23.04.2018

Artenparadies Truppenübungsplatz

Von Werner Kunz

Titelbild

Foto: herbert2512 via Pixabay / CC0

Nicht der Klimawandel ist schuld am Sterben vieler Schmetterlingsarten, sondern die zu dicht bewachsenen Landflächen.

„Ich kann mir nicht helfen, aber die Natur sieht heute ganz anders aus als in meiner Jugend“, sagte mir ein erfahrener Naturbeobachter. Sie sieht nicht nur für uns Menschen anders aus, sondern auch für die Tiere. Das Birkhuhn beispielsweise stammt aus der Baumgrenzen-Region im Norden und im Gebirge. Es fühlt sich nur sicher, wenn es einen Blick in die Ferne hat. Aber wo in Deutschland in Moor und Heide früher der Blick frei war, da ist er heute durch Birkenwälder verrammelt.

In Mitteleuropa findet gegenwärtig ein Artensterben statt. Zugleich hat sich in den letzten Jahrzehnten die Landschaft drastisch verändert. Es muss darüber nachgedacht werden, ob nicht beide Phänomene ursächlich miteinander zusammenhängen.

Natur- und Artenschutz im Laufe der Geschichte

In den vergangenen 150 Jahren war der Natur- und Artenschutz in ideologische Glaubenssätze eingebettet. Sie wirken bis heute nach. Das beschädigt seine Glaubwürdigkeit. Der Natur- und Artenschutz war niemals eine sachliche Angelegenheit. Es ging immer um „höhere Werte“ oder eine „moralisch-ethische Gesinnung“. Naturschützer fanden öffentlichen Beifall, selbst wenn sie ihre Argumente auf wissenschaftlicher Basis nicht begründen konnten. Wer Natur- und Artenschutz kritisierte, musste sich fast zwangsläufig schuldig fühlen.

„Der Natur- und Artenschutz war niemals eine sachliche Angelegenheit.“

Im vorigen Jahrhundert verkaufte sich der Natur- und Artenschutz zunächst pragmatisch mit Zielen, die dem Menschen dienten. Da ging es hauptsächlich um Nistkästen für Meisen und den Schutz der Ameisenhaufen, weil das der Schädlingsbekämpfung nützen sollte. Verkannt wurde, dass das mit Naturschutz wenig zu tun hat. Denn der übertriebene und einseitige Schutz der Meisen und Ameisen bedeutete gleichzeitig den Tod vieler Schmetterlinge und anderer Insekten. Bücher der Zwanziger- bis Vierziger-Jahre des vorigen Jahrhunderts teilen einzelne Tierarten nach ihrer Schädlichkeits-Nützlichkeits-Relation (selbstverständlich für den Menschen) ein; Adler oder Eisvögel bekamen dabei ziemlich schlechte Noten. Karnivore Tierarten galten weitgehend als „Räuber“, weil sie durch Fang und Verzehr von Hasen, Kleinvögeln oder Fischen dem Menschen etwas wegnahmen, was dieser allein für sich beanspruchte.

Eine ziemlich diametrale Änderung erfuhr die moralische Untermauerung des Natur- und Artenschutzes in den 1960er- und 70er-Jahren. Da ging es nicht mehr um die Beseitigung von Schädlingen und Unkräutern, sondern um eine vermeintlich „intakte“ Umwelt. Der Öko-Thriller „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson (1962) verkaufte sich bestens als apokalyptische Prognose einer Zukunft, in der Insekten und Vögel weitgehend verschwunden und die Wälder tot sein würden. In den 1980er-Jahren wurde in Deutschland das Waldsterben beklagt, das vor allem durch einen überhöhten Ausstoß von Schwefeldioxid (SO2) verursacht wurde. Tatsächlich zeigte dieses Waldsterben nur in wenigen Distrikten wirklich besorgniserregende Ausmaße, wie z.B. in den Höhenlagen des Erzgebirges. Der Bevölkerung ging es aber auch gar nicht um die toten Fichten dort, sondern um die eigene Gesundheit. Allerdings war die durch den Ausstoß von SO2 nicht gefährdet.

