03.12.2018

Auf dem Gipfel der Zuckerreduktion

Von Detlef Brendel

Titelbild

Foto: WerbeFabrik via Pixabay / CC0

Die Krankenkasse AOK und andere Akteure möchten nach wie vor den Zuckerkonsum vermindern. Am Sinn und an den vorgeschlagenen Maßnahmen wie der Zuckersteuer darf gezweifelt werden.

Die AOK hat im Oktober erneut eine Veranstaltung zum Thema Zuckerkonsum abgehalten. Deren Titel, „Süß war gestern – 2. Deutscher Zuckerreduktionsgipfel“, suggeriert, dass der Zuckerkonsum reduziert werden muss. Diese ambitionierte Behauptung wird nicht von der Studienlage gestützt. Das aber soll das Wehklagen der Kasse über dicke und ungesunde Bürger nicht stören. Weder für Übergewicht noch für Diabetes kann Zucker mit einer eindimensionalen Kausalität verantwortlich gemacht werden. Das unterstreicht sogar das zur Veranstaltung vorgelegte Grundsatzpapier. Dort steht: „Übergewicht ist ein multikausales und gesamtgesellschaftliches Phänomen.“ Das ist korrekt. Wie man einem multikausalen und gesamtgesellschaftlichen Phänomen durch die Reduzierung des Zuckers im Joghurt begegnen will, bleibt dem logisch denkenden Mensch verschlossen.

Schon bei der Normierung des Gewichts kommen ernsthaften Wissenschaftlern Zweifel. Weltweit kritisieren Mediziner den Body-Maß-Index (BMI), mit dem Menschen zu Übergewichtigen (ab einem Wert von 25) und Fettleibigen (ab 30) standardisiert werden. Durchtrainierte Sportler, die per Definition als fettsüchtig und behandlungsbedürftig gelten? Als dick identifizierte Menschen, die nach Meta-Analysen länger leben als die Normalgewichtigen? Wie relevant ist die Positionierung von Fett am Körper? Der Zusammenhang zwischen so genanntem Übergewicht, Gesundheit und Krankheit ist längst noch nicht im Detail verstanden. Die Behauptung, an allem sei die Ernährungswirtschaft mit dem böswillig versteckten Zucker schuld, ist da doch viel eingängiger und auch schon gelernt.

Angeblich leben wir in einer „adipogenen Umwelt“, die an jeder Ecke, so das Grundsatzpapier, ungesunde Produkte anbietet. Es gibt aber keine ungesunden Produkte, sondern je nach Summe der individuell verzehrten Nahrungsmittel eine gesunde oder ungesunde Ernährung. Und selbst die ist im Hinblick auf die Gesundheit nur ein Segment des insgesamt zu betrachtenden Lebensstils.

„Es sollte aber auch niemand gezwungen werden, auf von ihm präferierte Nahrungsmittel verzichten zu müssen.“

Für die Verbraucher, speziell die aus bildungsfernen Schichten, ist die Lebensmittelkennzeichnung angeblich nicht verständlich. Wie haben wir nur die lange Zeit ohne eine solche Kennzeichnung überlebt, als auf der Quarkpackung lediglich stand, dass es sich um Quark handelt? Zucker wird nicht von der Lebensmittelwirtschaft böswillig in Nahrungsmitteln wie Joghurt oder Ketchup versteckt. Mit einem Blick auf die Verpackung kann man sich informieren, wenn man sich denn dafür interessiert. Und nicht zuletzt haben wir ein reichhaltiges Angebot an Lebensmitteln, aus dem jeder frei wählen kann. Wer auf die Limonade verzichten will, kann Mineralwasser trinken. Wer Konfitüre vermeiden will, kann Quark auf sein Frühstücksbrot streichen. Niemand wird gezwungen, bestimmte Nahrungsmittel zu essen. Es sollte aber auch niemand gezwungen werden, auf von ihm präferierte Nahrungsmittel verzichten zu müssen.

Und dann wird im Krankenkassenpapier auch noch das traditionelle Karies-Argument genannt. Hoher Zuckerkonsum soll die Entwicklung von Karies bei Kindern verursachen. Ein Dank an die Verfasser des Grundsatzpapiers, die damit dokumentieren, dass es offensichtlich keinen zu hohen Konsum gibt. Denn während der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts hatten die zwölfjährigen Kinder in Deutschland durchschnittlich sieben kariöse Zähne. Seither ist der Verzehr der angeblich verwerflichen Limonaden und Süßigkeiten eher gestiegen als gesunken. Was ist die dramatische Konsequenz? Heute sind es durchschnittlich 0,7 kariöse Zähne. Im August 2016 präsentierten die Bundeszahnärztekammer und die Zahnärztliche Bundesvereinigung ihre Mundgesundheitsstudie. Die ernüchternde Zahl: 81,3 Prozent der zwölfjährigen Kinder sind kariesfrei. Mit einem Anruf bei den Zahnärzten hätte die AOK in der Realität ankommen können. Aber will sie das?

Man argumentiert lieber mit phantasievollen Zahlen und selektiver Wahrnehmung. Wer sind die Diabetiker, die behauptete rund 63 Milliarden Kosten für das Solidarsystem verursachen? Das ist, und das macht den Pharmamarkt so gut steuerbar, eine Frage der Definition. Der mit Unterstützung der Aventis-Stiftung entstandene „Nationale Aktionsplan Diabetes“ pathologisiert große Teile der Bevölkerung. Eine Verschärfung der Grenzwerte erhöht die Zahl der therapiebedürftigen Menschen. Besonders gut lassen sich Gesunde zu Kranken machen, wenn eine neue Krankheit geschaffen wird: Prädiabetes. Das erhöht die Zahl der Betroffenen schlagartig. Da freuen sich die Pharmaunternehmen.

