02.09.2024

Canceln nicht mit Canceln vergelten

Von Andrea Seaman

Titelbild

Foto: Martin Abegglen via Flickr / CC BY-SA 2.0

In der Schweiz fordert die rechte SVP, dass eine Linke wegen eines polizeifeindlichen Ohrrings ihre Kandidatur zurückziehen soll. In einer Demokratie sollten darüber aber die Wähler befinden dürfen.

Im Schweizer Kanton Aargau werden im Oktober fünf Personen in den Regierungsrat gewählt. Eine Kandidatin der Jungsozialisten, Melanie Del Fabro, 19 Jahre alt, bezeichnet sich als nicht-binär und sorgte für einen Skandal. In einer lokalen Fernsehsendung trug sie Ohrringe mit der Zahl „1312“. Diese Zahl ist ein Code für „All Cops are Bastards" (Alle Polizisten sind Bastarde).

Die konservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die größte Partei der Schweiz, nahm Anstoß an den Ohrringen. In einer Erklärung der SVP-Fraktion im Parlament des Kantons Aargau wurde die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) aufgefordert, sich von Del Fabro zu distanzieren. Del Fabro solle ihre Kandidatur zurückziehen. SVP-Nationalrätin Nicole Heggli-Broder sagte: „Wer die Polizei angreift, greift den Staat an. Dass eine Person mit so einem Gedankengut im Regierungsrat Einsitz nehmen will, erachten wir als gefährlich.“

Zu ihrer Verteidigung meinte Del Fabro: „Für mich ist das [1312] eine grundlegende Kritik an der Polizei“ und dass die zur Schau getragene Zahl „Kritik an der Institution üben soll, an ihrer Ausrichtung und an dem, was sie tut“. Sie behauptete ferner, dass die Forderungen der SVP wahrscheinlich auf die Machenschaften von zwei ihrer Mitglieder zurückzuführen seien, nämlich Ramon Hug und Vivienne Huber, denen Del Fabro vorwarf, die Aufmerksamkeit von sich selbst ablenken zu wollen. Huber und Hug gehören der SVP-Jugend des Kantons Aargau an und sind erbitterte Feinde der Jungsozialisten wie Del Fabro.

Vivienne Huber erregte kürzlich öffentliche Aufmerksamkeit, als sie Pride Festivals als eine Art Parasiten bezeichnete. Hug ist Präsident der Jungen SVP im Kanton Aargau und wurde beschuldigt, mit der rassistischen Jugendbewegung Junge Tat zu sympathisieren – einer kleinen Gruppe von etwa einem Dutzend mental beeinträchtigter Jugendlicher. Tatsächlich forderte Del Fabro im März dieses Jahres die SVP auf, Hug von seinem Posten zu entfernen, weil er Verschwörungstheorien über einen „Bevölkerungsaustausch“ verbreite und angeblich eine Art Faschist sei.

„Von beiden Seiten wird eine tiefere Dimension der Heuchelei an den Tag gelegt.“

Es ist zwar ironisch, dass Del Fabro nun einen Vorgeschmack auf die Cancel Culture bekommen hat, der sie sich so gerne hingibt. Aber der eigentliche Skandal sind nicht die Ohrringe, die diese junge aufstrebende Politikerin trägt. Er liegt vielmehr in einer tieferen Dimension der Heuchelei, die von beiden Seiten an den Tag gelegt wird. Del Fabro mag Hugs Verschwörungstheorien nicht, aber sie verbreitet ihre eigenen. Ihre ganze Kritik an der Polizei stützt sich darauf, dass sie irgendwie aus Bastarden bestehe, die von Natur aus böse seien. Und der Staat unternehme nichts, um die Bastarde daran zu hindern, böse zu sein.

Und weil in diesem Jahr in der Schweiz mehrere Menschen durch Unwetter ums Leben gekommen sind, meint Del Fabro, man müsse gegen die finstere Kabale vorgehen, die diese Todesfälle verursacht hat. Getrieben von Profit- und Machtgier heizen „der Schweizer Staat, Rohstoffkonzerne, Banken, Rückversicherungen und Zementkonzerne [...] die Klimakrise weiter an und sind für Millionen von Klimatoten weltweit verantwortlich“, behauptet sie.

Die größere Schande ist jedoch Nicole Heggli-Boder, weil sie nicht nur mit zweierlei Mass misst, sondern auch eine Kandidatur bei einer allgemeinen Wahl verhindern will. Sie kritisiert Del Fabro, weil diese den Staat angreift. Auf der Website von Heggli-Boder liest man jedoch, dass eine ihrer politischen Positionen lautet: „In letzter Zeit werden wir mehr und mehr vom Staat bevormundet". Und sie folgert: „Dieser Tendenz muss vehement entgegengehalten werden." Wenn der Staat die Bürger bevormundet und deshalb bekämpft werden muss, dann greift Heggli-Boder auch den Staat an – wie Del Fabro. Sollte Heggli-Boder nun zurücktreten?

„So abstoßend Del Fabros Ansichten auch sein mögen, sie sollte kandidieren dürfen.“

Was hat die SVP, die sich sonst so rühmt, die schweizerische Demokratie zu respektieren, vergessen? Sie hat vergessen, dass die Aargauer diejenigen wählen sollen, die sie regieren. Die Forderung der SVP, den Aargauern die Freiheit zu nehmen, Del Fabro als ihre Vertreterin in die Regierung zu wählen, ist ein Skandal. Solche törichten und autoritären Forderungen der SVP sind viel schlimmer als jede Meinung von Del Fabro.

So abstoßend Del Fabros Ansichten auch sein mögen, sie sollte kandidieren dürfen. Und wenn die SP wirklich glaubt, dass alle Polizisten Bastarde sind, sollte sie nicht unter Druck gesetzt werden, sich von dieser Ansicht zu distanzieren, sondern vielmehr ermutigt werden, sie energischer zu vertreten. Es ist für alle von Vorteil zu wissen, wo Parteien und ihre Kandidaten in politischen Fragen stehen; diese Transparenz sollte gefördert werden.

Del Fabro sollte daher an mehr Debatten vor und nach den Wahlen teilnehmen, damit die Öffentlichkeit sie beurteilen kann. Dies kann nicht in dieser Form geschehen, wenn sie gezwungen wird, sich aus dem Rennen zurückzuziehen.

Wenn die SP den Slogan „Alle Polizisten sind Bastarde“ verteidigt, wird die SVP dann argumentieren, dass die SP verboten werden sollte? Das wäre genauso absurd wie ein Verbot der AfD, das die SVP-Spitze ablehnt. Mit einem Verbot des politischen Gegners gewinnt man vielleicht eine Wahl, aber nicht die Herzen vernünftiger und anständiger Menschen. Gerade die SVP, die seit langem die staatliche Zensur und die Maßnahmen während der Covid-Zeit kritisiert und selbst oft Ziel von Cancel Culture und Zensur war, sollte inzwischen gelernt haben, dass zweimal falsch nicht einmal richtig ergibt.

Nur weil Leute wie Del Favro andere Politiker wie Hug canceln wollen, muss die SVP nicht dasselbe tun, wenn es ihr in den Kram passt. Ich fordere nicht den Rücktritt von Nicole Heggli-Boder, aber ich erkläre hiermit, dass ich sie nie wählen würde, weil sie die Wähler als solche nicht respektiert.

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