19.12.2025

Als Russland den Krieg verlor

Von Gunter Zimmermann

1856 endete der Krimkrieg, Russland musste Zugeständnisse machen. Vielleicht können damalige Geschehnisse als Inspiration für den Umgang mit dem heutigen Ukrainekrieg dienen.

Friedenspläne, die von Aufforderungen zur Kapitulation nicht zu unterscheiden sind, werden Europa keinen Frieden bringen, sondern einen fortdauernden ‚Kalten Krieg‘. Für die Überlegungen, wie der Krieg in der Ukraine und in Russland beendigt werden kann, bieten dagegen das Ende des Krimkriegs (1853 bis 1856) und der Pariser Friede 1856 ein ausgezeichnetes Modell.

Nach der größtenteils gescheiterten Revolution von 1848/49 hatte sich ein nachrevolutionäres Unbehagen in ganz Europa ausgebreitet, das in einem psychologischen Sinne nach Entladung suchte. In diese liberale Missstimmung auf dem Kontinent flossen ein die Unzufriedenheit mit dem mehr oder weniger seit dem Wiener Kongress herrschenden Frieden einerseits und der Wunsch nach Aufhebung der konservativen Fesseln andererseits, die zwar den bestehenden gesellschaftlichen, politischen und religiösen Zustand garantierten, aber jeden Fortschritt zu ersticken drohten.

In dieser Situation genügten die inner-christlichen Streitigkeiten im Heiligen Land, um den Funken zu einem allgemeinen Krieg zu entzünden. Die Privilegien, die den römisch-katholischen Geistlichen, Mönchen und Pilgern in einem Vertrag von 1740 eingeräumt worden waren, hatten die griechisch-orthodoxen Gläubigen im Lauf der Zeit immer mehr beeinträchtigt und beschränkt. Der im Dezember 1852 zum Kaiser ausgerufene Napoleon III. verlangte deswegen von der Hohen Pforte, sich um die Wiederherstellung der verlorenen Vorrechte der römisch-katholischen Konfession zu kümmern. Unabhängig von den rechtlichen Fragen war der osmanische Sultan Abdülmecid I. gerne bereit, den französischen Forderungen nachzugeben, da er sich davon politisch Unterstützung gegen das ihn existenziell bedrohende Zarenreich erhoffte. Der französische Kaiser betrachtete dagegen die Teilnahme an diesem Streit als günstige Gelegenheit, sich als politischer Anwalt der Katholiken zu profilieren und mit der Zustimmung der römisch-katholischen Mehrheit in Frankreich sein eigenes Regime zu stärken.

Vorgeschichte des Krieges

Zar Nikolaus I., in liberalen Kreisen verhasst als „Gendarm Europas“, war jedoch nicht gewillt, die „gewohnheitsrechtlich“ errungenen Positionen der griechisch-orthodoxen Christen im Heiligen Land aufzugeben. Er verstand sich als Schutzherr dieser christlichen Konfession, für die er sich unter allen Umständen engagieren wollte. Darüber hinaus war er wie viele Russen davon überzeugt, dass die Hagia Sophia in Konstantinopel als „Mutter“ der russisch-orthodoxen Kirche und als historisches Bindeglied zur orthodoxen Welt des östlichen Mittelmeers und des Heiligen Landes das geistige Zentrum des russischen Reiches bilde.

Dass der religiös begründete Zugriff auf die Hauptstadt des Osmanischen Reiches geopolitisch bedeutete, die wichtigen Meerengen des Bosporus und der Dardanellen unter Kontrolle zu bekommen und damit von den eisfreien Häfen im Schwarzen Meer aus den Zugang zum Mittelmeer und zum Balkan zu erhalten, minderte seinen Eifer in keiner Weise. In diesem Sinne wollte er in diesem Augenblick den inneren Zerfall des „kranken Manns am Bosporus“ nutzen, um die eigene Macht massiv zu steigern und das Gebiet des Zarenreiches enorm zu vergrößern.

