29.06.2016

Braucht Deutschland jetzt Obergrenzen?

Analyse von Hansjörg Walther

Titelbild

Metropolico.org (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Der Wind in der Flüchtlingsfrage hat sich schnell gedreht. Im letzten September war die Stimmung selbstbewusst, fast euphorisch, nun überwiegen Sorgen und Ängste

Wären „die Deutschen“ ein einzelner Mensch, so könnte man an eine bipolare Störung denken. Doch das ist Unsinn. Verändert hat sich, welche Seite den Ton angibt. Wer an den Bahnhöfen klatschte, trottet heute nicht bei Pegida mit. Und wer schon im Herbst den baldigen Untergang vorhersagte, der behauptet das auch jetzt noch ohne eine Erklärung dafür, wieso er bislang falsch lag. Viele Menschen hatten einfach keine entschiedene Meinung. Sie ließen sich an ihrem Herzen anrühren, wollten aber deshalb noch keinen Blankoscheck ausstellen.

Auch wenn die „Alternative für Deutschland“ bejammert, wie man sie übergeht: sie ist es mittlerweile, die die Debatte bestimmt. Die CSU ist ihr schon nachgesprungen, mancher in der CDU würde es auch gerne tun, und sogar Angela Merkel kommt mittlerweile nicht um Zugeständnisse herum, etwa mit der Ankündigung, man müsse die Flüchtlingszahlen deutlich senken. Eine zentrale Rolle bei diesem Umschwung spielt die Forderung nach Obergrenzen. Anstatt sich ihr zu stellen, weichen viele Befürworter der bisherigen Politik lieber aus, empören sich über Provokationen und versuchen ansonsten, Volkserziehung und Verbote anzubahnen. Eine Debatte kommt nicht zustande, und so überlässt man denjenigen das Feld, die für Abschottung eintreten. Wie kam es dazu?

Die politischen Stämme

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Blogger Arnold Kling stellt in „The Three Languages of Politics“ die These auf, dass man politische Auseinandersetzungen ethnographisch betrachten sollte. Es treffen Stämme aufeinander, die die Welt jeweils auf eine eigene Weise deuten, sich um ihre Symbole scharen und sogar unterschiedliche Sprachen sprechen. Der politische Kampf zwischen den Stämmen hat nicht die Wahrheit zum Ziel; vielmehr geht es um Selbstvergewisserung und den eigenen Zusammenhalt. Für die USA geht Kling dabei von drei politischen Stämmen aus: Progressives, Conservatives und Libertarians.

„Libertäre gibt es hierzulande fast gar nicht, so dass ihre Sichtweise ‚Freiheit gegen Zwang‘ nur am Rande vorkommt“

Der Stamm der Progressives würde in Deutschland von weit links bis in die Mitte reichen, mit einem Schwerpunkt bei den Grünen. Für ihn stellt sich die Welt dar als ein Kampf „Unterdrückte gegen Unterdrücker“. Mit ersteren hat man sich zu solidarisieren, letztere zu bekämpfen. Deutsche Konservative sind etwas anders strukturiert als ihre amerikanischen Pendants. Während Kling den Conservatives die Leitidee „Zivilisation gegen Barbarei“ zuordnet, denkt man in Deutschland eher entlang einer Achse „Ordnung gegen Chaos“. Libertarians schließlich gibt es hierzulande fast gar nicht, sodass ihre Sichtweise „Freiheit gegen Zwang“ nur am Rande vorkommt. Viele, die sich in Deutschland „liberal“ oder „libertär“ nennen, sind auch eher ein Teil des konservativen Spektrums. Im Wesentlichen wird der politische Meinungsstreit deshalb in Deutschland nur zwischen dem linken und dem konservativen Stamm ausgetragen.

Eine Debatte – zwei Selbstgespräche

Die Wirklichkeit gleicht für die beiden Stämme einem Rohrschachtest im Großen. Der syrische Bürgerkrieg ist für die einen die Folge deutscher Waffenlieferungen, ja sogar des Klimawandels, also unserer Unterdrückung, während er für die anderen Ausdruck einer barbarischen Religion und Kultur ist. Geschundene „Refugees“ für die einen sind für die anderen die Vorhut einer neuen Völkerwanderung. Sie zu unterstützen, ist Verbrüderung mit den Elenden dieser Erde bzw. naives Gutmenschentum, das Deutschland abschaffen wird. Integration ist einerseits gelebte Solidarität mit denen, die angefeindet werden von „Rassisten“ (als wenn wir uns in den Südstaaten circa 1960 befänden!) und andererseits ein verzweifelter Versuch, den Wilden wenigstens etwas Benimm anzudressieren. Man könnte diese Liste leicht verlängern.

