06.12.2021
Demokratie ohne Volk (1/3)
Von Alexander Horn
Im Kampf gegen Hass und Hetze geht es nicht um die Bewahrung von Demokratie und Meinungsfreiheit. Er ist ein Angriff auf die Bürger, denen fehlende Vernunft und moralische Defizite unterstellt werden.
Der Sturm von etwa 800 Trump-Anhängern auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 wurde hierzulande mit großer Empörung aufgenommen. Völlig zu Recht, denn er richtete sich gegen die Idee der Demokratie und ihre Regeln und zielte darauf, den von der Mehrheit der Wähler gewünschten friedlichen Machtübergang zu blockieren.
Regierungspolitiker wie auch Repräsentanten des deutschen Staats nutzten die Gelegenheit, um zu behaupten, die Ereignisse seien eine gefährliche Bestätigung ihrer jahrelangen Warnungen vor aufkommendem Populismus. Dieser bringe „Hass und Hetze“ mit sich und zerstöre die Demokratie. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach von einem „Sturm auf das Herz der Demokratie“, durchgeführt von einem „vom amtierenden Präsidenten aufgestachelten […] Mob“. Er zog Parallelen zu den Vorfällen am Berliner Reichstag im August 2020, als Kritiker der Corona-Maßnahmen vor dem Eingang des Bundestags Fahnen geschwenkt haben, und leitete daraus seine Botschaft ab: „Hass und Hetze gefährden die Demokratie, Lügen gefährden die Demokratie, Gewalt gefährdet die Demokratie.“ Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wie auch Außenminister Heiko Maas (SPD) sahen die Ereignisse als zwangsläufige Folge dessen, was passiere, „wenn Populisten Macht bekommen“. Man sehe, dass die Demokratie sterbe, „wenn rohe Gewalt den anderen mundtot macht, wenn blanker Hass alle Grenzen von Anstand und Respekt sprengt.“ 1
Meinungsführer in der Krise
Seit den heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen im Zuge der Euro-Rettungspolitik 2012 und der Flüchtlingskrise 2015 ist Populismus in Deutschland gefürchtet. Die Brexit-Entscheidung der britischen Wähler am 23. Juni 2016 und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten am 8. November 2016 haben in den Augen des Establishments und für viele unerwartet das Potenzial populistischer Strömungen offenbart. Sie haben gezeigt, dass die Wähler gegenüber Auffassungen abseits des politischen Mainstreams nicht immun sind.
In Deutschland ergoss sich über Jahre ein regelrechter Shitstorm über die 17,4 Millionen britischen Wähler, die für den Austritt aus der EU votiert hatten. Uninformiert, nationalistisch, immigrationsfeindlich, rassistisch und einfach dumm waren die Attribute, die ihnen hierzulande von Politik und Medien zugeschrieben wurden. Klaus-Dieter Frankenberger schrieb in der F.A.Z.: „Der neue ‚Tag der Unabhängigkeit‘, den die EU-Gegner großspurig angepriesen haben, [...] wird vielleicht als Tag des größten Irrtums Britanniens in die Geschichte eingehen, der Tag, an dem Hass und Unwahrheit den gesunden Menschenverstand verdrängt haben.“ 2 Das unbequeme Resultat hat bei den etablierten Parteien in Deutschland eine große Angst vor der Zurückweisung durch die Wähler erzeugt, eine Demokratie-Panik ist entstanden.
„Das unbequeme Brexit-Resultat hat bei den etablierten Parteien in Deutschland eine große Angst vor der Zurückweisung durch die Wähler erzeugt, eine Demokratie-Panik ist entstanden.“
Um Entwicklungen wie in Großbritannien oder in den USA zu verhindern, rüstet die Bundesregierung seit Jahren sowohl verbal als auch mit Hilfe gesetzlicher Maßnahmen auf. Nachdem in wenigen Jahren drei umfangreiche Gesetzespakete zur Bekämpfung von „Hass und Hetze“ verabschiedet wurden, ist nun ein „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ auf dem Weg. SPD-Kanzlerkandidat Scholz preist es als antirassistisches „Bollwerk“. Der Titel des Gesetzes wurde offenbar mit Bedacht gewählt, denn er zielt darauf ab, ein wichtiges Grundmerkmal der Demokratie in Deutschland zu bekräftigen.