„Die Ziele der britischen Politik sollten deswegen in erster Linie die Schwächung des Zarenreichs sein, die Eindämmung seines unverhohlenen Expansionsstrebens und die Aufhebung seines hegemonialen Griffs auf die europäischen Staaten.“

Ende Februar 1853 wurde Fürst Menschikow, der über keine diplomatischen Erfahrungen verfügte, nach Konstantinopel gesandt. Er hatte unmissverständlich die Forderung des Zaren nach dem Protektorat über alle orthodoxen Christen im Osmanischen Reich vorzubringen, die damals rund ein Drittel von dessen Bevölkerung ausmachten. Der Sultan, unterstützt durch den einflussreichen britischen Botschafter Stratford Canning, wies das Begehren rundweg zurück. Unter großem Eklat verließ Menschikow am 21. Mai Konstantinopel, Russland brach die diplomatischen Beziehungen zur Hohen Pforte ab.

Kriegsausbruch und -verlauf

Am 26. Juni erging der Befehl an die beiden russischen Armeen in Bessarabien, die unter türkischer Oberhoheit stehenden Donaufürstentümer Moldau und Walachei (das heutige Rumänien) zu besetzen. Dem französischen Gesandten ließ der Zar mitteilen, es gehe nicht um die Eroberung türkischen Bodens, es handle sich auch um keine „feindselige Aktion“, sondern Intention sei allein die Beschaffung „materieller Garantien“, der Gewinn eines Pfands zum Erzwingen der Achtung religiöser Rechte im Osmanischen Reich. Wie dem auch sei, der russische Oberbefehlshaber überschritt mit 80.000 Mann den Pruth und errichtete sein Hauptquartier in Bukarest.

Die liberalen Kabinettsmitglieder in London unter Führung Lord Palmerstons, damals Minister des Inneren, betrachteten das russische Vorgehen als Bruch des Völkerrechts, das unter keinen Umständen geduldet werden dürfe. Machtpolitisch sahen sie darüber hinaus die Chance, im grundlegenden, weltumspannenden Gegensatz zwischen dem Vereinigten Königreich und Russland die eigene Position entscheidend zu verbessern. Dem Zaren entschlossen entgegenzutreten musste daher das Gebot der Stunde sein. Die Ziele der britischen Politik sollten deswegen in erster Linie die Schwächung des Zarenreichs sein, die Eindämmung seines unverhohlenen Expansionsstrebens und die Aufhebung seines hegemonialen Griffs auf die europäischen Staaten. Außerdem standen die fortschrittliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Verwirklichung religiöser Toleranz auf der liberalen Agenda.

Napoleon III., der diesen liberalen Zielen als selbststilisierter Erbe der Französischen Revolution zustimmte, hatte weitergehende Motive zur Kooperation mit dem Vereinigten Königreich. Sein machtpolitisches Streben war, Frankreich aus der Isolation herauszuführen, in die es seit 1830 durch die unglückliche Politik des „Bürgerkönigs“ Louis Philippes geraten war, und ihm als Großmacht das Gewicht in der europäischen Pentarchie wiederzugeben, das es nach französischer Ansicht auf dem Wiener Kongress 1815 verloren hatte.

Nachdem am 16. Oktober 1653 die Türkei – wiederum durch den britischen Gesandten ermutigt – Russland den Krieg erklärt hatte, rückte General Omar Pascha gegen die russische Armee an der Donau vor und errang in der Schlacht von Oltenitsa am 4. November den ersten Sieg.

„Über den Begriff Krimkrieg sollte aber nicht vergessen werden, dass Kampfhandlungen auch im Ostseeraum, im Weißen Meer und der Barentssee sowie im Fernen Osten stattfanden.“

In einer Konferenz in Wien einigten sich die vier Mächte Großbritannien, Frankreich, Preußen und Österreich am 5. Dezember zur Unterzeichnung eines Protokolls, in dem der Bestand des Osmanischen Reiches innerhalb der ihm von den völkerrechtlichen Verträgen bestimmten Grenzen als eine notwendige Bedingung des europäischen Gleichgewichts bezeichnet und jede territoriale Veränderung für ausgeschlossen erklärt wurde. Eine zum Protokoll gehörige Kollektivnote forderte den Sultan auf, die Bedingungen zu nennen, unter denen er zu Friedensverhandlungen bereit wäre.

