18.10.2022

Cancel Culture in Schulen?

Von Robert Benkens

An deutschen Schulen wirkt bislang eher „Mainstream Culture“ als „Cancel Culture“. Lehrer sollten jedoch für die Intoleranz einer aus den USA kommenden radikalen Identitätspolitik sensibilisiert sein.

Zögern Sie, bei öffentlichen Anlässen, auf Firmenfeiern, bei Smalltalks, auf Sektempfängen oder in beruflichen Kontexten bestimmte Dinge zu Themen wie Islam, Klimawandel oder Corona zu sagen, aus Angst, in die Nähe von Rassisten, Klima- oder Coronaleugnern beziehungsweise Covidioten gerückt zu werden? Oder trauen Sie sich ans offene Wort nur im engen Freundeskreis hinter „vorgehaltener Hand“? Wenn man tonangebenden Kreisen glauben darf, ist schon das Nachdenken über diese Fragen selbst populistisches „Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Geraune“. Immer wieder belegen Umfragen zum Thema Meinungs- und vor allem Redefreiheit in Deutschland, dass sich das Meinungsklima generell einengt und sich der soziale Druck eben nicht auf eine kleine, radikale Randgruppe beschränkt: Bis zu zwei Drittel der Bürger 1 haben Bedenken, sich beispielsweise zu obigen Themen öffentlich zu äußern.

Gibt es sie überhaupt – diese „Cancel Culture“?

Das sollte uns zu denken geben, auch wenn wir noch längst nicht von einem „Meinungsterror“ sprechen sollten, wie es rechte Populisten gerne tun. Dennoch: In einschlägigen Studiengängen, an einigen Unis und Teilen der Medien scheint der Konformitätsdruck bereits hoch zu sein. Redakteure des Öffentlich-Rechtlichen verlangten, dass Schauspieler, die sich an der lockdownkritischen Satireaktion #allesdichtmachen beteiligt hatten, in keinem Film mehr zu sehen sein dürften. Dieter Nuhr gönnten viele Zuschauer nicht mehr seinen Sendeplatz, weil er sich über platte Parolen der Klimabewegung lustig machte. Der Comedian Jan Böhmermann wiederum will hochangesehenen Experten wie Hendrik Streeck keine öffentliche Bühne mehr bieten, weil diese die angeblich „richtige“ wissenschaftliche Meinung zur Lockdownpolitik nicht vollends mittragen. Vor zwei Jahren kündigte die Journalistin Bari Weiss ihren Job bei der New York Times, da sie sich einem zunehmend einengenden Meinungsklima und einem Druck zu politischer Korrektheit ausgesetzt sah. 2 Und jüngst kündigte der kritische Philosoph Peter Boghossian seine Professur im „progressiven“ Portland. Die Uni sei zu einem perfekten System geworden, um jede Kritik zu verhindern. Er fühle sich frei seit seinem Weggang, weil ihn nun keiner mehr bei der Universitätsleitung anschwärzen könne, nur weil er eine politisch nicht korrekte Meinung vertrete. 3

So weit ist es in Deutschland noch nicht. Dennoch gibt es auch hier ähnliche Fälle. Islamkritische Hochschuldozentinnen wie Susanne Schröter werden als „islamophob“ verunglimpft, Vorlesungen gecancelt, öffentlich Diffamierungskampagnen gefahren. Aber es regt sich auch Widerstand. Das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ verteidigt „eine plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur und ein institutionelles Umfeld, in dem niemand aus Furcht vor sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen und Debattenbeiträge meidet“ und widersetzt sich „allen Bestrebungen, die Freiheit von Forschung und Lehre aus ideologischen Motiven einzuschränken“.

An den Schulen noch nicht angekommen

Dass es überhaupt ein solches Netzwerk gibt, sagt schon einiges über die akademische Debattenkultur heutzutage. Wenn es schon bei den (ehemaligen) Gralshütern des freien Denkens, den Universitäten, um selbiges nicht mehr so gut bestellt ist, wie sieht es dann erst in den Institutionen aus, welche die nachwachsenden Generationen, ihre Überzeugungen und Werte, von frühauf maßgeblich formen und prägen: unseren Schulen? Vorweg die gute Nachricht: Nein, von Cancel Culture kann keine Rede sein. Weder in den Curricula meiner beiden Fächer Deutsch und Politik-Wirtschaft noch in den Leselisten klassischer Literatur oder im Umgang mit Schülern oder der Unterrichtspraxis kann ich von Streichung bestimmter Inhalte oder Denkverboten berichten. Wenn überhaupt, könnte man von einem impliziten Lehrplan sprechen, der der politischen Sozialisation der Lehrkräfte und der übergeordneten politischen Debattenkultur unseres Landes entspringt und die Art und Weise prägt, wie Themen in Deutschland aufgegriffen werden.