Hinzu kamen eine Sensationslust, ein Zulauf zu Weltuntergangsverheißungen, die eine Mehrheit der Bevölkerung begierig aufgriff, obwohl sie schon damals von Experten als weit übertrieben bezeichnet wurden. „Erst stirbt der Wald, und dann der Mensch“, lautete das Schlagwort. Ein solches Volksempfinden wurde von den Naturschutzverbänden nicht bekämpft, sondern gefördert. So gewannen sie Zulauf. In der langfristigen Perspektive aber haben sie dadurch an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

„Ein intaktes Ökosystem hat es noch nie gegeben.“

In Deutschland kam es damals zur Gründung eines schlagkräftigen Umweltschutzvereins und einer ebenso schlagkräftigen politischen Partei, die dem Umwelt- und Naturschutz eine erstrangige Bedeutung zumaßen. Sie trafen den Nerv eines inzwischen stark veränderten gesellschaftlichen Bewusstseins. Publikumswirksame Fernsehauftritte von Horst Stern, Bernhard Grzimek, Heinz Sielmann und anderen begründeten die Ideologie vom „intakten Ökosystem“, die sich erfolgreich bis zum heutigen Tag etabliert hat. Dabei hat es dieses intakte Ökosystem nie gegeben, und es kann es auch nicht geben. Dazu ist die Natur viel zu sehr auf Ungleichgewicht und Störungen angewiesen.

Ursachen des Insektensterbens

Seit einigen Jahrzehnten erlebt die Welt einen signifikanten mittleren Temperaturanstieg. Eine von mehreren Ursachen ist der starke Kohlendioxidausstoß durch Industrie und Verkehr. Dies hat Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen, weil viele Arten in ihren Biorhythmen durch die Temperatur gesteuert werden. Die Artenzusammensetzung wird sich also als Folge der Klimaerwärmung ändern.

Dabei ist zu erwarten, dass die Klimaerwärmung bei den Tieren und Pflanzen sowohl Verlierer als auch Gewinner hervorbringt. Klimaänderungen hat es in der Vergangenheit häufig gegeben. Auch diesmal wird es nicht zur generellen Ausrottung der meisten Arten kommen. Vielmehr werden einige Arten abwandern und andere zuwandern.

Die meisten terrestrischen Lebensräume sind in wärmeren Klimazonen artenreicher als in kälteren Zonen. In Mitteleuropa ist also in den kommenden Jahrzehnten eher mit einer Zu- als mit einer Abnahme des Artenreichtums zu rechnen. Viele mitteleuropäische Tagfalterarten haben z.N. das Kerngebiet ihrer Verbreitung im mediterranen Raum oder im kontinentalen Osten, wo es – zumindest im Sommer – wärmer ist. Daher wäre als Folge der Klimaerwärmung für sie eine Zunahme zu erwarten.

„Als Folge der Klimaerwärmung wäre eine Zunahme der Schmetterlinge zu erwarten. Trotzdem ist das Gegenteil der Fall.“

Trotzdem ist das Gegenteil der Fall: Wir sind heute Zeugen eines drastischen Schmetterlingsrückgangs. Einige Tagfalterarten sind in Mitteleuropa in den letzten Jahrzehnten auf Bruchteile ihres vormaligen Bestands geschrumpft; nur ganz wenige Arten haben zugenommen.

Der größte Artenreichtum an Schmetterlingen wurde in Deutschland im 19. Jahrhundert registriert. In dieser Zeit wirkte noch die „Kleine Eiszeit“ nach. Es war im Schnitt deutlich kälter, aber die Tiere – gerade die thermophilen Arten – fanden bessere Lebensbedingungen vor als heute. Woran lag das?

Viele Schmetterlinge – sowohl die erwachsenen Tiere als auch die Raupen – sind vor allem auf eine hohe Bodentemperatur angewiesen. Erwachsene Falter brauchen warme Böden, um sich zu Beginn des Tages auf der nackten Erde aufzuwärmen; viele Raupen brauchen Sonneneinstrahlung auf ihre Futterpflanzen, um sich schnell genug zu entwickeln. Heute herrscht dort, wo früher magerer Boden war, dichter und hoher Grasbewuchs. Er hält den Boden kühl und feucht. Zeitgleich hat die Beschattung des Bodens als Folge der Düngung in den letzten Jahrzehnten fast überall stark zugenommen. Die Änderung der Bodentemperatur dürfte daher eher die Ursache des Schmetterlingssterbens sein als eine allgemeine Klimaerwärmung.

