28.11.2019

Aufstand der Sattmacher

Von Kolja Zydatiss

Titelbild

Foto: Kolja Zydatiss

Zumindest ein Wirtschaftszweig probt nun den Aufstand gegen aus seiner Sicht weltfremde, um nicht zu sagen existenzbedrohende rechtliche Bestimmungen. Ein Bericht von der Berliner Bauerndemo.

Als ich am Dienstagmorgen ins Büro wollte, musste ich die letzten fünf Bushaltestellen laufen. Die Busse fuhren ab Turmstraße nicht mehr, da immer wieder Kolonnen von fünfzehn, zwanzig Traktoren die zum Teil recht engen Straßen von Berlin-Mitte einnahmen. Qualmend, hupend und mit flatternden Fahnen – ich sah vor allem die Landesflagge Schleswig-Holsteins – durchpflügten die riesigen Gefährte die Hauptstadt. Viele hatten vorne beschriftete Spanplatten angebracht, mit Variationen über das gleiche Thema: „Ohne uns wärst Du hungrig, nackt, nüchtern“; „Niemand soll’s vergessen, Bauern sorgen fürs Essen“. Die Trecker muteten martialisch an, fast wie eine erobernde Armee.

Später, gegen 11 Uhr, machte ich mich auf den Weg zur Hauptkundgebung vor dem Brandenburger Tor. Am S-Bahnhof Tiergarten konnte man das Ausmaß der Demo erahnen. Traktoren sowie einige Sattelschlepper, Tiertransporter und Pick-Up-Trucks hatten die Straße des 17. Juni aufgefüllt. Nach Westen hin erstreckte sich die Blechlawine bis zum Ernst-Reuter-Platz (oder vielleicht noch weiter, das war bei der trüben Witterung schwer zu erkennen), nach Osten durch den gesamten Tiergarten bis zum Brandenburger Tor.

Ich fuhr mit der S-Bahn bis zum Hauptbahnhof und lief von dort bis ganz nach vorne zur Rednertribüne, vorbei am Kanzleramts-Quader, dessen Verkleidung mir grauer erschien, als ich es in der Erinnerung hatte, und am halbmastbeflaggten Reichstagsgebäude, das demnächst mit einem 2,50 Meter tiefen Graben umgeben werden soll.

„Nach Westen hin erstreckte sich die Blechlawine bis zum Ernst-Reuter-Platz, nach Osten durch den gesamten Tiergarten bis zum Brandenburger Tor.“

Am Brandenburger Tor erinnerte die Szene eher an eine klassische Demo und ein wenig auch an ein Volksfest. Zwischen den abgestellten Fahrzeugen liefen Menschen umher, aßen Bratwürste, rauchten und unterhielten sich. Viele trugen Arbeitskleidung, einige die aus Frankreich bekannten gelben Warnwesten. Aus Kartons wurden Äpfel verteilt. Über Lautsprecher wurden die Reden von der Bühne übertragen. Etwas abseits stand Greenpeace mit Flyern und dem fast schon konzilianten Spruchbanner: „Wasser, Klima, Tiere schützen, Bauern dabei unterstützen.“

„Man ist manchmal erstaunt, dass es überhaupt noch eine Wirtschaft gibt“, sagte vor einigen Jahren ein liberal-tickender Freund zu mir. Zumindest ein Wirtschaftszweig probt nun den Aufstand gegen aus seiner Sicht weltfremde, um nicht zu sagen existenzbedrohende rechtliche Bestimmungen.

Die Redner kamen, nach ihren Mundarten zu urteilen, aus allen Ecken Deutschlands – Brandenburg, Bayern, Baden. Die meisten fassten sich kurz. Es ging um Schnellschüsse der Politik, die einen „grün-linken“ Zeitgeist befriedigen sollten, etwa beim Thema Glyphosat; um die Nebenjobs, die viele Bauern annehmen müssten, um wirtschaftlich zu überleben; und um das Mobbing von Bauernkindern, auch durch Lehrer und Erzieher, die die Ideologie von „radikalen NGOs“ in die Klassenzimmer trügen. Bei Aussagen wie „Unsere Vorfahren haben den Dreißigjährigen Krieg überstanden, wir bleiben freie Bauern auf freier Scholle“ oder „Im Land der Erfinder sollte doch mehr möglich sein, als nur Verbote zu erlassen“ brandeten Hupkonzerte auf. Besonders laut wurde es, als der Rücktritt von Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) gefordert wurde.