„Wenn überhaupt, könnte man von einem impliziten Lehrplan sprechen, der der politischen Sozialisation der Lehrkräfte und der übergeordneten politischen Debattenkultur unseres Landes entspringt.“

Wir finden also keine „Cancel Culture“, schon eher eine „Mainstream Culture“ an unseren Schulen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Schule und Unterricht unabhängig vom medial-kulturellen Mainstream des jeweiligen Landes funktionieren. Viele Schulprojekte liefern sogar explizit bestimmte politische Überzeugungen mit. Oft gibt es eine „moralisch korrekte“ Position, die in – berechtigter – Ablehnung rechtspopulistischer Vereinfachungen Schülern vermittelt wird. Allerdings wird der Diskurs hierdurch nur auf ein moralisch gut klingendes Bekenntnis reduziert – und die Schüler merken schnell, welche Antworten jeweils die „sozial beliebt machenden“ sind. Kurzum: Bei vielen Themen gibt es eine gewisse Schlagseite der schulischen Aufbereitung, im pädagogisch-moralischen Zugriff. Eine Cancel Culture oder gar Indoktrination gibt es nicht. Als ich Essays in Schweizer Monat 4, Novo Argumente und Welt 5 veröffentlichte, die jeweils bestimmte Ausprägungen der Fridays for Future-Bewegung kritisch analysierten und in diesem Kontext auch die ökopessimistische Schlagseite im Bildungssystem, wurde meine Position überhaupt nicht gecancelt. Ganz im Gegenteil: Sie wurde offen eingefordert.

Das sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Debatte über Cancel Culture für abgehakt zu erklären und sich zurücklehnen – aus zwei elementar wichtigen Gründen: Erstens stellt die Cancel Culture sich nicht als solche vor, sondern kommt unmerklich, schrittweise und unter progressivem Gewand daher – ist auf den ersten Blick also nicht leicht zu erkennen. Schließlich gehe es doch nur um gute Sachen wie „Vielfalt“, „Respekt“, „Teilhabe“ oder auch um die „Dekolonisierung von Lehrplänen“. Hat sie sich dann erstmal etabliert, ist sie – zweitens – schwieriger zu bekämpfen, weil ihre Ächtungsmechanismen greifen und volle Wirkung entfalten. Sodann wird der Kampf gegen Unfreiheit und Dogmatismus immer schwieriger. Das bedeutet: Schulen und Lehrer sollten rechtzeitig vorgewarnt und vorbereitet sein auf das, was da noch kommen könnte. Alles Übertreibung? Nun, ein Blick über den Tellerrand, den großen Teich in die USA befördert erschreckend illiberale Tendenzen zu Tage.

Auf was wir uns vorbereiten sollten

Was ist da eigentlich los? Nun, man kann die Methode der Cancel Culture nicht ohne die Ideologie der „Critical Race Theory“ verstehen. Dieser neueste pädagogische Trend wird vor allem in US-amerikanischen Bildungseinrichtungen unterrichtet. Um zu verstehen, was die „kritische Rassentheorie“ meint, sollten wir uns mit ihren Vordenkern näher auseinandersetzen.

Da wäre beispielsweise Ibrahim X. Kendi, New York Times Bestseller-Autor, Shootingstar der neuen „Antirassismus-Bewegung“ und einer der einflussreichsten Vordenker der Critical Race Theory im Bildungssektor. In seinem Buch „Antiracist Baby“ will er bereits bei Kleinkindern und Babys mit der Umerziehung anfangen. Das Vorwort ist „all den jungen Menschen gewidmet, deren eigene Fantasie frei ist von der Vorstellung staatlicher Gewalt und weißer Vorherrschaft“. In diesem Buch werden, auf harmlos verspielte Art, bereits zwei fatale Grundannahmen der Critical Race Theory vermittelt. Zum einen: Im Grunde habe es gar keine Fortschritte im Kampf gegen den Rassismus in den USA und im Westen gegeben. Dazu verwässert Kendi den Begriff des „Rassismus“ und schreibt, dass er sich lediglich „weiterentwickelt“ habe: „Es ist das Wasser, in dem wir alle schwimmen.“ Zum anderen: Rassismus sei ein Problem, das von Weißen erfunden (!) worden sei. Das bedeutet: Rassismus sei weißen Personen naturgemäß eingeschrieben, sie seien notorische, pathologische Rassisten und gehörten therapiert. Nach Kendi reicht die bloße Aussage, man sei nicht rassistisch, nicht aus. Man sei entweder Rassist oder expliziter Antirassist – Letzteres bedeutet im Übrigen, Kendis Lesart des Antirassismus unwidersprochen zu folgen. Sonst droht die Cancel Culture. Ein „genialer“ rhetorischer Zirkelschluss, der seine Theorie vor Kritik immunisieren soll.