„Was eine Brigitte-Diät nicht schafft, wird das Finanzamt schon richten.“

Der Reduktionsgipfel der AOK hat eher den Charakter einer Show-Veranstaltung. Es ist eine Image-Kampagne der AOK, bei der sowohl auf wissenschaftliche Fakten als auch auf seriöse Begründungen verzichtet wird. Die Auswahl der Referenten und der von diesen vertretenen Themen lässt eine wirklich problemorientierte Diskussion nicht zu. Aus Amerika lädt man den Internet-Star und Ernährungsunternehmer Dr. Robert Lustig ein, der mit einer Theorie gegen den Zucker, die noch nicht einmal von ihm selbst stammt, seit Jahren ein einträgliches Geschäft betreibt.

Der Referent Dr. Tobias Effertz ist hauptsächlich dafür bekannt, bei Ernährung, Tabak, Alkohol und Glücksspiel der Regulierung und Besteuerung das Wort zu reden. Ende 2017 hat er die von den Diabetes-Vereinigungen finanzierte Studie „Die Auswirkungen der Besteuerung von Lebensmitteln auf Ernährungsverhalten, Körpergewicht und Gesundheitskosten in Deutschland“ vorgelegt. Eine Behauptung aus der Studie soll Beweiskraft vortäuschen: „Eine Veränderung der Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln […] erzielt deutliche Reduktionen in Adipositasprävalenz und Gesundheitskosten“. Dieser Gedanke  wird mit dem Begriff „gesunde Mehrwertsteuer“ geschmückt. Immerhin kann Effertz exakt vorrechnen, wie diese bei 35 bis 50 Jahre alten Männern der Mittel- und Unterschicht die tägliche Kalorienaufnahme um 162,31 Kilokalorien senkt. Die 19 bis 24 Jahre alten Männer werden durch diese Besteuerung pro Jahr 4,25 Kilogramm abnehmen. Was eine Brigitte-Diät nicht schafft, wird das Finanzamt schon richten. Und Effertz kann es bis auf die Kalorie und das Kilogramm exakt berechnen. Wer seine stattliche Erscheinung kennt, ahnt, dass er selbst auf die schlank machende Steuer hofft.

Ein Thema wird von den Image-Strategen der AOK gezielt ausgeklammert, weil es die Eindimensionalität der Argumentation stören würde und zugleich die bisherige Erfolglosigkeit der Kasse bei Public-Health-Maßnahmen dokumentiert. Über den aktuellen Lebensstil in der Gesellschaft, der wesentlich durch einen Rückgang der Bewegung geprägt wird, darf beim Gipfel nicht gesprochen werden. Sachliche Aufklärung, motivierende Kampagnen und Impulse zur Aktivierung der Menschen wären ernsthafte Herausforderungen für eine verantwortungsvolle Organisation, die sich der Gesundheit ihrer Mitglieder verpflichtet fühlt. Hier treten die multikausalen und gesamtgesellschaftlichen Phänomene des Übergewichts, von denen die Gipfelstürmer in ihrem Grundsatzpapier selbst sprechen, offen zu Tage. Aber mit solchen komplexen Phänomenen kann sich eine einfach strukturierte und auf einen Trend setzende Image-Kampagne offenbar nicht beschäftigen.

„Es waren nicht die Gummibärchen, die den Bundestagsabgeordneten Monstadt zum Typ-2-Diabetiker gemacht haben.“

Die Politik soll richten, wo der AOK nichts mehr einfallen will. Im Bundestag sitzt ein Parlamentarier, der sich mit der Forderung nach einer Zuckersteuer profiliert und zugleich das beste Beispiel dafür gibt, dass sie keinen Sinn ergibt. In der WamS wurde die Geschichte von Dietrich Monstadt (CDU) detailliert beschrieben. Sie muss hier wörtlich zitiert werden: „Er war mal sehr sportlich, hat Wasserball gespielt, hochklassig, und Handball. Er aß gern Nudeln, Pizza und italienisches Eis, große Portionen, er trank Cola, Limonade und Trinkjoghurts. Solange er viel trainierte und spielte, war das kein Problem. Als er Ende zwanzig war, kam das erste Kind, wenig später kamen die ersten Jobs als Anwalt, da blieb für den Sport keine Zeit mehr. Monstadt saß die meiste Zeit des Tages in seinem Büro, aß Mars, Schokolade und Gummibärchen. Wenn der Stress zunahm, wurden die Süßigkeiten mehr.“

Es waren also nicht die Gummibärchen, die den sitzenden Anwalt und Parlamentarier bedauerlicherweise zum Typ-2-Diabetiker gemacht haben. Es war seine unbeherrschte Kalorienzufuhr in Relation zu einer dramatischen Reduktion von Bewegung. Das mag keiner hören, weil es nicht in die beabsichtigte Tendenz passt. Wären die Gummibärchen durch eine Strafsteuer um 30 Cent pro Tüte teurer geworden, hätte es Leibesfülle und Gesundheit von Monstadt beeinflusst? Wohl kaum. Er wäre sitzen geblieben und hätte Riegel, Schokolade und Gummibärchen gegessen. Bewegung dagegen hätte ihm, seinem Gewicht und damit auch seiner Gesundheit gut getan.

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