„Es ging um Schnellschüsse der Politik, etwa beim Thema Glyphosat; um die Nebenjobs, die viele Bauern annehmen müssten; und um das Mobbing von Bauernkindern, auch durch Lehrer und Erzieher.“

Zu der Sternfahrt nach Berlin aufgerufen hatte die Gruppe „Land schafft Verbindung“. Sie steht auch hinter weiteren kleineren Protestaktionen in anderen deutschen Städten. Nach Angaben des Bayerischen Rundfunks handelt es sich um einen losen Zusammenschluss von Bauern, der keinen Vereinsstatus oder andere rechtliche Struktur hat oder anstrebt und auch nicht in Konkurrenz zum Bauernverband treten will. Die Protestbewegung sei Anfang Oktober entstanden und organisiere sich vor allem über Facebook und WhatsApp.

Ähnliche „Treckerdemos“ mit zum Teil tausenden Teilnehmern hat es in den letzten Wochen auch in Frankreich und den Niederlanden gegeben. In letzterem Fall gab es einen sehr konkreten Anlass: Die linksliberale Regierungspartei „Democraten 66“ (D66) plant, aus Klimaschutzgründen die Viehhaltung zu begrenzen. Ein D66-Vertreter sprach sich im Oktober dafür aus, den Viehbestand der Niederlande um rund die Hälfte zu senken, daraufhin kochte die Wut der Landwirte über. Im gesamten Land legten Bauern mit Straßensperren den Verkehr lahm, in Groningen versuchten sie sogar, mit Treckern ein Verwaltungsgebäude zu stürmen.

Derartige Eskalationen sind – der Atmosphäre und den Zielen des Berliner Sternmarschs nach zu urteilen – in Deutschland äußerst unwahrscheinlich. Dennoch liegt etwas in der Luft. Denn die aktuellen Konflikte um die Landwirtschaft sind nur Teil eines größeren gesellschaftlichen Konflikts. Auf der einen Seite steht eine gut situierte, meist akademisch gebildete Mittelschicht. Sie sieht sich in den Worten des Philosophen Alexander Grau als „Speerspitze des Fortschritts“. Damit sind nicht etwa technologischer Fortschritt oder Wirtschaftswachstum gemeint, sondern „postmaterialistische“ Belange wie Umweltschutz, Identitätspolitik oder globale soziale Gerechtigkeit.

„Die aktuellen Konflikte um die Landwirtschaft sind nur Teil eines größeren gesellschaftlichen Konflikts.“

Bei Themen wie „Genderfluidität“, der Überwindung von Nationalstaaten und Grenzen oder diversen „Wenden“ (Energie-, Mobilität-, Agrar-...) kann es dieser Schicht gar nicht schnell genug gehen. Doch viele Bürger können mit diesem „Fortschritt“ (und dem selbstgerechten Ton, in dem er vorangetrieben wird) nichts anfangen oder merken schlichtweg, dass er ihre materiellen Interessen bedroht. Sie rebellieren zunehmend an der Wahlurne oder schließen sich neuen parteiunabhängigen Protestbewegungen an, von denen die beeindruckendste wohl die französischen „Gelbwesten“ waren.

Der amerikanische Geograph Joel Kotkin hat beschrieben, dass sich die heutige Meinungselite als eine gut ausgebildete Expertenklasse betrachtet. Ihr Ziel ist das „Überzeugen, Unterweisen und Regulieren der übrigen Gesellschaft“, die wichtigste Quelle ihrer Autorität „die Wissenschaft“. Interessant an den aktuellen Bauernprotesten ist nicht zuletzt, wie sie an dieser Selbstwahrnehmung und -darstellung kratzen.

Denn die Bauern werfen der Politik vor, dass sie gerade nicht von Sachverstand geleitet ist. „Fakten statt Ideologien“ stand auf einem Transparent, das ich am Dienstag sah. „Liebe Politiker, bitte macht Politik mit der Wissenschaft“, stand auf einem anderen. „Was Ihr macht, ist Populismus!“, tönte es in Richtung Reichstag von der Bühne. Die Politik wird sich auf solche selbstbewussten Bürger einlassen müssen. Denn Menschen, die die vorgegebenen Erzählungen und Skripte hinterfragen, werden nicht weggehen. Für die Demokratie kann das nur gesund sein.

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