Das Konzept der „Wehrhaften Demokratie“ geht auf den deutsch-jüdischen Verfassungsrechtler Karl Löwenstein zurück. Er argumentierte, der Aufstieg der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik hätte verhindert werden können, wenn man damals weniger Achtung vor demokratischen Rechten gehabt hätte. In einem 1937 veröffentlichten Beitrag schrieb er: „Die mangelnde Militanz der Weimarer Republik gegen subversive Bewegungen, auch gegen solche, die eindeutig als subversiv verstanden werden, bildet im Nachkriegsdilemma der Demokratie Beispiel wie Warnung […]. Es muss offen gesagt werden, dass der Nationalsozialismus von der katastrophalen Erfahrung der Weimarer Republik zu profitieren wusste. Das Einparteiensystem war die logische Antwort auf die demokratische Toleranz der zerstörten Republik.“ 3 Wie der britische Publizist Daniel Ben-Ami erklärt, hat dieses Prinzip, demzufolge „die Öffentlichkeit vor der Artikulation bestimmter Ansichten abgeschirmt werden muss“, in Deutschland seine weltweit „höchste institutionelle Form“ erhalten. 4
Hass und Hetze
Die Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Populismus wird in Deutschland kaum über inhaltliche politische Debatten geführt, sondern vor allem über den Kampf gegen „Hass und Hetze“ ausgetragen. So gelingt es, rechtspopulistische Strömungen unter Druck zu setzen, indem man ihnen vorwirft, antisemitische, rassistische sowie andere Hassbotschaften zu verbreiten oder zu tolerieren. Der von Populisten ausgehende Hass vergifte den öffentlichen Meinungsaustausch, spalte die Gesellschaft und gefährde Demokratie und Meinungsfreiheit.
Regierungspolitiker wiederholen diese Argumentationslinie gebetsmühlenartig, so auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), als sie im letzten Jahr für die Novellierung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) warb. Im Bundestag rechtfertigte sie Verschärfungen damit, dass „Hass und Hetze im Internet […] eine ganz große Gefahr für unsere Demokratie, für die Meinungsfreiheit“ sei, denn „Menschen fühlen sich eingeschüchtert, Menschen sollen mundtot gemacht werden, mischen sich nicht mehr ein in politische, gesellschaftspolitische Diskussionen“ – eine „ganz schlimme Entwicklung“, der man entgegentreten müsse. 5
„Die Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Populismus wird in Deutschland kaum über inhaltliche politische Debatten geführt, sondern vor allem über den Kampf gegen ‚Hass und Hetze‘ ausgetragen.“
Die Thematisierung von „Hass und Hetze“ hat jedoch eine tiefere Ursache. Vordergründig werden zwar diejenigen angegriffen, die bestimmte Botschaften senden. Tatsächlich geht es jedoch vor allem um die Empfänger, also die große Masse der Menschen, von denen man nicht etwa nur vermutet, sondern zu wissen glaubt, dass sie für dumpfe Parolen empfänglich sind. Es ist eine Mischung aus diffuser Angst vor der Masse und gezielter Abwertung der Moralität und der Fähigkeiten einfacher Menschen, die den weit verbreiteten Alarmismus gegenüber „Hass und Hetze“ heraufbeschworen hat.
So ist die Bekämpfung von „Hass und Hetze“ im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 zu einer hohen Priorität staatlicher Institutionen geworden. Hasskriminalität habe seitdem deutlich zugenommen, warnte schon damals der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA) Holger Münch, als im Juli 2016 erstmals eine bundesweite Polizei-Razzia gegen die Verbreitung von Hasskommentaren im Internet durchgeführt wurde. 6 Die damalige Aktion gegen „Hass und Hetze im Internet“ erfolgte wegen der Verbreitung fremdenfeindlicher, antisemitischer und sonstiger rechtsextremer Inhalte. Bereits im Dezember 2015 war eine Bund-Länder Projektgruppe „Bekämpfung von Hasspostings“ eingerichtet worden.
