gute Laune der blauen Bundespolitikerin an diesem Tag ordentlich zu vermiesen. Weidel sprach von der „Verslummung ganzer Stadtteile“.
Und genau in diesem ‚Shithole‘ konnte ihre Partei bei den Kommunalwahlen am Sonntag mit fast 30 Prozent ihr bestes Ergebnis erzielen – als zweitstärkste Kraft mit nur einen Hauch Abstand auf die SPD. Der AfD-Kandidat hat es in die Stichwahl der beiden Bestplatzierten um den Posten des Oberbürgermeisters geschafft. „Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen“, wie Georg Kreisler vor ewigen Jahrzehnten – in glorreicheren Ruhrpott-Zeiten – sang? „Seit Rumänen und Bulgaren [die mit „Z“, siehe oben] die Türken verdrängen, wird Duisburg-Marxloh zunehmend zum Synonym für Armut und Kriminalität“, schrieb die Welt vor Jahren. In Duisburg – und in Hagen – stehen ebenfalls blaue Kandidaten in der Stichwahl. Und Verhältnisse wie dort holen früher oder später auch andere Orte ein. Die derzeitige Deindustrialisierung vollzieht anderswo vermutlich nach, was an Rhein und Ruhr schon zur Geschichte geronnen ist.
„Wo Verwahrlosung herrscht, wählt man häufiger AfD, wo Wohlstandsverwahrlosung herrscht, die Grünen.“
Die AfD hat ihr kommunales Landesergebnis gegenüber dem eher schwachen von 2020 beinahe verdreifacht – auf fast 15 Prozent. Das bemisst sich an ihrem Abschneiden auf Ebene der über 50 Kreise und kreisfreien Städte; hinzu kommt, dass die Partei bei ihren Kandidaturen eine größere Zahl der 373 kreisangehörigen Städten und Gemeinden in NRW abgedeckt hatte als vor fünf Jahren und teils auch dort beachtliche Zuwächse bei den Resultaten verbuchen konnte. War das bevölkerungsreichste Bundesland aus Sicht der Blauen bisher wohl eher ein schlafender Riese, bricht sich auch im Westen der Unmut zunehmend seine populistische Bahn. Bei Versuchen mancher Kommentatoren, die AfD zur ostdeutschen Regionalpartei zu degradieren, war schon immer der Wunsch Vater des Gedankens.
Umgekehrt hat die SPD weiter verloren. Zwar war die Partei in NRW kommunal nie so stark wie lange auf Landesebene, wo sie zu Zeiten eines Landesvaters Johannes Rau als beinahe so mit dem Bundesland verwachsen galt wie die CSU in Bayern, aber 22 Prozent sind ein historischer Tiefststand. Schon als sich 2005 Jürgen Rüttgers (CDU) nach der gewonnen Landtagswahl zum NRW-Arbeiterführer aufschwang und zeitgleich das PDS/WASG-Bündnis entstand, spottete der Kabarettist Richard Rogler, Deutschland brauche zwar eine sozialdemokratische Partei, aber es müsse nicht unbedingt die SPD sein. Mittlerweile haben die Sozen Arbeitern nichts mehr zu bieten, und konkurrieren nur noch mit den Grünen um die Stimmen irgendwelcher Lehrer. Apropos Grüne: Die sind nach ihrem Höhenflug von 2020 unsanft gelandet und mussten ein Drittel ihrer Stimmen abgeben. Ihrer kulturellen Hegemonie dürfte das vorerst leider keinen Abbruch tun. Die Wahl-„Gewinnerin" CDU schnitt wie die SPD schlechter denn je ab. Und die pseudoliberale FDP nähert sich weiter der Bedeutungslosigkeit; dank fehlender Fünfprozenthürde darf sie jedoch in vielen kommunalen Volksvertretungen bleiben.
Im Ruhrgebiet – und so mancher Malocherstadt anderswo im Lande – schneidet die AfD besser ab als im Landesschnitt, aber auch die Grünen haben sich Hochburgen bewahren können, z.B. Münster, wo die AfD klein bleibt. Schaut man sich die Ergebnisse an, könnte man zu dem Schluss kommen: Wo Verwahrlosung herrscht, wählt man häufiger AfD, wo Wohlstandsverwahrlosung herrscht, die Grünen. Im „buntesten Stadtbezirks Kölns“, wie ihn ein Grüner nennt, Chorweiler, wird eher blau angekreuzt als in Late-Macchiato-Vierteln der Rhein-Metropole.
„Zuweilen tendieren die Nicht- und Neubürger eher zur AfD als der klassische deutsche Michel – der mit der Schlafmütze.“
In diesem Zusammenhang tritt noch ein anderes interessantes Phänomen zu Tage. In NRW wurden als Teil der Kommunalwahlen auch die Integrationsräte neu bestimmt. Wahlberechtigt zu diesen Nachfolgern der Ausländerbeiräte sind nur Ausländer, Migrantenkinder mit deutscher Staatsbürgerschaft und Eingebürgerte. Die entsprechenden Listen gehören nur teilweise zu Parteien oder stehen ihnen (offen) nah; es gehört keineswegs zum Standard, dass (alle) Ratsparteien dort kandidieren. Hier und da trat auch die AfD mit solchen Listen an. Und siehe da: Mitunter recht erfolgreich. In Paderborn und Gummersbach gewannen die Blauen sogar die Integrationswahl, auch z.B. in Köln, Bochum oder Troisdorf erlangten sie dort einen höheren Stimmenanteil als bei der Stadtratswahl. Zuweilen tendieren also die Nicht- und Neubürger eher zur AfD als der klassische deutsche Michel – der mit der Schlafmütze.
Und der Erfolg der AfD in vielen Städten mit hohem Migrantenanteil hat auch mit dem Wahlverhalten einiger dieser Einwanderer bzw. ihrer Nachfahren selbst zu tun. Woran könnte das liegen? Sicherlich an der geringeren Parteibindung. Manche Einheimische pflegen – teils ererbte – Parteibindungen, da macht man das Kreuzchen bei der SPD und insbesondere bei der CDU, bis die Geräte abgeschaltet werden. Das gilt für Migranten weniger. Hinzu kommt eine stärkere materielle Orientierung bei Zuwanderern; sie stellen sich eher die Frage, ob eine Fabrik zumacht, als die, ob ein veganes Restaurant aufmacht. Noch dazu haben Migranten im Schnitt mehr Kinder und bewohnen überproportional Problemviertel, da fallen Defizite bei der Bildung und bei der Sicherheit im öffentlichen Raum eher auf. Und so klischeehaft es klingen mag: Wer in der Dönerbude arbeitet, nimmt die Realität anders wahr als jemand, der zwischen Amtsstube und Home Office pendelt.
Möglicherweise macht der Realitätssinn den Unterschied: Die Deutschen – vielleicht auch solche im Gelsenkirchener Rathaus – herrschen „im Luftreich des Traums“, wie es Heinrich Heine formulierte. Und der stammte bekanntlich aus der Hauptstadt des heutigen NRW, aus Düsseldorf. Da wohnen viele Landesbedienstete, da haben die Grünen kaum Prozente eingebüßt. Aber die Unzufriedenen sitzen ihnen auch in der Altbiermetropole im Nacken, die AfD hat aufgeholt.