13.10.2025

Spannende Zeiten

Von Kai Rogusch

Titelbild

Foto: Sabrina Johnson via Wikicommons / US-Regierungsarbeit

Im politischen Berlin macht die Möglichkeit die Runde, des Ukrainekriegs wegen den sogenannten Spannungsfall auszurufen. Dies würde zu einer massiven Einschränkung von Bürgerrechten führen.

In letzter Zeit wurde angesichts ungeklärter Drohnenvorfälle in Deutschland die Forderung erhoben, den verteidigungspolitischen „Spannungsfall" festzustellen. Der Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss, Roderich Kiesewetter – der die Position vertritt, man solle der Ukraine ermöglichen, den Krieg „nach Russland" zu tragen – ist einer der vehementesten Vertreter dieser Politik. Er knüpft an eine Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz an, Deutschland befinde sich zwar noch nicht im Krieg, aber auch „nicht mehr im Frieden". 

Die Tragweite derartiger Aussagen scheint vielen Leuten nicht bewusst zu sein. Der „Spannungsfall" nach Artikel 80a Grundgesetz markiert bereits einen Ausnahmezustand mit der Möglichkeit einschneidender Eingriffe in den Alltag der Bürger. Der Spannungsfall ist eine Vorstufe zum Verteidigungsfall nach Artikel 115a Grundgesetz. Der Spannungsfall tritt in Kraft, wenn die einfache Beschlussfähigkeit des Bundestages vorliegt, also mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend sind, und eine Zweidrittelmehrheit der abstimmenden Abgeordneten meint und entsprechend votiert, dass in undefinierter Zukunft mit erheblicher Wahrscheinlichkeit ein Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland bevorsteht. Roderich Kiesewetter trägt also beim deutschen Michel zum Eindruck bei, dass Russland auf einen Krieg auch gegen Deutschland zusteuert.

„Im Spannungsfall können auch Reservisten aus dem Pool derjenigen herangezogen werden, die in der Vergangenheit bereits ihren Wehrdienst geleistet hatten.“

Was bedeutet die Feststellung des Spannungsfalls? Zum einen wird in diesem Fall auf der Grundlage des bereits bestehenden Wehrpflichtgesetzes die im Jahr 2011 bloß ausgesetzte Wehrpflicht wieder aktiviert. Im Spannungsfall können so bis zum Abschluss des 60. Lebensjahres auch Reservisten aus dem Pool derjenigen herangezogen werden, die in der Vergangenheit bereits ihren Wehrdienst geleistet hatten. Zum anderen werden im Spannungsfall abseits der Wehrpflicht anderweitige gesetzlich bereits in sogenannten Sicherstellungsgesetzen vorhandene Grundlagen ‚entsperrt‘: für weitergehende allgemeine Dienstpflichten auch für Nicht-Militärangehörige, für Ausreiseverbote, für Beschränkungen des Straßen- und Kapitalverkehrs und für andere Eingriffe. Die ‚Entsperrung‘ diesbezüglicher, nicht auf die Wehrpflicht bezogener Normen kann nach Artikel 80a Abs. 3 auch ohne eine ausdrückliche Feststellung des Spannungsfalls durch den Bundestag in Kraft treten, wenn die Bundesregierung diesem Ansinnen im Rahmen ihrer Nato-Bündnisverpflichtungen zustimmt. 

Es wäre ratsam, trotz der evidenten Aggressivität Russlands in der Ukraine die Ursachen der gefährlich wachsenden Spannungen nicht allein eindimensional auf der Seite Russlands zu verorten. Andernfalls kann ein vermeintlicher Spannungsfall rasch zu einem Nato-Bündnisfall werden. Aufgrund der Rolle Deutschlands als Nato-Drehscheibe träte hier der durch einen dann unmittelbar drohenden Angriff auf zentrale Militärstützpunkte in Deutschland bewirkte Verteidigungsfall in Kraft. In diesem Fall befänden wir uns endgültig unter kriegsrechtlichen Bedingungen. Die populistische Blüte, die auch hierzulande ihren zaghaften Auftrieb erfährt, fände nicht zuletzt durch Aussetzung anstehender Wahlen ihr jähes Ende.

Um unsere bürgerlichen Freiheiten nicht einer reflexhaften Panik zu opfern, wäre es also ratsam, Berichte über Luftraumverletzungen, Drohnensichtungen oder Pannen in unserer kritischen Infrastruktur kritisch zu prüfen und sie nicht sofort auf eine russische Urheberschaft zurückzuführen. 

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