03.02.2014

Betreten verboten!

Analyse von Josef H. Reichholf

Warum Naturschutzverordnungen und Artenschutzbestimmungen den Menschen nicht der Natur entfremden, sondern ihn an sie heranführen sollten. Denn nur dann werden wir uns ihres Werts bewusst

Wir alle sind Naturfreunde. Naturschutz ist uns ein großes Anliegen. Wir sorgen uns um Eisbären am Nordpol, um Pandas in China und um Meisen am winterlichen Futterhaus. Dafür geben wir Geld aus; ziemlich viel sogar. Der Naturschutz ist ein großes Geschäft für die Naturschutzorganisationen und ihr Personal. Und es tut allemal gut, für den Naturschutz gespendet zu haben. Natur wollen wir genießen. Dazu fahren wir „hinaus in die Natur“. Doch der Weg in die Natur ist gespickt mit Verboten. Wo sie ihre Bezeichnung dem Wortsinn nach verdienen würde, bleibt sie uns meistens sogar versperrt.

Bezeichnende Zeichen

Zwei Zeichen halten fast alle von uns von „der Natur“ fern. Das eine ist jenes Straßenverkehrsschild, das es in der Stadt selten gibt: Roter Ring um ein weißes Feld mit einem Auto und ein Motorrad darin. Gesperrt für Kraftfahrzeuge! Oder auch roter Ring auf ganz weißem Grund = total gesperrt. „Frei für Land- und Forstwirtschaft“ steht meistens darunter. In der „freien Natur“ sind diese Sperrzeichen die mit Abstand häufigsten Verkehrsschilder. Es verwehrt die Fahrt in das größte Straßennetz überhaupt, das Netz, das Feld und Flur und den Wald durchzieht. Man könnte es zwar mit dem Rad befahren oder zu Fuß gehen, aber dazu fehlen die Möglichkeiten, das Auto an geeigneter Stelle parken zu können. Das „Land“ bleibt damit de facto für die Bevölkerung gesperrt, da nur Anlieger, die ohnehin meist auch die Besitzer der landwirtschaftlichen Nutzflächen sind, nahe genug leben, um auch per Rad oder zu Fuß hinaus in die Natur zu können. Die Stadtbevölkerung braucht das Auto für die Anfahrt. Sie aber hat das landwirtschaftliche Straßennetz mit Steuermitteln bezahlt, nicht die Landwirte! Diese fahren hingegen ganz selbstverständlich und ohne sich um die Folgen für den Straßenverkehr zu kümmern, mit ihren Traktoren und Mähdreschern auf Bundesstraßen und durch die Ortschaften zu jeder Tages- und zu fast jeder Nachtzeit, den Sonntag mit eingeschlossen. „Das Land“ hat ein höchst wirkungsvolles Mittel entwickelt, dem größten Teil der Bevölkerung den Zugang zur „freien Natur“ so stark einzuschränken, dass sie in der Praxis unzugänglich ist. Noch stärker versperrt sind uns die Wälder, gleichgültig ob private oder Staatsforste. An diesen kann man dann mit Staunen lesen „Der Wald ist dein Wald“. Einfahrt aber verboten, außer für den Forstbetrieb. Gäbe es da nicht wenigstens die Stadtparks …!

„Wo die Natur ihre Bezeichnung dem Wortsinn nach verdienen würde, bleibt sie uns meistens versperrt.“

Rund 90 Prozent unserer Landesfläche und damit das große Vorfeld der Natur unterliegen diesen Beschränkungen. „Betreten verboten“ heißt es sodann knallhart, wenn es um die „eigentliche Natur“ geht, um die Naturschutzgebiete. Das grüne, auf der Spitze stehende Dreieck, in dessen weißer Mitte in gut amerikanischer Tradition Westdeutschlands nicht unser Seeadler, sondern der nordamerikanische Weißkopf-Seeadler fliegt, oder unter der ostdeutschen Eule, die selbiges, nämlich Naturschutzgebiet bedeutet, steht dann klar und unmissverständlich, dass wir nicht hineindürfen. Oder es gibt darunter eine ganze Palette von Verboten, wie sich hinzusetzen („lagern“) oder Radio zu hören (was heutzutage oft als „Handyverbot“ gedeutet wird). Mit Geschick kann man bei gründlichem Studium gerade noch herauslesen, dass man auf den Wegen zu bleiben hat, wenn man (doch) hineingeht. Geschützte Natur ist bei uns Kulisse.