 „Viele Schulprojekte liefern explizit bestimmte politische Überzeugungen mit.“ 

Dabei verhindern beide Grundannahmen nicht nur menschlichen Fortschritt und Zusammenhalt, sondern sind auch auf einer inhaltlichen Ebene ahistorisch und falsch. 1942 sprachen sich fast zwei Drittel der weißen US-Amerikaner für nach Rassen getrennte Schulen aus – 1995 nur noch vier Prozent. Diese Zahlen gehen heute gen Nullpunkt. 1958 bejahten 45 Prozent, dass sie „vielleicht“ oder „auf jeden Fall“ umzögen, wenn eine schwarze Familie nebenan einzöge – 1997 nur noch zwei Prozent. Die USA sind also immer weniger rassistisch geworden und müssen auch den Vergleich mit anderen Regionen nicht scheuen: Eine auf dem World Values Survey basierende Weltkarte zeigt: Während die Zustimmung zu einer solchen Rassentrennung 6 in westlichen Staaten heute verschwindend gering ist, stimmt ein sehr viel größerer Teil der Menschen in nicht-westlichen Ländern wie Aserbaidschan (58 Prozent), Libyen (55 Prozent), in der Palästinensischen Autonomiebehörde (44 Prozent) und auch Indien (41 Prozent) oder Thailand (40 Prozent) dafür. 7 Der Westen ist also der toleranteste und am wenigsten rassistische Kulturkreis der Welt.

Auch die zweite Grundannahme, der weiße Mann habe den Rassismus etabliert, ist falsch. Schon das Wort „Sklave“ kommt von „Slawe“ und die waren und sind bekanntlich weiß. Und das Wort „Rasse“ selbst entstammt dem Arabischen – kein Zufall: Viele Araber sahen sich selbst als die höhere Rasse, höhergestellt als Weiße auf der einen und Schwarze auf der anderen Seite. Der Gelehrte Ibn Khaldun schrieb: „Daher sind in der Regel die schwarzen Völker der Sklaverei unterwürfig, denn (sie) haben wenig Menschliches und haben Eigenschaften, die ganz ähnlich denen von stummen Tieren sind.“ 8 Dieses Denken hatte Jahrhunderte lang Tradition. Tidiane N`Diayes „Der verschleierte Völkermord: Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika“ legt die erschreckenden, aber weithin nicht bekannten Konsequenzen dieses arabischen Rassismus dar – lange bevor die Europäer Afrika kolonisierten. Damit soll der europäische oder westliche Rassismus keineswegs gerechtfertigt werden, aber es zeigt sich doch, dass die Sklaverei weit in die Menschheitsgeschichte zurückgeht und der Westen keineswegs die erste Kultur war, die davon geprägt wurde, sehr wohl aber die erste, die sie schrittweise abschaffte.

Ein von Cancel Culture geprägter Bildungskanon, der diese Perspektiven ausblendet, führt dazu, dass Schüler mit gefährlichem Halbwissen aufwachsen. Wenn Schüler in der Schule nur etwas über die Verfehlungen des Westens lernen und solche historischen Fakten nicht kennen, entwickeln sie ein komplett verzerrtes Weltbild, das letztlich in westlichen Selbsthass münden kann, der nur anti-westlichen Agitatoren – von rechtsextremistisch bis fundamentalislamistisch – nützt.