Maas, damals Justizminister, agierte als wichtiger Antreiber im Vorgehen gegen „Hass und Hetze“. Unter seiner Federführung entstand das NetzDG, das am 1. September 2017 in Kraft trat. Es zielte nach offizieller Begründung darauf ab, das bis dahin als zu schwach empfundene Vorgehen von Facebook und Co. gegenüber Hasskommentaren zu unterbinden und insbesondere „Hasskriminalität […] auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer zu bekämpfen“. 7 Indem man sie dazu zwang, Inhalte zu bewerten und zu löschen oder zu sperren, die gemäß dem deutschen Strafgesetzbuch rechtswidrig sein könnten, wurden private Plattformbetreiber dazu verpflichtet, die Kommunikation der Bürger im digitalen Raum zu begrenzen. 8
Das Gesetz beinhaltet keine Strafandrohung für die Nutzer, sondern ausschließlich für die Plattformbetreiber, die diesen ein Podium bieten. Die Plattformbetreiber können faktisch wegen Beihilfe zur Hasskriminalität bestraft werden und zwar auch dann, wenn der Täter nie vor einem ordentlichen Gericht angeklagt wird. So generiert das Gesetz eine unsichere Rechtslage. Dadurch entfaltet es gewollt – oder zumindest billigend in Kauf nehmend – eine deutlich größere Löschwirkung, als dies bei staatlicher Rechtsdurchsetzung gegenüber den Tätern der Fall wäre.
„Es ist eine Mischung aus diffuser Angst vor der Masse und gezielter Abwertung der Moralität und der Fähigkeiten einfacher Menschen, die den weit verbreiteten Alarmismus gegenüber ‚Hass und Hetze‘ heraufbeschworen hat.“
Formal ist die Bekämpfung von „Hass und Hetze“ darauf ausgerichtet, laut Strafgesetzbuch rechtswidrige Inhalte wie Volksverhetzung, Bedrohung, Beleidigung, Üble Nachrede, Verleumdung, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, Öffentliche Aufforderung zu Straftaten usw. zu unterdrücken. Praktisch besteht jedoch ein großer öffentlicher Druck auf die Plattformbetreiber gegen „Hassrede“ jeder Art vorzugehen. Als privatwirtschaftliche Unternehmen verfolgen sie ohnehin eigene Interessen und passen sich an gesellschaftliche Trends und staatlichem Druck in einer Weise an, die ihnen eine bestmögliche Rendite verspricht. Ihre selbsterstellten Regeln erlauben es ihnen, weit über das gesetzlich erforderliche Maß zu sperren und blockieren. Wegen der immer dominierenderen gesellschaftlichen Auffassung, wonach „Hass und Hetze“ aus der subjektiven Perspektive Betroffener zu beurteilen sei, und nicht die härteren objektiven Kriterien des Rechts angewendet werden, tendieren sie dazu, nicht nur schwer ertragbare rechtsextreme, rassistische oder antisemitische Inhalte eher zu löschen.
Die Sperrung des Twitter-Accounts des bereits abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, dem wegen des Sturms auf das Kapitol „Anstiftung zur Gewalt“ 9 vorgeworfen wurde, ging auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu weit. Im Hinblick auf die elementare Bedeutung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit betrachte sie die Sperrung als problematisch, ließ sie über Regierungssprecher Steffen Seibert verkünden. 10
Die umfangreichen Gesetzgebungsverfahren gegen „Hass und Hetze“ sollen zwar in einigen Punkten eine konsequentere und härtere staatliche Strafverfolgung der Täter ermöglichen. Der Fokus liegt jedoch eindeutig in der Unterdrückung derartiger Äußerungen. Es geht also weniger um die Täter oder um diejenigen, deren Botschaften ohnehin oft vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind, sondern um den schädlichen Effekt, den ihre Äußerungen in der sonstigen Bevölkerung haben. Das Ziel ist es, diesen Teil der Gesellschaft weitestmöglich von dem Gedankengut der Täter abzuschirmen und zu schützen. Denn „durch Hass [und] Lüge“, so Regierungssprecher Seifert, werde die „politische Kommunikation vergiftet“. 11
„Im Zweifel sollen auch solche Postings, die durch die Meinungsfreiheit gedeckt wären, schnellstmöglich von den Plattformbetreibern in Eigenregie gelöscht oder blockiert werden.“
Im NetzDG zeigt sich diese Orientierung in aller Klarheit. Im Zweifel sollen auch solche Postings, die durch die Meinungsfreiheit gedeckt wären, schnellstmöglich von den Plattformbetreibern in Eigenregie gelöscht oder blockiert werden. Damit wird sogar in Kauf genommen, dass den Strafverfolgungsbehörden strafrechtlich relevante Inhalte, die zur Verfolgung der Täter führen könnten, verborgen bleiben. Erst mit der geplanten Novelle des NetzDG wird überhaupt beabsichtigt, in bestimmten Fällen die Strafverfolgung aufgrund von Hinweisen der Plattformbetreiber einzuleiten.