Notwendigkeiten und (Hinter-)Gründe

Es sollte gute Gründe geben, dass Natur durch erschwerte Anfahrt und Zugangsverbote vor uns Menschen geschützt wird, die wir uns so sehr für ihre Erhaltung einsetzen. Worin bestehen diese Gründe? Die Naturschutzverbände beklagen seit Jahrzehnten den Flächenverbrauch von mehr als einem Fußballfeld pro Tag und den fortschreitenden Artenschwund. Aufwändige und kostspielige Artenschutzmaßnahmen sollen letzteren stoppen. Gegen den Flächenverbrauch helfen nur Ersatzmaßnahmen, die bei „Eingriffen in den Naturhaushalt“ fällig werden – und ebenfalls viel Geld kosten. Offizielle Angaben zur Gefährdung unserer Natur seitens der Naturschutzbehörden gibt es zuhauf. So gilt nach umfangreichen (Auftrags-)Recherchen des Bayerischen Landesamtes für Umweltschutz rund die Hälfte aller frei lebenden Tierarten und wild wachsenden Pflanzenarten Bayerns in mehr oder weniger großem Umfang als gefährdet. Schon seit über einem Jahrzehnt ist das so. Eingestuft worden waren alle in Bayern „wild“ vorkommenden Pflanzenarten (über 3.000) sowie 16.000 Tierarten (etwa die Hälfte des in diesem flächengrößten Bundesland vorkommenden Artenbestandes). Für das Urlaubsland Bayern, das mit seiner Natur intensiv wirbt, war das wahrlich kein erfreulicher Befund am Beginn des 21. Jahrhunderts. Kenner der Verhältnisse gehen sogar von noch weit schlechteren Verhältnissen aus, weil viele einst häufige Arten inzwischen stark rückläufig und regional schon selten geworden sind; Arten, die noch nicht von den offiziellen Gefährdungsgraden erfasst wurden. Wenn überhaupt, befindet sich lediglich ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten Bayerns auf der sicheren Seite. In anderen, dichter besiedelten Bundesländern müssten die Verhältnisse noch schlechter sein. Weniger stark gefährdet ist die Natur hingegen in Ostdeutschland. Hätte die Wiedervereinigung dem Westen nicht das großartige und so reichhaltige Naturpotenzial der ehemaligen DDR als Einstandsgeschenk gebracht, stände es katastrophal um die Natur in Deutschland. Also sind die Maßnahmen und Einschränkungen doch vollauf gerechtfertigt!

„Ausgerechnet die Städte, die der Natur doch besonders weit entrückt sind, zeichnen sich durch ein höchst artenreiches Tier- und Pflanzenleben aus.“

Sie sind es nicht! Das beweist eine Vielzahl anderer Befunde. So zeichnen sich ausgerechnet die Städte, die der Natur doch besonders weit entrückt sind, durch ein höchst artenreiches Tier- und Pflanzenleben aus. Nach dem Kriterium des Artenreichtums würde so manche Stadt den Status eines international bedeutsamen Schutzgebietes verdienen. Spitze ist Berlin, unsere Hauptstadt, die „Hauptstadt der Nachtigallen“, wie sie genannt werden könnte, weil über tausend davon im Stadtgebiet singen – mehr als in so ziemlich allen Naturschutzgebieten Deutschlands. Von bedrohten Fledermäusen bis zu Wildschweinen und Wanderfalken, seltenen Käfern und raren Schmetterlingen kommen so viele unterschiedliche Tiere im Berliner Stadtgebiet vor, dass es kaum einen anderen Ort mit vergleichbarer Artenvielfalt gibt. Zwei Drittel aller Vogelarten, die in Deutschland regelmäßig brüten, nisten auch in Berlin. Ganz ähnlich sieht es in Hamburg, Köln, München und anderen Großstädten aus. Generell gilt: Je größer die Stadt, desto größer auch der Artenreichtum an Tieren und Pflanzen (die Zier- und Nutzpflanzen oder die Haustiere selbstverständlich nicht gerechnet!). Wo immer die Verhältnisse genauer untersucht wurden, stellte sich heraus, dass es schon auf kleinen unbebauten Flächen in Großstädten einen geradezu phänomenalen Reichtum von Schmetterlingen, vor allem an nachtaktiven Arten, gibt. Die Zahl der wild wachsenden Pflanzenarten erreicht im Stadtgebiet oft etwa die doppelte Höhe wie auf gleich großen Flächen des Umlandes. Beeindruckend ist die Häufigkeit der Tiere. Millionenstädte der Menschen sind auch Millionenstädte der Vögel. Vielleicht wird es schon bald die auf dem Land verschwindenden Spatzen nur noch in den Städten geben. Die Großstadt gilt inzwischen durchaus als rettende Insel für draußen in Feld und Flur vom Aussterben bedrohte Arten.