Das Verdienst der „klassischen“ antirassistischen Bewegung, ebenfalls aus den USA über den großen Teich auch nach Europa schwappend, war es doch gerade, dass sie das Emanzipations- und Freiheitsversprechen des liberalen Westens wirklich ernst nahm, der weißen Mehrheitsgesellschaft den eklatanten Widerspruch aus Verfassung und Verfassungswirklichkeit, aus gleichen Bürgerrechten hier und Rassendiskriminierung dort vorhielt. Und auch heute gibt es trotz aller Fortschritte genug aufzuarbeiten: Black Lives Matter-Aktivisten haben vollkommen Recht, wenn sie auf noch immer bestehende Ungleichheiten, auf kalkulierte Wahlbenachteiligungen schwarzer Gemeinden, auf entsetzliche Inhaftiertenzahlen 9 sowie eine historische Benachteiligung Schwarzer durch diskriminierende Kreditvergabe und Wohnungspolitik hinweisen, die auch heute noch in Form geringeren Vermögens, sozial schlechter Wohngegenden und Schulen nachwirken.

„ Man kann die Methode der Cancel Culture nicht ohne die Ideologie der ‚Critical Race Theory‘ verstehen.“

Wo die Antirassismus-Bewegung richtig liegt – und wo nicht

Das alles ist nicht der springende Punkt. In all diesen Bereichen hat die (klassische) Antirassismus-Bewegung in meinen Augen völlig Recht und große Verdienste geleistet. Versucht man den heutigen Aktivisten aber beispielsweise auch klarzumachen, dass Demos gegen Rassismus zwar richtig und wichtig sind, dass aber das Bild einer unabhängig vom Tathintergrund Schwarze ermordenden weißen Polizei empirisch nicht haltbar ist 10, dass ein „Defunding“ der Polizei vor allem schwarze Viertel, Geschäfte und Leben gefährdet, Mordraten in die Höhe schießen lässt 11 und ergänzt dann noch, dass die USA mit ihrer Verfassung doch gerade die Grundlage für die Abschaffung der seit Jahrtausenden existierenden Sklaverei gelegt haben, dass rassistische Einstellungen im liberalen Westen im Vergleich zu anderen Weltregionen systematisch geächtet werden und dass viele asiatische oder afrikanische Migranten im Gegensatz zur weißen Unterschicht zu den erfolgreichen Aufsteigern der letzten Jahre zählen – kurzum, dass alles etwas komplizierter und multikausaler ist, als ein pauschaler Vorwurf an die USA oder den Westen, von Grund auf rassistisch zu sein –, wird genau diese Differenzierung als Zeichen von Rassismus gesehen – selbst wenn die Nachweise von schwarzen Kriminologen, Ökonomen und Sozialwissenschaftlern wie Roland Fryer, Glenn Loury 12 („The Anatomy of Racial Inequality“), Thomas Sowell („Discrimination and Disparaties“), Jason L. Riley („Please Stop Helping Us: How Liberals Make It Harder for Blacks to Suceed“) oder John McWhorter („Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America“) erbracht werden.

Diese gelten dann als „Tokens“ 13, die „Acting White“ betrieben, um ihren „Unterdrückern“ zu gefallen. Auf Fakten und Argumente wird nicht eingegangen, Kritik wird ähnlich wie bei Trumpisten als Verrat an den „eigenen Leuten“ gesehen. Zuletzt geschehen beim Sewell-Bericht, der das Ausmaß des Rassismus in Großbritannien untersuchen sollte und resümierte, dass weiße Kinder aus der Arbeiterklasse von ihren Altersgenossen in fast allen ethnischen Minderheiten abgehängt würden. Nicht Rasse, sondern Klasse sei ein entscheidendes Kriterium für den Bildungserfolg. 14

In den USA hingegen sind Segregation, die sozioökonomischen Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen immer noch skandalös. Nobelpreisträger Angus Deaton stellt in „Death of Despair and the Future of Capitalism“ jedoch auch fest, dass die weiße Unterschicht die einzige Gruppe sei, deren Lebenserwartung gegenwärtig sinke, während Schwarze aufschlössen. Er führt das auf den Verlust des „White Privilege“ zurück. Statt aber nun diese Befunde zum Anlass zu nehmen, ethnische Gräben zu überwinden, gemeinsam für bessere wirtschaftliche Perspektiven zu streiten, den Kapitalismus an die Kandare zu nehmen oder dem Alltagsrassismus einen liberalen Patriotismus entgegenzusetzen, geht es der westlich-liberalen Grundordnung höchstselbst an den Kragen. Denn „anders als die traditionellen Bürgerrechtsdiskurse, welche […] schrittweisen Fortschritt betonen, stellt die kritische Rassentheorie die Fundamente der liberalen Ordnung selbst infrage, einschließlich der Gleichheitstheorie, der juristischen Argumentation, des Rationalismus der Aufklärung und der neutralen Prinzipien des Verfassungsrechts.“ Damit ist die Katze aus dem Sack – nur will sie niemand sehen!