„Es besteht kein Anlass zu kurzfristigem Aktionismus“

In den meisten Ländern formierten sich die beiden Stämme in der Flüchtlingsfrage ganz idealtypisch, fast immer mit einem Übergewicht der Konservativen. Angela Merkel gelang in Deutschland zunächst etwas Ungewöhnliches, nämlich eine mit dem linken Stamm verbundene Politik für den konservativen Stamm zu übersetzen: es gehe darum, unsere zivilisierten Werte zu vertreten und Ordnung in das Chaos zu bringen. Ominös wurde ein Zerfall Europas angedeutet, wenn man das nicht schaffe. Damit konnte sie ihre Partei zunächst mitziehen. Dass sie selbst als Garant alternativloser Stabilität wahrgenommen wurde, half natürlich. Rebellion ist aber auch nicht wirklich der Stil der CDU.

In der neuen Rolle fühlten sich große Teile der Union allerdings äußerst unwohl. Der weitere Verlauf konterkarierte auch einige Argumente für die Regierungspolitik, weil vieles chaotisch blieb, womit sich die zeitweilig überrannten Konservativen um die scharten, denen der Einbruch fremder Positionen von vornherein nicht gepasst hatte. Der Rückhalt für Angela Merkel schwand zunächst in der CSU und dann auch immer mehr in der CDU. Als symbolischer Sammelpunkt des konservativen Stammes diente dabei die Forderung nach Obergrenzen, die wieder Ordnung in das „Asylchaos“ bringen sollten. In dem Maße, wie die konservative Seite zu sich zurückfand, gerieten die Grünen in die Rolle der neuen Kanzlerpartei, und die Unterstützung für die Merkel’sche Politik zog sich auf den linken Stamm zusammen. Damit setzten sich auch die entsprechenden Muster durch: geblasen wurde zum Kampf „gegen Rechts“, in den sich sogar die CDU einreihen sollte. Steigende Umfragewerte der AfD und Attacken auf Flüchtlingsheime verschwammen zu einem Bild, in dem man sich als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus inszenieren konnte.

Wie dramatisch ist die Lage überhaupt?

Es ist symptomatisch, dass man es überhaupt begründen muss, aber eigentlich besteht kein Anlass zu kurzfristigem Aktionismus: Wenn Deutschland mit einem Anteil von 10,9 Prozent Einwanderern per 2013 am Rande eines Abgrundes gestanden hätte, dann müsste die Schweiz mit einem Anteil von 28,9 Prozent schon lange darin verschwunden sein. Die Kosten für eine Million Flüchtlinge haben etwa die Größenordnung nur des Zuwachses 2015 bei den Steuereinnahmen. Es sollte also nicht verwundern, dass Schäuble bislang aus der Portokasse zahlt. Und wenn sich Orbán und Lawrow um die Sicherheit in Deutschland sorgen: Es gibt hierzulande 0,8 vollendete Tötungsdelikte auf 100.000 Einwohner. Wenn 2 Prozent Flüchtlinge 80 Mal so bösartig wie Deutsche wären, wovon keine Rede sein kann, so würde man hier immer noch sicherer leben als in Ungarn mit einem Niveau von 2,7 im Jahre 2013. An die russische Rate von 9 (!) käme man nicht einmal heran, wenn die Flüchtlinge 400 Mal so übel wären.

„Hat eine kleine, isolierte, unorganisierte, mittellose und unbewaffnete Minderheit je ein Land gekapert?“

Horst Seehofer muss ja wissen, von wem er etwas lernen kann. Auch Fantasien, Deutschland werde bald von den Flüchtlingen übernommen, kann man mit der Frage beantworten: Wo und wann hat es in der gesamten Weltgeschichte jemals den Fall gegeben, dass eine kleine, isolierte, unorganisierte, mittellose und unbewaffnete Minderheit ein Land gekapert hätte?

Noch einfacher kann man die Luft aus der Aufgeregtheit auch so herauslassen: Investoren haben Hunderte Milliarden in deutsche Staatsanleihen investiert. Kämen auch nur leise Zweifel an der Stabilität Deutschlands auf – sei es wegen der Flüchtlinge, wegen einer Machtergreifung der AfD oder weil Europa zerfiele –, so würden die Renditen massiv ansteigen. Der angebliche „Fehler“ von Angela Merkel im September müsste ein Erdbeben an den Märkten ausgelöst haben. Schaut man sich aber die zehnjährige deutsche Rendite an, so sieht man: NICHTS. Im September musste der deutsche Staat noch eine Verzinsung von fast 0,8 Prozent anbieten, aktuell ist es weniger als die Hälfte. Eigentlich sollte Angela Merkels „wir schaffen das“ so kontrovers klingen wie „Bier muss kalt sein“.

