17.10.2019

Bewegen statt Essen nach Farben

Von Detlef Brendel

Titelbild

Foto: Health Gauge via Flickr / CC BY 2.0

Lebensmittelampel und Zuckerdämonisierung lösen keine körperlichen Probleme. Stattdessen sollte der Fokus auf der Behebung des Bewegungsmangels liegen.

Mit dem jetzt drohenden Nutri-Score werden die Menschen nach Farben essen können. Fünf Farben, für Farbenblinde die Buchstaben A bis E, aufgedruckt auf Verpackungen, repräsentieren die neue Ernährungs-Dis­ziplin. Schluss mit emotionalem Geschmack und rationalem Ernährungswissen. Grün gekennzeichnete Lebensmittel, ob aus Becher, Dose oder Folie, erleichtern den Einkauf. Niemand muss sich mehr mit Nährwerttabellen herumschlagen, sich über die De­ckung des täglichen Bedarfs mit Kohlenhydraten, Fett und Ei­weiß Gedanken machen. Die Kalorienzufuhr, individuell abhän­gig vom Verbrauch, scheint geregelt. Das grüne A oder das grünliche B geben trügerische Sicherheit. Es wird schon stim­men. Die Rezept-Designer werden alle Zutaten so reduziert ha­ben, dass Diäten künftig überflüssig werden. Die Bundesbürger gehen auf eine Zeit kleinerer Konfektionsgrößen zu. Grün macht schlank.

Das glauben zumindest einige Organisationen, die mit Diabe­tes Geld verdienen, oder sogar der Berufsverband der Kinder- und Jugend­ärzte. Dessen Verbands-Präsident Dr. Thomas Fischbach sucht mit trendgerechten Forderungen immer wieder die mediale Beachtung. Wissenschaftliche Kompetenz oder medizinische Fakten sollen dabei nicht stören. So fordert er aktuell wieder einmal die Zuckersteuer. Er sollte sich mit den im folgenden Absatz zitierten Berufskollegen unterhalten, um sich auf einen gewissen Erkenntnisstand zu bringen. Sein Zug mit der fiskalischen Reglementierung von Ernährung ist abgefahren. Vor allem die Kampagnen-Strategen von Foodwatch, Verfechter des Ampel-orientierten Essens, meinen, mit dem Nutri-Score über die widerspens­tige Ministerin Julia Klöckner gesiegt zu haben. Aber wie so oft im Leben: Glauben heißt nichts wissen. Und nicht jeder Sieg ist ein Sieg der Vernunft.

Die Probleme liegen weder im wegen seines Zuckergehalts wohlschmeckenden Müsli noch im gelegentlich verzehrten Ket­chup, in dem auch angeblich hinterhältig versteckter Zucker entdeckt worden ist. Das wirkliche Problem einer angeblich immer fülliger werdenden Menschheit ist der Triumph des Gesäßes über die Vitalität. Die Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS), Europas größter Zusammenschluss von Sportorthopäden und Sporttraumatolo­gen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, fordert das neue Schul­fach „Gesundheit“. Mit den Schülern soll nicht an fiktiven Regalen und Kühltruhen die Nahrungsmittelauswahl nach Farben trainiert werden. Auch das gruppendynamische Mischen von ge­schmacksreduziertem Müsli ist kein Lösungsansatz in diesem Schulfach. Es geht um Bewegungsmangel, Übergewicht und eingeschränkte Motorik, die ursächlich für eine kränker wer­dende Gesellschaft seien.

„Das gravierende Problem ist keineswegs das immer wie­der beschworene Übergewicht.“

Dabei ist keineswegs das immer wie­der beschworene Übergewicht das gravierende Problem. Es geht nicht um den prall gefüllten Badedress. Die Menschheit ist vielmehr auf dem besten Weg, in naher Zukunft am Stock zu gehen. In den orthopädischen Praxen müssen immer häufiger Kinder behan­delt werden, die durch sitzende Lebensweise und körperliche Inaktivität Fehlstellungen, Dysbalancen oder eine für ihr Alter ungewöhnlich reduzierte Motorik zeigen. Das können selbst veganes Schulessen oder zuckerfreie Früchtetees nicht beheben. Prof. Mar­tin Engelhardt, Ärztlicher Direktor des Klinikums Osnabrück und im Vorstand der GOTS, weist auf Ursachen der körperlichen Inaktivität und sitzende Lebensweisen sowie auf ihre Folgen für die Gesundheit hin. Zur Steigerung des Aktivi­tätsniveaus sind aus Sicht dieser Mediziner Struktur und Erziehung notwendige Voraussetzungen. „Vor allem müssen Kitas und Schulen zusammenarbeiten. Kinder lernen in Deutschland zum Teil nicht einmal mehr schwimmen. Es muss Schulpläne für Schwimmen, Radfahren und Laufen ge­ben.“