Das haben nicht irgendwelche rechten Verschwörungsideologen geschrieben, sondern Richard Delgado und Jean Stefancic in ihrem Bestseller „Critical Race Theory“ 15 Die größte Lehrervereinigung der USA möchte indessen genau diese Critical Race Theory in den offiziellen Lehrplan aufnehmen! 16 Wir sehen: Unter dem Deckmantel liberaler Werte wie Toleranz und Vielfalt geht es also in Wirklichkeit um die De-Montage westlicher Grundprinzipien. Laut einer anderen Ikone der Cancel Culture-Bewegung, Robin Di Angelo, sei Individualismus dann eben auch nur eine „Ideologie“ und „weiße Menschen müssten sich, um den allgegenwärtigen Rassismus zu reflektieren, stets als Vertreter ihrer Rasse betrachten“.

„Wenn Schüler in der Schule nur etwas über die Verfehlungen des Westens lernen und solche historischen Fakten nicht kennen, entwickeln sie ein komplett verzerrtes Weltbild.“

Nein, sowas werde ich meinen Schülern niemals beibringen! Schüler sollten sich nicht als Vertreter einer Rasse betrachten, sondern als Bürger eines liberal-demokratischen Nationalstaates in einem Verbund freier Völker in einer globalisierten, zusammenwachsenden und sich durchmischenden Welt. Wer die Welt so wie Di Angelo oder Kendi betrachtet, für den kann es doch gar kein republikanisches Band geben, das junge Menschen unterschiedlicher Herkunft eint, sondern bestenfalls einen Staat, der die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ansprüche und Ansichten der Gruppen managed und moderiert. „Vielfalt“ wird auch in Deutschland oft nur als Chiffre für die bloße Koexistenz unterschiedlicher, mitunter auch archaischer Wertesysteme genutzt, die nicht in Frage gestellt oder kritisiert werden dürften. 17 „Teilhabe“ wird eben nicht mehr primär verstanden als das Ermöglichen von gleichen Chancen für alle Bürger unterschiedlicher Herkunft, sondern als Dienstleistung, die der Wohlfahrtsstaat gemäß Diversity-Management anhand von Quoten, Nivellierung von Standards 18 oder Sonderregelungen für Menschen der jeweils unterschiedlichen Gruppen zur Verfügung zu stellen hat.

Wie die Cancel Culture das Schulleben vergiftet

In Amerika ist dieser Kampf bereits voll entbrannt. Die Folgen sind verheerend. Die bereits genannte Bari Weiss leistet wichtige Aufklärungsarbeit, wenn sie beispielsweise davon berichtet, dass eine Schuldirektorin aus Vermont entlassen wurde, weil sie kundtat, schwarze Menschen zu unterstützen – nicht aber Black Lives Matter. 19 Drittklässler (!) im kalifornischen Cupertino sollten sich selbst bewerten hinsichtlich ihrer Macht und Privilegien. Und ein Highschool-Schüler aus New York habe berichtet, dass er – weil er weiß und männlich sei – immer erst als Zweiter sprechen dürfe. Die New York Times berichtete sogar darüber, dass Highschool-Schüler dazu aufriefen, „rassistisches“ Verhalten der Mitschüler öffentlich auf Social-Media-Plattformen zu melden. 20 Der öffentliche Pranger als Abwehrinstrument gegen jegliche Kritik, von Schülern selbst aufgestellt! Bari Weiss betont, dass es Mut brauche, um sich zu wehren und verweist dabei auf Maud Maron, die ihr Leben lang Rechtshilfe für benachteiligte „People of Color“ in New York geleistet habe. Maron kämpfte früher gegen den systemischen Rassismus im Justizsystem, mit derselben Emphase wendet sie sich heute aber auch gegen den dogmatischen „Antirassismus“ an New Yorker Schulen, der für alle Missstände einfach das „Weißsein“ per se verantwortlich mache. Nach Weiss gab es eine Rufmordkampagne, eine regelrechte „Hexenjagd“ auf die Liberale Maron, ehemalige Kollegen hätten sich von ihr distanziert, sie wurde gecancelt und konnte ihrem Job nicht mehr nachgehen. Heute wehrt sie sich öffentlich. In Deutschland dürfen wir aber erst gar nicht in eine solche Situation kommen, in der es besonderen Mutes bedarf, Selbstverständlichkeiten wie das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verteidigen.