Gestützt auf dieses Protokoll, am 13. Januar 1854 erneuert, schlossen Großbritannien und Frankreich am 12. März einen Kriegshilfevertrag mit dem Osmanischen Reich, das die Entsendung eines britisch-französischen Expeditionskorps in Aussicht stellte. Schon vorher hatten die Westmächte am 27. Februar ein Ultimatum nach St. Petersburg gesandt, in dem sie die Räumung der Donaufürstentümer bis zum 30. April forderten. Eine ungenügende Antwort wollten sie selbst, bestärkt durch Österreich und Preußen, als Kriegserklärung betrachten. Der Zar hielt es für angemessen, keine Stellungnahme abzugeben und ließ dies dem britischen Konsul mitteilen. Damit war der Kriegszustand eingetreten, den Großbritannien und Frankreich am 27. März, Russland am 11. April der Welt bekanntgaben.

Das zentrale Ereignis des Krieges war sicherlich die Belagerung und der Fall der russischen Festung Sewastopol am 8. September 1855, das in West- und Mitteleuropa den militärischen Auseinandersetzungen den Namen „Krimkrieg“ verlieh. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass Kampfhandlungen auch im Ostseeraum, im Weißen Meer und der Barentssee sowie im Fernen Osten stattfanden.

Nach der Eroberung Sewastopols wollten die Westmächte trotz weitverbreiteter Kriegsmüdigkeit in den eigenen Ländern den Feldzug fortsetzen, als eine überraschende Wendung eintrat. In einem Ultimatum vom 16. Dezember drohte Österreich dem Zarenreich, bei Fortdauer der militärischen Auseinandersetzungen ebenfalls in den Krieg einzutreten. Zar Alexander II, Nachfolger seines im März 1855 verstorbenen Vaters, und seine politischen und militärischen Berater, die die Aussichtslosigkeit weiteren Widerstandes einsahen, stimmten in der entscheidenden Sitzung des Staatsrats am 15. Januar 1856 mit einer Ausnahme der Annahme des Ultimatums und der Aufnahme von Friedensverhandlungen zu. Am 1. Februar versammelten sich die Vertreter des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Österreichs und Russlands noch einmal in Wien und verabredeten, dass innerhalb von drei Wochen der Friedenskongress in Paris beginnen solle.

„Wichtiger als die im Frieden von Paris erreichte Verwirklichung der Kriegsziele der Westmächte sind die weltgeschichtlichen Veränderungen, die durch den Krimkrieg herbeigeführt wurden.“

Am 30. März 1856 schloss das Zarenreich mit seinen Kriegsgegnern und den nicht kriegsführenden Staaten Österreich und Preußen den Frieden von Paris, in dem die „Vier Punkte“, die Großbritannien und Frankreich Anfang August 1854 als ihre Kriegsziele formuliert hatten (permanenter Rückzug aus den Donaufürstentümern, freie Schiff-Fahrt auf der Donau, Überarbeitung des Meerengen-Vertrags von 1841 mit dem Ziel der Neutralisierung des Schwarzen Meers und gemeinsamer Schutz der Christen im Osmanischen Reich durch alle europäischen Großmächte), von Russland mehr oder weniger modifiziert akzeptiert wurden.

Folgen des Kriegsendes

Wichtiger als die im Frieden von Paris erreichte Verwirklichung der Kriegsziele der Westmächte sind die weltgeschichtlichen Veränderungen, die durch den Krimkrieg herbeigeführt wurden. Zum Ersten verlor das Zarenreich die hegemoniale Stellung, die es bis zu diesem Zeitpunkt auf dem europäischen Kontinent eingenommen hatte. Ohne diesen Verlust wären – wie 1989/90 – weder die deutsche Einigung noch die Gründung des Deutschen Reiches 1871 möglich gewesen, die beide ein machtpolitisches Vakuum voraussetzten. 1907 musste sich Russland sogar mit seinem weltpolitischen Gegner, dem Vereinigten Königreich, verständigen, um später in der Entente im Ersten Weltkrieg an der Seite Großbritanniens zu kämpfen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte es (in Gestalt der Sowjetunion) die beherrschende Position zurückgewinnen, die es vor dem Krimkrieg innegehabt hatte.

