12.11.2020

Der Regierung fehlt eine Covid-Strategie

Von Sabine Beppler-Spahl

Weil ihnen eine klare Strategie im Umgang mit Corona fehlt, haben sich die Politiker entschlossen, die Bürger für ihre Versäumnisse verantwortlich zu machen, und ihnen Leichtsinn zu unterstellen.

Der November ist oft ein trüber Monat und der „Lockdown-light“, den uns unsere Regierung aufgezwungen hat, wird ihn nicht besser machen. Seit dem 2. November ist alles verboten, was die meisten Menschen mit Spaß verbinden: Restaurants, Kneipen, Theater, Kinos, Museen und Sportzentren sind geschlossen. Ferien außerhalb der eigenen Wohnung sind unerwünscht, und Hotels dürfen keine Unterkünfte für Urlauber mehr anbieten. Soziale Kontakte sind auf zwei Haushalte beschränkt. Selbst die Weihnachtsmärkte, ein Winterhighlight für Millionen, wurden gestrichen oder stehen auf der Kippe. Bleiben Sie zu Hause und verzichten Sie auf alles, was nicht zwingend notwendig ist, lautet die Botschaft der Kanzlerin.

Natürlich hat die Regierung Gründe für ihre neo-calvinistischen Maßnahmen: Die Covid-19 Infektionsraten sind sprunghaft angestiegen. In Berlin liegt die Zahl der Menschen, die innerhalb der letzten sieben Tage positiv getestet wurden, bei 188 pro 100.000 Einwohner (Stand 9. November 2020). Andere Gebiete weisen vergleichbare Zahlen auf. Sie liegen damit weit über dem Warnwert von 50 Infektionen pro 100.000, die die Regierung im Frühjahr noch festgelegt hatte. Die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind, ist auf über 10.000 angestiegen und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) warnt, dass die Intensivstationen bald überlastet sein könnten.

Es mag daher ungerecht erscheinen, von „calvinistischen“ Maßnahmen zu sprechen. Wer denkt schon an Spaß, wenn Menschen sterben? Doch, anders als im März, als der erste Lockdown verhängt wurde und die Regierung – scheinbar – traumhafte Zustimmungsraten erhielt, hat sich die Stimmung gewandelt. Zum ersten Mal seit das Virus auf der Bildfläche erschien, ergab eine repräsentative Studie, dass mehr Deutsche unzufrieden als zufrieden mit der Regierung sind.

„Anders als im März, als der erste Lockdown verhängt wurde und die Regierung – scheinbar – traumhafte Zustimmungsraten erhielt, hat sich die Stimmung gewandelt.“

Zwar wurde den von Schließungen betroffenen Unternehmen - wie im Frühjahr - erneut eine Entschädigung (für bis zu 75 Prozent ihrer Einkommensverluste) zugesagt. Trotzdem berichtet z.B. der Fokus von einer bevorstehenden Klagewelle gegen die Zwangsschließungen der Gaststätten. Auch manche Gemeinderäte haben der Kanzlerin, die die Maßnahmen als „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“ bezeichnete, offen widersprochen. Sie seien, im Gegenteil, unverhältnismäßig.

Wenn das Vertrauen in die Regierung erodiert, dann gibt es hierfür einen Grund: Ihr Stil und ihr Ton. Seit Wochen erhebt ein ganzer Chor von Regierungsvertretern und -beratern moralische Vorwürfe, die sich gegen die Öffentlichkeit richten. Die Menschen seien rücksichtslos oder leichtsinnig und deshalb stiegen die Infektionsraten, behaupten Politiker, Beamte und Wissenschaftler, die den Lockdown unterstützen. Leichtsinn müsse Konsequenzen haben, sagte auch Markus Söder, als im September in Garmisch-Partenkirchen ein Lockdown verhängt wurde.

Die Vorstellung, der Lockdown sei eine notwendige Strafe für uneinsichtige Bürger ist von vielen, einschließlich großer Teile der Presse, verbreitet worden. Immer wieder erscheinen Leserbriefe und Kommentare, in denen über „Regel-Verweigerer“ geschimpft wird. Einer der aufdringlichsten Verfechter harter Strafen ist Karl Lauterbach von der SPD. Zum Glück führte seine Forderung, künftig auch in privaten Wohnungen nach Covid-Verstößen zu forschen, zu massiver Kritik („Wir befinden uns in einer nationalen Notlage .... Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein“, hatte er im Oktober der Rheinischen Post gesagt).