Eine Mutter aus dem Bundesstaat New York wehrte sich schließlich öffentlich in einer Rede gegen die zunehmende Cancel Culture auch an der Schule ihres Kindes. Die Rede ging bei Youtube viral. 21 Tatjana Ibrahims Worte zeugen von einem aufgestauten Frust und sind so eindringlich, dass sie es verdient haben, hier im Wortlaut zitiert zu werden: „Stoppen Sie die Indoktrination unserer Kinder! Hören Sie auf, unseren Kindern beizubringen, die Polizei zu hassen!“ Ibrahim wehrt sich gegen einen Lehrplan, der Schüler cancele, die nicht vollkommen mit Black Lives Matter einverstanden seien:

„Ich werde weiterkämpfen und bin nicht die Einzige, die sich wehrt, quer durch Amerika versuchen Schulen, den Verstand unserer Kinder zu vergiften.“ Und weiter: „Wenn [die Schüler] nicht an die Indoktrination glauben, die dämonische, verdrehte, hinterhältige, abscheuliche Erziehung, wenn sie es so nennen wollen – wenn sie damit nicht einverstanden sind, sind sie entweder homophob, Teil eines Kultes oder Rassisten. Was ist für Sie Rassismus? Wissen Sie, was für einer Rasse ich angehöre? Wissen Sie es? Tun sie nicht. Sie haben nicht mal eine Idee. Ich könnte Schwarz sein, könnte Weiß sein, könnte Asiatin sein – Sie wissen es nicht! Wer sind Sie, das festzulegen? Wissen Sie was? Kinder in der Schule gucken nicht nach der Hautfarbe, schwarze, weiße und hispanische Kinder gucken nicht danach. Also sind Sie die Rassisten! Nicht wir. Sie verurteilen und spalten! Sie verursachen Segregation!“

„Schüler sollten sich nicht als Vertreter einer Rasse betrachten, sondern als Bürger eines liberal-demokratischen Nationalstaates.“

Auch wenn der Vorwurf in dieser Schärfe übertrieben sein mag, schließlich geht es vielen aktivistischen Lehrkräften in den USA vermutlich auch nur um die Bekämpfung von Rassismus und Ausgrenzung, so zeugen diese Worte doch von einem Trotz, der sich aufgestaut haben muss. Auch Bari Weiss erkennt aufkommenden Widerstand auf Seiten der Eltern. Immer mehr Eltern würden die „Umerziehung“ ihrer Kinder kritisch sehen. Was sie erzählen, schockiert: Kinder erzählten, sie hätten Angst, sich in der Klasse zu Wort zu melden. „Sie geben meinem Sohn wegen seiner Hautfarbe das Gefühl, er sei ein Rassist“, wird ein Elternteil zitiert. Ausgerechnet an US-Eliteschulen lernten die Schüler, den Kapitalismus zu hassen und ihr „Weißsein“ zu hinterfragen. 22 Doch die Initiative der kritischen Eltern stößt, beispielsweise in New York, auch auf entschiedenen staatlichen Widerstand. So wollte Generalstaatsanwalt Merrick Garland das FBI auf die Eltern ansetzen, da sie eine Bedrohung für die Schulverantwortlichen darstellten, berichtet die New York Post. 23 Die „National School Boards Association“ hätte empfohlen, einige dieser Eltern unter Berufung auf den sogenannte Patriot Act und die Gesetzgebung zu Hassverbrechen strafrechtlich zu verfolgen (!), schreibt Bari Weiss. Ein anderer Vater aus der Reportage von Weiss betont, er habe mit der Erziehung zu mehr Toleranz und Vielfalt überhaupt kein Problem – sehr wohl aber damit, dass den Kindern beigebracht werde, die USA seien ein schlechtes Land und trügen eine kollektive Rassenschuld.

Alles ganz weit weg?