Und all das, obwohl so viele Menschen auf so engem Raum in der Stadt leben, während das Land mit Feld, Flur und Wald eigentlich die große Freiheit für das Getier bieten sollte. Wer Rehe oder gar Füchse draußen mal sieht, wird nicht gerade den Eindruck paradiesischer Verhältnisse für das Wild in freier Natur haben; wiederum in krassem Gegensatz zur Stadt, wo z.B. in Berlin (auch „Hauptstadt der Wildschweine“) Mutter Sau ganz ungeniert am Straßenrand ihre Ferkelchen säugt und die Kinderschar sodann unter Beachtung der Verkehrsregeln bei „Rot“ für die Autos über die Straße dirigiert; wo Habicht und Falke nicht gleich abgeschossen werden, weil sie eine Taube fingen und keine Hundertschaft der Polizei ausrückt, wenn ein echter Automarder sein Unwesen treibt oder ein Waschbär nächtens die Ruhe stört. Die freie Natur brachte Bruno, den Bären, in tödliche Gefahr, als er es wagte, aus Italien in Bayerns Gebirgswälder vorzudringen. Damit bedrohte er den Alpenfrieden und verscherzte sich das angeblich bayrische Prinzip von „leben und leben lassen“. Der gewöhnliche Fuchs darf hingegen in München im Botanischen Garten oder in den Gärten der Nobelvillen unbehelligt auch am Tag leben. Was es mit der „freien Natur“ auf sich hat, ist recht gut an den so genannten Fluchtdistanzen der größeren Tiere abzulesen. Groß, sehr groß sind diese draußen, während sich die Tiere in der Stadt vertraut geben und die Menschen nicht von vornherein als Gefahr oder Feind einstufen.

Artenschwund und Artenschutz

Wie kommt es aber nun, dass so viele frei lebende Tier- und wild wachsende Pflanzenarten gefährdet sind, wenn es ihnen sogar in den Großstädten gut geht? Warum werden die „Roten Listen der gefährdeten Arten“ länger und länger, und das nach inzwischen fast einem halben Jahrhundert intensiven Naturschutzes? Warum wird uns Natur vorenthalten, wenn sie sich in der Stadt von selbst entfaltet?

Nun, es stimmt, dass sehr viele Arten heutzutage weit seltener als früher sind, dass naturnahe Flächen („Biotope“) schwinden und immer mehr Seltenheiten ganz aus unserem Land verschwinden. Die objektiven Befunde drücken diese Tatsachen aus. Wir sollten sogar von noch ungünstigeren Verhältnissen ausgehen. Denn die Entwicklungen stehen nicht still. Sie laufen weiter. Also sind die Gesetze und Verordnungen, die als Gegenmaßnahmen erlassen worden sind, offenbar ziemlich unwirksam. Tatsächlich treffen sie die Falschen. Sie halten die Interessierten von der Natur fern und entfremden sie ihr nach und nach, weil Kinder und Jugendliche keinen Kontakt mehr zur frei lebenden Natur bekommen. Zu wenig auf jeden Fall. Das liegt keineswegs nur am Handy, Smartphone und Computer, an Facebook und Computerspielen. Die Artenschutzbestimmungen sagen ganz klar: „Hände weg“. Auch die Lehrer, die Schulen und Universitäten sind nicht ausgenommen, geschweige denn die Forschung. Die nähere Beschäftigung mit der geschützten Natur bedarf der Ausnahmegenehmigung! Natur ist nicht mehr normal, sondern etwas, das nur noch mit großen, mitunter sogar unüberwindbaren Schwierigkeiten zu erreichen ist. Natur darf als Kulisse vorbeiziehen, aber nicht „betreten“ werden, sonst bleibt ein (schwerwiegender!) „ökologischer Fußabdruck“ zurück. Natur sollten wir uns tunlichst im Fernsehen ansehen, aber nicht in der Natur. Dort sind wir unerwünschte Eindringlinge, Störenfriede, eine Zumutung. Dafür halten uns jene Kreise, die für die Bestimmungen des Naturschutzes verantwortlich sind. Uns gelten all die Beschränkungen und Verbote, nicht den Verursachern der Rückgänge, der Veränderungen. Sie bleiben von den Schutzbestimmungen ausgeschlossen.