Abbildung 1: Der Mauerfuchs (Lasiommata megera) benötigt als Lebensraum magere, karge Böden, die nicht mit Vegetation überwachsen sind (Foto: Werner Kunz).

In früheren Jahrhunderten litt die Landwirtschaft am Mangel an Stickstoff. Karge Erträge und damit auch Hungersnöte waren die Folge. Durch die synthetische Herstellung des Stickstoff-Mineraldüngers konnten nach dem Zweiten Weltkrieg Äcker und Wiesen in Deutschland flächendeckend gedüngt werden. Zudem entweichen aus den Verbrennungsmotoren in Verkehr und Industrie große Mengen Stickstoff in die Atmosphäre und regnen mit den Niederschlägen wieder herab. So werden auch Flächen abseits der Landwirtschaft kräftig gedüngt.

„Die Änderung der Bodentemperatur dürfte eher die Ursache des Schmetterlingssterbens sein als eine allgemeine Klimaerwärmung.“

Parallel dazu ging die Schaf- und Ziegenbeweidung auf Talsohlen, Berg- und Hügelhängen zurück. Rinder, Pferde und Schweine wurden nicht mehr in die Wälder getrieben. Artenreiche Hudewälder verschwanden. Außerdem wurde Holz nicht mehr zur Feuerung gebraucht. Büsche wurden nicht mehr abgeschlagen und die Wälder nicht mehr ausgedünnt. Und schließlich verschwand auch die alte landwirtschaftliche Tradition des Abplaggens der Humusschicht aus Heiden und Wäldern, weil Plaggen nicht mehr als Streu in Kuhställen gebraucht wurden.

All das hatte zur Folge, dass in Mitteleuropa fast überall die Vegetation überhandnahm. Dadurch hat sich die Landschaft in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert, und mit ihr das Mikroklima am Boden. Immer dichterer Graswuchs und die ungehinderte Ausbreitung von Gebüschen und Bäumen reduzierten die Einstrahlung der Sonne auf den Erdboden. Das Kronendach der Wälder hat sich geschlossen, es gibt fast keinen Raum mehr für besonnte Waldwege mit Blütensäumen. Viele der letzten blüten-, schmetterlings- und eidechsenreichen Habitate in den großen Waldgebieten finden sich unter den Stromtrassen der Überlandleitungen. Es ist alles eher in Richtung auf ein „Cooling“ als auf ein „Warming“ zugegangen.

In den vergangenen Jahrhunderten war die Wildnis in Mitteleuropa nicht der Wald. Es waren die ihrer Vegetation beraubten Trockenhänge. Zwergstrauchheiden, Wacholderheiden, steppen- bis halbwüstenähnliche Flächen. Geröllebenen und Sanddünen waren in Norddeutschland, auf den Hochflächen der Mittelgebirge, in Rheinhessen und andernorts die dominierenden Landschaften. Gemälde und Aquarelle aus früheren Jahrhunderten zeigen fast durchweg bis an den Horizont reichende busch- und baumarme Flächen in den Ebenen oder kahle, steinige Trockenflächen an den Hängen der Gebirge. Die Landschaft erinnerte eher an den Mittelmeerraum, die Steppen des Ostens oder die Baumgrenze des Nordens als an das heutige Herz Mitteleuropas. Allein dieser Blick auf das Landschaftsbild des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts macht verständlich, warum Segelfalter, Scheckenfalter-Arten, Bläulinge und viele andere Arten früher so viel häufiger waren als sie heute sind.

Künstliche Lebensräume

Viele der ehemals häufigen und heute selten gewordenen Vogel- und Insektenarten, Säugetiere, Reptilien und Amphibien haben sich auf Truppenübungsplätzen und Industriebrachen, in Kiesgruben und auf Tagebauflächen angesiedelt und dort überlebt. Sie finden dort ihre Lebensräume auf offenen Erd-, Sand- und Kiesböden, in Panzer- und Wagenspuren, Steinhaufen, aufgewühlten Oberflächenstrukturen, auf Abbruchkanten und in kleinen Flachgewässern, die nicht verkrautet sind. Truppenübungsplätze und Tagebauflächen sind wald- und buschfreie Offenflächen mit nährstoffarmen Oberböden – und damit durchweg Habitate, die in der heutigen „Normal-Landschaft“ fehlen. Mit solchen Habitaten sind viele Arten verloren gegangen. Das Militär und die Industrie haben also gewissermaßen die Aufgabe übernommen (wenn auch aus völlig anderer Zielsetzung), Ersatzflächen für Habitate zu schaffen, die andernorts verloren gingen. Eine Aufgabe, die eigentlich von den Naturschutzverbänden hätte aufgegriffen werden müssen.