Im Zarenreich selbst kam es nach der Niederlage zum Zweiten zu weitgehenden gesellschaftlichen Reformen, wie dies die Liberalen angestrebt hatten. Die wichtigste dieser sozialen Umwandlungen war zweifellos 1861 die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Befreiung der leibeigenen Bauern, die vorher unter der Willkür der adligen Grundbesitzer gelitten hatten. Damit kündigte die Regierung die seit dem Mittelalter bestehende Koalition mit dem grundbesitzenden Adel auf, die das Fundament der autokratischen Ordnung gebildet hatte. Weitere Transformationen setzten die obrigkeitlich gesteuerte und kontrollierte Aktivierung der Gesellschaft fort, die schon im 18. Jahrhundert begonnen hatte. 1864 wurden für zentrale Regionen die Wahl von Körperschaften genehmigt, die durch lokale Selbstverwaltung die ländliche Infrastruktur verbessern sollten. Die Justizreform von 1864 führte nach westlichem Vorbild rechtsstaatliche Prinzipien ein, die Militärreform von 1874 die allgemeine Wehrpflicht.

Zusammen mit der Emanzipationsproklamation im Amerikanischen Bürgerkrieg vom 1. Januar 1863, durch die alle Sklaven in den amerikanischen Südstaaten befreit wurden, bedeuteten die Reformen im Zarenreich das definitive Ende des Feudalismus und damit des Ancien Regime auf der nördlichen Hemisphäre. Faktisch wurden dadurch die ‚westlichen‘ Gesellschaften einschließlich Russlands mehr verändert als durch die Französische Revolution, die wenig in die Tiefe der Sozialordnung eingedrungen war. Vom Gesichtspunkt des Liberalismus aus stellten die Veränderungen nach Krimkrieg und Amerikanischem Bürgerkrieg einen größeren Bruch mit der Vergangenheit dar als „die Revolution“, insofern nach diesen Befreiungen grundlegend neue Gesellschaften das Licht der Welt erblickten.

„Jede Übertretung des Völkerrechts kann bestraft werden, wenn der Wille der ‚internationalen Gemeinschaft‘ vorhanden ist.“

Zum Dritten wurde in Krieg und Friedenskongress der Sultan als gleichberechtigtes Mitglied in das europäische Staatensystem aufgenommen, so dass mindestens an der Oberfläche die avisierte religiöse Toleranz verwirklicht wurde. Die längst in Auge gefassten Maßnahmen zur Verbesserung der rechtlichen Stellung der Christen im Osmanischen Reich enthielt unter anderem der Hatt-i-Humayun vom 18. Februar 1856, mit dem Abdülmecid I. auf Anraten des britischen Gesandten noch vor dem Kongress eines der wesentlichen Kriegsziele der Westmächte realisierte. Ob die türkische Regierung allerdings die Macht besaß, die angekündigten Reformen im religiösen Bereich in der Gesellschaft durchzusetzen, blieb offen und der Zukunft überlassen.

Mögliche Lektionen

Für den gegenwärtigen Ukraine-Krieg und seine Beendigung drängen sich drei Schlussfolgerungen auf, die allesamt jedmöglichen Friedensplänen und „Deals“ vor einem definitiven Ende der Kampfhandlungen widersprechen:

  1. Eine völkerrechtliche, auf Regeln basierte Ordnung der internationalen Beziehungen ist wertlos ohne den Einsatz, mindestens aber die glaubwürdige Androhung militärischer Gewalt. Die Frage, wie dieses notwendige Instrument des Völkerrechts organisiert werden kann, ist das dringlichste Problem im zwischen-staatlichen Bereich, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich diese Frage unter Nuklearmächten anders stellt als in früheren Jahrhunderten.
  2. Jede Übertretung des Völkerrechts kann bestraft werden, wenn der Wille der „internationalen Gemeinschaft“ vorhanden ist. Mit anderen Worten: Jeder Aggressor kann überwunden werden, wenn die Aufrechterhaltung des Völkerrechts mit Tatkraft und Energie beschlossen und durchgesetzt wird. Die Schutzbehauptung, dass Russland nicht zu besiegen, d.h. zu substanziellen Zugeständnissen zu bewegen sei, ist in der Geschichte schon mehrfach widerlegt worden, z.B. auch im beschriebenen Krimkrieg.
  3. Wie im Krieg selbst – „war is about winning“ – gibt es auch bei den abschließenden Friedensverhandlungen Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte. Die Vorstellung, dass durch einen Friedenskongress am Ende eines Krieges eine für alle annehmbare Lösung gefunden wird, ist reichlich naiv und widerspricht allen geschichtlichen Erfahrungen. Jeder kann selbst erkennen, was diese Schlussfolgerung für das Ende des Ukraine-Kriegs bedeutet, für das der vor mehr als 150 Jahren ausgefochtene Krimkrieg ein überzeugendes Vorbild darstellt. 

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