„Es stimmt, dass sehr viele Arten heute weit seltener als früher sind. Also sind die Gesetze und Verordnungen, die als Gegenmaßnahmen erlassen worden sind, offenbar ziemlich unwirksam.“

Dass wir kaum noch naturnahe Flächen haben und sehr viele Tier- und Pflanzenarten viel seltener als früher sind, liegt an der geänderten Form der Landnutzung. Die Landwirtschaft ist hoch produktiv (gemacht worden). Das phänomenale Leistungsniveau hat seinen Preis. Wir wollen ihn aber nicht bezahlen, sondern billigste Nahrungsmittel bekommen. Wenn wir den Artenrückgang beklagen, sollten uns Gegenmaßnahmen etwas wert sein. Zum Beispiel einen Großteil der Mittel, die unseren Naturschutzverbänden zur Verfügung stehen. Sie sollten diese direkt einsetzen zur Gestaltung und Bewirtschaftung von Flächen, so dass diese besonders artenreich werden oder dieser und jener Art Lebensmöglichkeiten bieten. Es ist absurd, dass gerade der Naturschutz im Schulterschluss mit den „Grünen“ die Energiewende forderte (und bekam), aber blind dafür war, dass Windräder, Biomassepflanzungen und Solaranlagen „Natur“ verbrauchen. Die staatlichen Naturschutzgebiete sollen erhalten, was mit dem Grundkonzept des staatlichen Naturschutzes nicht zu erhalten ist. Weil es diesem an den Mitteln mangelt. Den an der Natur Interessierten wird aber verboten, verboten und weiter verboten, ohne dass die Verbote ihre Wirksamkeit, ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen müssen. Der „Bevölkerung“ kann so gut wie nichts angelastet werden, was substanziell zum Schwund von Natur beigetragen hat. Am wenigsten sicher den Käfer- oder Schmetterlingssammlern, die fast alle einmal als Kinder oder Jugendliche damit angefangen haben. Oder der Forschung, die durch die Schutzverordnungen so extrem eingeschränkt wurde, dass es von den Universitäten aus leichter (und ergiebiger) ist, in Afrika zu forschen als in geschützter Natur in Deutschland. Konrad Lorenz hätte als junger Mann unter den heutigen Bedingungen niemals die Genehmigungen zur Haltung von geschützten Vögeln bekommen, die seine bahnbrechenden Forschungen und die Entwicklung der Vergleichenden Verhaltensforschung ermöglichten und ihm den Nobelpreis eintrugen.

Ändern ließe sich das ohne jegliche Kosten. Es müssten lediglich all jene Gesetze und Verordnungen zusammengestrichen werden, die sich als unwirksam und die Falschen treffend herausgestellt haben. Nur wenige Tierarten bedürfen wirklich eines strengen Schutzes. Vermindern sie, weil nicht mehr verfolgt, ihre Scheu, kommen die meisten mit den Verhältnissen in der modernen Welt erstaunlich gut zurecht. Seeadler oder Fischadler können auch in Städten brüten. Sie tun das in militärischen Übungsgebieten, wo scharf geschossen wird, aber nicht auf sie. Schleiereulen nisten in Kirchtürmen, sofern diese nicht vergittert werden, und halten das ohrenbetäubende Dröhnen der Glocken aus; sogar als winzige Nestlinge, als die sie aus den Eiern schlüpfen.

„Wir brauchen dringend wieder einen besseren Zugang zur Natur, und keineswegs noch mehr Einschränkungen.“

Wir brauchen dringend wieder einen besseren Zugang zur Natur, und keineswegs noch mehr Einschränkungen. Nur dann werden zunehmend größeren Zahlen von Menschen Wert und Schönheit der Natur bewusst. Dann steigen die Chancen, dass das getan wird, was zur Erhaltung und Förderung führt, nämlich die Abwägung, was uns dieser oder jener Ertrag „wert“ ist oder kosten darf.
Spektakuläre Comebacks beweisen, dass es geht. In Deutschland leben inzwischen so viele Biber wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Allein der in Bayern lebende Teil des mitteleuropäischen Biberbestandes dürfte inzwischen über 25.000 Tiere umfassen. Wir haben wieder Wölfe im Land und mehr Adler in Ostdeutschland als in jedem anderen europäischen Land vergleichbarer Größe. Nicht alles, was frei lebende Tiere tun oder wild wachsende Pflanzen verursachen, wird gleich als „Schaden“ eingestuft. Wir sind auf dem Weg zu besseren Abwägungen; nicht zuletzt auch, weil wir uns das leisten können.
Die Naturschutzverordnungen und Artenschutzbestimmungen sollten uns verstärkt an die Natur heranführen und nicht von ihr fernhalten. Diese Forderung schließt auch die Sperrschilder auf dem Land ein. Sie gehören weg und ersetzt durch ein wechselseitig rücksichtsvolles Verhalten. Denn Stadt und Land stehen in einer Symbiose zueinander. Sie muss für beide Seiten von Vorteil sein. Dann wird sie Bestand haben.

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