„Seit Wochen erhebt ein ganzer Chor von Regierungsvertretern und -beratern moralische Vorwürfe, die sich gegen die Öffentlichkeit richten.“

Die steigenden Infektionsraten wären für jede Regierung ein Problem. Aber sie sind es vor allem für eine Regierung, die sich international als vorbildlich bei der Bekämpfung des Virus hat feiern lassen. Noch im Juni schrieb die Financial Times, dass Deutschland mit seinen umfangreichen Tests und frühzeitigen Rückverfolgungen ein Modellland sei. Im selben Monat lobte Lothar Wieler, Leiter des Robert-Koch-Instituts, Deutschlands gut funktionierenden „Bereitschafts- und Reaktionsplan”.

Hinter diesem rosigen Bild bahnte sich jedoch längst eine ganz andere Realität an. So stellte sich beispielsweise im August heraus, dass 44.000 Covid-Tests in Bayern nicht ordnungsgemäß bearbeitet worden waren. Warum? Weil die Landesregierung (des strafenden Landesvaters Söder) verordnet hatte, alle Urlaubsrückkehrer testen zu lassen – offensichtlich, ohne die Kapazitäten der Labore und Gesundheitsämter zu berücksichtigen. Die Folge war, dass mindestens 900 Personen mit einem positiven Test tage- und wochenlang nicht informiert werden konnten.

Auch in Berlin gibt es seit Monaten Berichte über Gesundheitsämter, die den Anweisungen der Regierungen nicht mehr nachkommen können. Im Oktober forderten mehrere Amtsärzte eine Umsteuerung in der offiziellen Covid-Strategie: Weg von wahllosen Tests und der Rückverfolgung aller Kontakte und hin zu mehr Eigenverantwortung der Bürger sowie einer stärkeren Konzentration auf Risikogruppen.

Covid, so heißt es oft, habe die Ära des starken Staates eingeläutet. Zunehmend wird jedoch deutlich, dass das Virus nicht durch bürokratische Anweisungen und selbstgefälliges Getue unter Kontrolle gebracht werden kann.

„Zunehmend wird deutlich, dass das Virus nicht durch bürokratische Anweisungen und selbstgefälliges Getue unter Kontrolle gebracht werden kann.“

Merkels Corona-Politik sei „ignorant und arrogant“, urteilt DW-Redakteur Marcel Fürstenau. Zu Recht weist er darauf hin, dass alle Maßnahmen bisher hinter verschlossenen Türen ausgearbeitet wurden – von einer sehr kleinen Gruppe in der Regierung. Deshalb ist es gut, dass nun auch immer mehr Gegenstimmen zu hören sind – im Parlament, wo sich die Kanzlerin zum ersten Mal seit vielen Wochen öffentlich rechtfertigen musste, sowie aus der Wissenschaft und Medizin. So legte z.B. die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ein Papier vor, das in Zusammenarbeit mit zwei führenden Virologen (Hendrik Streek und Jonas Schmidt-Chanasit) verfasst worden war. Der Lockdown sei weder zielführend noch umsetzbar, so die dort vertretene Meinung. Vorgeschlagen wird stattdessen auch hier eine zielgerichtetere Strategie zum Schutz von Risikogruppen.

Die große Mehrheit der Menschen hat immer wieder gezeigt, dass sie bereit ist, Opfer zu bringen, wenn es hilft, Leben zu retten. Millionen haben auch während des Lockdowns hart gearbeitet und werden es auch weiterhin tun (ein Grund, warum viele Vertreter der deutschen Industrie die Maßnahmen der Regierung unterstützen). Die meisten sind vorsichtig und waren es auch während der „infektionsfreieren“ Sommermonate. Doch bis heute hat die Regierung keine klare und konsistente langfristige Strategie vorgelegt, die zeigt, wie sie mit dieser Herausforderung umzugehen gedenkt. Stattdessen wurde den Menschen weisgemacht, dass das Virus unter Kontrolle gehalten werden könne, bis eine Impfung gefunden sei. Das ist nicht ehrlich. Und auch wenn es nun hoffentlich bald eine Impfung geben wird, wird es noch viele Monate dauern, bis das Virus besiegt ist.

Um sich dem öffentlichen Druck zu entziehen und von ihren eigenen Fehlern abzulenken, haben die Verantwortlichen die Schuld bei den normalen Bürgern gesucht, denen sie vorwerfen, die Regeln nicht ausreichend eingehalten zu haben. Das ist nicht nur unfair – es ist auch zutiefst spaltend. Es ist eine sehr gute Sache, dass die Politik der Regierung zunehmend unter Druck gerät.

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