Zweifel am Bürger
Auch das „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ beabsichtigt in erster Linie, die Bürger vor den negativen Einflüssen von „Hass und Hetze“ zu bewahren. Zudem sollen sie durch Aufklärungs- und Bildungskampagnen dafür weniger anfällig werden. Ziel sei es, ein „stärkeres Bewusstsein für Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen“ zu schaffen, die „politische Bildung und Demokratiearbeit“ voranzutreiben und in der Bevölkerung die „Anerkennung und Wertschätzung einer vielfältigen und chancengerechten Gesellschaft“ zu bewirken. 12 Es gehe darum „Menschenfeindlichkeit von vornherein den Nährboden“ zu entziehen und zu verhindern, dass die Corona-Krise von „Hetzern“ missbraucht werde, „um neue Wellen von Hass und Verschwörungstheorien zu verbreiten“, erklärt die Bundesjustizministerin. 13
Die enorme Dynamik, die dieser von staatlichen wie auch privaten Institutionen und Initiativen vorangetriebene Kampf gegen „Hass und Hetze“ in den letzten Jahren erreicht hat, speist sich aus der in weiten Teilen der Gesellschaft geteilten Befürchtung, dass die große Masse der Wähler moralisch nicht hinreichend gefestigt ist. Sie bildeten einen „Nährboden“, indem sie sich von dumpfen Parolen beeinflussen und verführen ließen. Ihnen wird kaum zugetraut, sich in einem Umfeld von Hass- und Hetzbotschaften, Falschnachrichten und Filterblasen eine eigene, unabhängige Meinung bilden zu können. Sie versinken vermeintlich in Echokammern, seien anfällig für Verschwörungstheorien, ließen sich mit Worten zu Taten hinreißen und quasi automatisch verschiebe sich daher das Meinungsklima in Richtung der Hetzer.
„Den Bürgern wird kaum zugetraut, sich in einem Umfeld von Hass- und Hetzbotschaften, Falschnachrichten und Filterblasen eine eigene, unabhängige Meinung bilden zu können.“
Obwohl sich „Hass und Hetze“ als Synonym für die mangelnde Demokratiefähigkeit des Bürgers etabliert hat, wird dieser gelegentlich sogar offen attackiert, indem man seine Moral und Vernunft direkt in Zweifel zieht. In dieser Absicht beschuldigten CDU-Präsidium und Bundesvorstand die Wähler der AfD nach dem Lübke-Mord, sie seien für derartige Morde und Gewalttaten verantwortlich. Denn mit ihrer Unterstützung würden sie „rechtsradikalen Hass und die Hetze, extreme Polarisierung und persönliche Diffamierungen in Kauf“ nehmen, die „letztlich zu Morddrohungen, Gewalttaten bis hin zum Mord“ führten. 14
Der Regierungsentwurf für das „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ läuft sogar darauf hinaus, die derart suspekten Bürger durch den Aufbau eines neuen sozialen Gefüges zu neutralisieren oder gar obsolet zu machen. Mit dem gesetzlich auf zunächst vier Jahre ausgelegten 1,1-Milliarden-Programm, so die SPD, gehe es darum, eine strukturell abgesicherte und dauerhafte Förderung von Initiativen sicherzustellen, die sich „gegen Nazis und für die Demokratie“ einsetzten. Derart gesetzlich abgesichert und langfristig finanziert, könnten die Initiativen nun Strukturen ausbauen und weiterentwickeln, die einer lebendigen, weltoffenen und bunten Zivilgesellschaft eine stabile Basis gäben, „quasi als Bollwerk gegen fremdenfeindliche und rassistische Umtriebe“, wie Scholz betont. 15 Die Idee, dass souveräne Bürger ihre Demokratie selbst gestalten, wird zugunsten eines institutionellen Gefüges aufgelöst, das man als Demokratie bezeichnet. Es ist eine Demokratie ohne Volk.