Alles ganz weit weg? Nicht unbedingt. So fordert eine Petition mit bereits über 100.000 Unterschriften unter dem Motto „decolonize schools!“, dass deutsche Kolonialgeschichte und rassismuskritischer Unterricht Teil des Berliner Lehrplans werden sollen. Darunter verstehen die Initiatoren „rassismuskritisches Training für Schüler:innen und Lehrer:innen“ und dass über „institutionellen und systematischen Rassismus gegen BIPOC*“ aufgeklärt werde oder auch „eurozentristische Perspektiven aus dem Kunstunterricht und Geschichtsunterricht (u. anderen Bereichen)“ aufgearbeitet und entfernt (!) werden.

Nochmal, um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: Antirassistische Bildungsarbeit ist essenziell für eine humanistische und zivilisierte Nation. Wer die kulturelle Prägung, das öffentliche Bewusstsein und das Selbstbild eines Landes verstehen will, möge in Schulbücher gucken. Sie bilden das ab, was eine Gesellschaft ihren Kindern über sich selbst mitgibt. Lange Zeit wurde die eigene Kolonialgeschichte im Westen entweder ausgeblendet, schöngeredet, die eigene Nation verherrlicht. Deshalb ist es auch ein Fortschritt, wenn Schulbücher die Geschichte von Kolonialismus und Rassismus im eigenen Land kritisch aufarbeiten. Lehrkräfte, die antirassistische Bildungsarbeit betreiben, sollten mit Blick nach Amerika jedoch sensibilisiert sein: Unter einem progressiven Deckmantel versteckt sich ein Angriff auf die liberalen Grundfesten des Westens.

Doch wie soll man als Lehrkraft damit umgehen? Schließlich will man sich nicht den Vorwurf einhandeln, Rassist zu sein. Zudem haben sich viele meiner Schülerinnen und Schüler als Reaktion auf die Polizeigewalt und den Tod Georg Floyds solidarisch gezeigt. Dieses Engagement möchte man als Lehrer nicht schlecht reden. Auf der anderen Seite hantieren schon viele junge Schülerinnen und Schüler relativ leichtfertig mit Begriffen wie „alter weißer Mann“ und sehen in dem neuen Antirassismus einfach nur eine noch konsequentere Fortführung des alten. Den ideologischen Überbau erkennen sie nicht – können sie auch gar nicht.

Selbst Lehrer in Deutschland verwenden bereits Unterrichtsmaterial von Di Angelo, Kendi, Delgado oder Stefancic – ebenfalls in guter Absicht und schlicht, weil es eben das Material ist, was einem zu diesem Thema primär angeboten wird. Thomas Sowell oder Glenn Loury kennt keiner. Von diesen Autoren gibt es schließlich keine Übersetzungen ins Deutsche. Was also tun, wenn man gerade als Lehrer einerseits nicht missverstanden werden will, es andererseits aber für seine pädagogische Verantwortung hält, illiberale Tendenzen eines „identitären Antirassismus“ zu problematisieren?

„Lehrkräfte, die antirassistische Bildungsarbeit betreiben, sollten mit Blick nach Amerika jedoch sensibilisiert sein: Unter einem progressiven Deckmantel versteckt sich ein Angriff auf die liberalen Grundfesten des Westens.“

Nur wenige Lehrkräfte werden sich hierfür alleine aus der Deckung wagen. Sie brauchen dafür die Rückendeckung von großen, etablierten und angesehenen Institutionen des Landes. Als eines der wenigen großen Blätter hat sich die Zeit 24 herangetraut und Unterrichtsmaterial erstellt, welches sich auf der Basis des Textes „Dein Mitbürger, der Unterdrücker“ von Jochen Bittner mit Rassismus und Identitätspolitik gleichermaßen auseinandersetzt. Bei meiner Unterrichtsvorbereitung hat mir das Material sehr geholfen. Bittner unterscheidet deutlich zwischen individualistischem Liberalismus und antiliberaler Identitätspolitik.

Schule ohne Rassismus … und Identitätspolitik!