Eine Reihe stark rückläufiger Tierarten werden von Naturschützern gerne als Opfer der Klimaerwärmung dargestellt – etwa der Fitislaubsänger und die Turteltaube. Auf Truppenübungsplätzen und Tagebauflächen sind diese Arten allerdings heute noch ebenso zahlreich wie vor einigen Jahrzehnten. Offenbar ist also nicht der „Klimawandel“ ursächlich für ihr Verschwinden. Auch die in der Landwirtschaft eingesetzten Pflanzenschutzmittel werden häufig dafür verantwortlich gemacht, die Hauptursache des heutigen Insektensterbens zu sein. Ein erfahrener Entomologe ist davon jedoch nicht leicht zu überzeugen; er sieht schließlich genau, wie sich das Habitat verändert hat.

„Nährstoffarme karge Flächen müssen auf ausgewiesenen Sonderflächen künstlich geschaffen werden.“

Es fällt auf, dass viele Rote-Liste-Arten-Bewohner von Extrembiotopen sind. Solche Habitate wurden in früheren Jahrhunderten durch Großbrände, Orkane und Überschwemmungen geschaffen, auch durch die Übernutzung landwirtschaftlicher Flächen. Heute fehlen diese Flächen, weil die Folgen von Naturkatastrophen schnell beseitigt werden und Aufforstung als hohes Gut gilt.

Aus Gründen des Artenschutzes wäre es sinnvoll, Brand-, Sturm- und Überflutungsschäden einfach nicht zu beseitigen. Dies wäre jedoch gesellschaftlich nicht durchsetzbar, ebenso wenig, wie Verkehr und Industrie drastisch herunterzuschrauben, damit der Stickstoffausstoß reduziert wird. Das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden. Daher gibt es für die Erhaltung vieler Arten in Mitteleuropa nur eine Lösung: Die nährstoffarmen kargen Flächen, die in früheren Jahrhunderten das Landschaftsbild geprägt haben, müssen auf ausgewiesenen Sonderflächen künstlich geschaffen werden. Dass dieses Ziel realisierbar ist, beweisen die Truppenübungsplätze und Industriebrachen, die Kiesgruben und die Tagebauflächen.

Abbildung 2: Artenschutzmaßnahme der Zukunft: Auf den Löwenstedter Sandbergen (Schleswig-Holsteinische Geest) wurden im Jahre 2014 auf über 2000 Quadratmetern Büsche und Bäume entfernt und mit dem Kettenbagger die Grassoden abgeplaggt. So entstand wieder eine nährstoffarme Heidefläche, die dem Goldenen Scheckenfalter Lebensraum bietet (Foto mit Erlaubnis der „Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein“).

Land- und Forstwirte könnten beauftragt werden, mit ihren Geräten Habitate zu schaffen, wie sie früher durch Naturkatastrophen, Übernutzung der Agrarflächen, Viehfraß und Holzentnahme entstanden sind. Aber dazu sind nicht nur Flächenkauf und weitere Geldmittel nötig. Der größte Hemmschuh, solche Projekte zu verwirklichen, ist das Bewusstsein einer Mehrheit der Bevölkerung, die immer noch den Naturschutzidealen des vorigen Jahrhunderts verhaftet ist. Es ist äußerst schwierig, vielen Menschen deutlich zu machen, dass einige seltene Tiere nur gerettet werden können, wenn „die Natur“ zerstört wird.

Würden die Naturschutzverbände dem Artenschutz einen höheren Stellenwert einräumen, dann stünden sie vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssten eingestehen, dass manche ihrer Prämissen des vorigen Jahrhunderts überdacht werden müssen. Damit laufen sie jedoch Gefahr, Mitglieder zu verlieren. Viele Deutsche setzen die Natur den Wäldern gleich und sind nach wie vor den Unberührtheitsidealen verhaftet („Die Natur wird es schon richten, wenn man sie nur in Ruhe lässt“). Sie erkennen nicht, dass wir in Mitteleuropa seit mehr als tausend Jahren keine unberührte Natur mehr haben.

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