Die Zunahme des passiven Lebenswandels ist kein nationales Problem, sondern hat mit wachsendem Wohlstand auch internatio­nal gesundheitliche Konsequenzen. Die WHO will mit einem globalen Aktionsplan die Quote der Inaktivität bis 2030 rapide senken. Empfohlen werden bei 5- bis 17-Jähri­gen täglich 60 Minuten Bewegen mit moderater bis hoher In­tensität. Zwischen 18 und 64 Jahren liegt das Maß bei 150 Mi­nuten mit moderater oder 75 Minuten mit hoher Intensität pro Woche. Wir sind weit davon entfernt. Die GOTS nennt Zahlen: Während ein Mensch in Deutschland 1910 noch im Schnitt 20 Kilometer am Tag gelaufen ist, waren es 2005 nur noch 800 Meter. Heute kommen viele nicht einmal mehr auf 500 Meter Gehstrecke täglich. Diese permanente Unterforderung des von der Natur für Bewegung entwickelten Körpers hat Konsequenzen, die auch eine grün gepunktete Fertigpizza nicht aus der Welt schaffen kann.

Es wird schwierig werden, die dringende Aktivierung der Ge­sellschaft populär zu machen. Sitzende Lebensweise und kör­perliche Inaktivität werden von den Strategen, die für das durch Ampeln regulierte Essen kämpfen und die mit Agitation die Ernährungswirt­schaft als Feind der menschlichen Gesundheit diffamieren, ge­zielt ausgeblendet. Bei Foodwatch besteht das strategische Erbe von Thilo Bode in der Erkenntnis, dass Fakten ebenso eine Kampagne stören können wie eine differenzierte Betrachtung von Themen. Kampagnen müssen ein klar definiertes Feindbild und simpelste Botschaften haben, um die Plattform sympathisierender Medien nutzen und Spendengelder akquirieren zu können. Bei dem komplexen Thema Bewegung funktioniert die eindimensionale Agitation gegen Nahrungsmittel und die sie produzierenden Hersteller aber nicht mehr. Wenn die mangelnde Bewegung ein maß­geblicher Grund für die Herausbildung von Krankheiten ist, oft auch als Wohlstandskrankheiten bezeichnet, werden An­griffe auf die Lebensmittelwirtschaft, die Skandalisierung des Lebensmittels Zucker und die Einführung einer Ernährungs-Diktatur schwierig. Diese differenzierte Betrachtung stört Kam­pagnen, mit denen Spendengelder akquiriert werden sollen.

„Grün macht weder schlank noch gesund.“

Um das Geschäftsmodell nicht zu gefährden, hat Foodwatch keine Hemmungen, die Realität zu leugnen. In den „Sieben Mythen zum Thema Zucker und Übergewicht“ behaupten die Essens­retter: „Die oft genannte These, dass sich Kinder und Jugendli­che heute weniger bewegen als noch vor wenigen Jahrzehnten, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Auch für Erwachsene gibt es hier keine eindeutigen Ergebnisse.“ Alle bei Foodwatch, die natürlich auch die KiGGS-Basiserhebung des Robert Koch-Instituts und andere Studien dazu kennen, wissen, dass die Aussage nicht stimmt. Die Spitze der Hybris ist die Behauptung der angeblichen Essensretter, dass die Anzahl der durch Bewe­gung verbrannten Kalorien heute nicht geringer sei als der Ener­gieumsatz von Bauern in so genannten Entwicklungsländern.

Die Sportmediziner werden es also schwer haben, Sport und Bewegung zum Trend zu machen. NGOs sind dagegen. Und sie bestimmen durch ihre Präsenz in den Medien, die oft unkritisch als sympathisierende Verlautbarungsorgane fungieren, das Meinungsklima. Der Nachwuchs wird also in den nächsten Jahren weiter Probleme haben, Herausforderungen wie Sackhüpfen oder Balancieren auf einem Bein zu bewältigen. Auch mit den kleineren Konfektionsgrößen wird es nichts werden. Aber das sind dann die kranken Spendengeber der Zukunft, wenn neue Kampagnen zur Rettung des Essens geschmiedet werden. Um auf den eingangs erwähnten Nutri-Score zurückzukommen: Er trägt zur nur Kaschierung des Problems bei. Grün macht weder schlank noch gesund.

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