Schüler in einer multikulturellen Gesellschaft sollten lernen, dass Rassismus ein universelles Problem ist, und eben kein exklusives Problem westlicher Gesellschaften. Meine Schule bemüht sich aktuell um das Gütesiegel für Antisemitismusprävention und -Intervention an kirchlichen Schulen unter dem Motto „Zusammen gegen Antisemitismus“. In der Diskussion war dabei auch, sich konsequenterweise um den zertifizierten Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ zu bewerben. Ein naheliegender Gedanke. Allerdings hat die Verpflichtung zum Kampf gegen Antisemitismus einen entscheidenden Vorteil: Sie ist eine Art Lackmustest für echten, universellen Antirassismus. Denn viele identitäre „Antirassisten“ sehen in Israel einen vom weißen Westen, allen voran den „Rassistischen Staaten von Amerika“ unterstützten Apartheitsstaat, der die Palästinenser unterdrücke. Die verquere Logik dahinter: Rassistisch könnten immer nur diejenigen sein, die „die“ Macht hätten, und das seien nun mal primär westliche, weiße, heterosexuelle Männer. 25

Im Rahmen der Antisemitismus-Prävention besuchten wir jedenfalls den Kinofilm „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“, in dem der erschreckende, allgegenwärtige und für Juden lebensbedrohliche alltägliche Antisemitismus in muslimischen Communities in Deutschland ebenso thematisiert wird wie rassistische Diskriminierungserfahrungen der Muslime durch die Mehrheitsgesellschaft selbst. Der Film basiert auf der Lebensgeschichte des iranischstämmigen Juden Ayer Schalicar und macht die Gewalt, den Nationalismus und Rassismus in sogenannten Parallelgesellschaften deutlich – ein bisher tabuisiertes Thema in der Antirassismus-Arbeit, die sich bisher vor allem auf die „weiße Mehrheitsgesellschaft“ fokussierte. Der Film verschweigt das Problem also nicht aus politischer Korrektheit oder der oft zitierten Gefahr, „den Rechten in die Hände zu spielen“. Davon abgesehen kommt der Film nicht moralisierend daher, sondern bietet schauspielerische Meisterleistungen, welche die Folgen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit den Schülern so eindrücklich vor Augen führen, dass vielen die Emotionen nach dem Film anzusehen waren. Die Schüler hatten im Anschluss sogar noch die Möglichkeit, mit den Schauspielern, allesamt mit Migrationsgeschichte, über den Film zu reden. Eine Gelegenheit, die Gesellschaft nicht wieder in Schwarz und Weiß, Opfer und Täter, Verurteilungs- und Schamrituale einzuteilen, sondern Rassismus als Menschheitsproblem deutlich zu machen.

Fazit

Ja, Schule ohne Rassismus ist elementar in einer vielfältigen Gesellschaft, welche emotionalen Zusammenhalt jenseits ethnischer Homogenitätsillusionen schaffen kann und sollte. Cancel Culture und Critical Race Theory führen jedoch im Gegenteil dazu, dass sich die Menschen erst recht auf ihre „kulturelle Scholle“ zurückziehen und Anklagen gegen die Gruppe auf der anderen Scholle erheben und dabei immer weiter auseinanderdriften.

„Schüler in einer multikulturellen Gesellschaft sollten lernen, dass Rassismus ein universelles Problem ist, und eben kein exklusives Problem westlicher Gesellschaften.“ 

Wir sollten unseren Schülern beibringen, dass nicht allein der „Opferstatus“ über die Güte eines Arguments entscheidet, sondern vor allem die sachlogische Begründung, die empirische oder historische Überprüfbarkeit. Wir müssen gewissermaßen mit Karl Poppers Diskursethik – dem kritischen Rationalismus –, dem dogmatischen Emotionalismus Einhalt gebieten, bevor er auch unsere Schulen einnimmt.

Cancel Culture ist in deutschen Schulen also noch nicht angekommen. Damit das so bleibt, sollten Lehrkräfte aber wissen, um was es geht. Denn die Cancel Culture versteckt sich hinter pädagogisch wertvoll klingenden Schlagworten wie Vielfalt und Respekt. Letztlich führt Cancel Culture nur zu Angst und Denunziation, Missgunst und Argwohn unter Schülern. Was benachteiligten Gruppen wirklich hilft, sind konkrete politisch-soziale Veränderungen: Wir brauchen die besten Exzellenzschulen ohne Rassismus in den größten Brennpunkten des Landes mit großzügigen (staatlichen) Stipendienprogrammen für sozial benachteiligte Schüler. Schulen mit der besten Ausstattung, den besten Lehrern und hohen Anforderungen an Leistung und Selbstdisziplin, um gerade Einwanderern und deren Kindern zu zeigen, dass sie nicht „egal“ sind, sondern gleichberechtigte, kritikfähige und eigenverantwortliche Individuen und Mitbürger eines weltoffenen Landes, zu dem sie ihren Beitrag leisten können – und sollen.

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