Ganz so einfach ist es nicht

Die Diskussion über Obergrenzen hat einen ernsten Kern, kommt aber meist als Hütchenspiel daher. Gestellt wird zunächst die banale Frage, ob es irgendeine Obergrenze gibt. Banal deswegen, weil etwa die Zahl aller Menschen außerhalb Deutschlands eine Obergrenze darstellt. Mehr können einfach nicht kommen! Doch unter der Hand wird dann die Frage ausgewechselt: Muss es jetzt eine bestimmte Obergrenze geben, wegen der man Menschen abweist? Das ist alles andere als selbstevident. Was die Diskussion über die Obergrenzen so effektiv macht, ist nicht ihre logische Stärke. Vielmehr wirft sie Fragen auf, mit denen sich so mancher schwertut, der für die Aufnahme von Flüchtlingen eintritt.

Dazu muss man sich einige Zahlen klarmachen: Weltweit gibt es 60 Millionen Flüchtlinge. Mehr als 600 Millionen Menschen würden nach Umfragen von Gallup gerne dauerhaft auswandern, wenn sie denn könnten, mehr als eine Milliarde, wenn man zeitweilige Auswanderung einschließt. Bedenkt man, dass nur ein kleiner Bruchteil davon wirklich irgendwo einwandern darf, dann sind die Grenzen dicht, und das gilt auch für Deutschland. Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass es keine Grenzanlagen gibt. Bei wirklich offenen Grenzen könnte weltweit jeder auf sicherem Wege einreisen, legal hier wohnen und arbeiten. Der deutsche Staat verhindert das ganz ohne Zäune, etwa durch Verbote für Fluglinien, Vermieter und Arbeitgeber. Und ansonsten liegt man bequem hinter den Grenzen anderer Länder, die einem das Grobe abnehmen.

„Deutschland befindet sich aktuell an keiner Leistungsgrenze“

Aus diesem Blickwinkel wird verständlich, wieso bereits minimale Lockerungen – und mehr war Angela Merkels „Einladung“ auch nie – eine sehr große Nachfrage zum Vorschein bringen. Wenn man zusätzlich einen Rückstau hat und Europa eine Torschlusspanik fast mutwillig fabriziert, dann darf man sich über einen raschen Anstieg der Zahlen gar nicht wundern. Es kommen allerdings nur diejenigen, die sich trotz Lebensgefahr, versperrter Wege und hoher Kosten durchkämpfen. Natürlich würden sehr viel mehr kommen, wenn sie billig, sicher und legal einreisen könnten.

Befürworter einer Aufnahme von Flüchtlingen mögen solche Zahlen nicht, denn sie werfen vertrackte Fragen auf: Wie könnte der deutsche Staat so viele Menschen versorgen? Würde ein rascher Andrang vielleicht zu ernsten Problemen führen? Es ist leicht zu argumentieren, dass eine Minderheit von wenigen Prozent kaum eine Rolle spielt. Für einen deutlich größeren Anteil wäre das jedoch nicht mehr so offensichtlich. All das macht verständlich, warum die Diskussion über Obergrenzen so zentral wurde. Man kann damit sowohl den linken Stamm argumentativ in die Defensive bringen, der keine Antworten auf diese Fragen hat, als auch den konservativen Stamm um ein Symbol sammeln, das perfekt in dessen Weltsicht passt.

Fazit

Deutschland befindet sich aktuell an keiner Leistungsgrenze. Man könnte auf dem gegenwärtigen Niveau noch eine ganze Zeit weitermachen, ohne dass irgendwelche katastrophalen Folgen drohen würden. Eine starre Obergrenze oder gar ein panisches Absenken der Zahlen stehen von daher aktuell einfach nicht an. Das mag den konservativen Stamm frustrieren. Aber auch der linke Stamm hat einige Illusionen zu verlieren: Man muss sich der Größe der Frage stellen. Die Leistungsfähigkeit Deutschlands ist groß, aber nicht unbegrenzt. Die knappen Ressourcen sind deshalb zu schonen, und das heißt: Einwanderung muss in jeder Hinsicht möglichst neutral für die Inländer gehalten werden. Je weniger man pro Kopf aufwendet, umso mehr Menschen kann man aufnehmen. Nur wenn man eine stimmige Antwort auch auf die schwierigen Fragen hat, kann man die Debatte wenden.

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