25.11.2024
Der Warnschuss
Von Kolja Zydatiss
Mit Russlands Einsatz einer atomwaffenfähigen Mittelstreckenrakete ist der Ukraine-Krieg in eine neue Phase getreten. Der Westen sollte nun mit besonderer Vorsicht vorgehen.
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist in eine neue Phase getreten. Die USA und Großbritannien haben als Antwort auf die Aufstockung des russischen Heeres mit nordkoreanischen Hilfstruppen der Ukraine erlaubt, mit weitrechenden ATACMS-Raketen und Storm-Shadow-Marschflugkörpern Ziele tief im russischen Kernland anzugreifen. Kiew machte prompt Gebrauch von dieser neuen Option. Moskau hat seinerseits eskaliert, indem es mit einer atomwaffenfähigen experimentellen Mittelstreckenrakete die viertgrößte ukrainische Stadt Dnipro angegriffen hat. Außerdem trat eine neue russische Nukleardoktrin in Kraft, die die Hürden für den Einsatz von Atomwaffen senkt. Letzterer Schritt war allerdings schon länger angekündigt.
Erste Berichte, wonach es sich bei dem russischen Angriff auf Dnipro um den weltweit ersten Kriegseinsatz einer Interkontinentalrakete handelte, haben sich nicht bestätigt. Tatsächlich setzte Russland wohl eine abgespeckte Version seiner dreistufigen Interkontinentalrakete RS-24 Yars ein, bei der eine Raketenstufe fehlt. Die „kleine Schwester“ der Yars ist laut Experten auf Reichweiten von bis zu 6000 Kilometern ausgelegt. „Man könnte auch formulieren: Die sind für Europa konstruiert“, schreibt der Journalist und Waffenexperte Lars Winkelsdorf auf X.
Mit den „echten“ russischen Interkontinentalraketen hat die in Dnipro eingesetzte Rakete gemeinsam, dass sie mit bis zu sechs einzelnen Atomsprengköpfen bestückt werden kann. Russische und ukrainische Quellen sind sich einig, dass sie mit zehn- bis elffacher Schallgeschwindigkeit fliegt. Abgefeuert wurde die Rakete offenbar aus dem russischen Gebiet Astrachan am Kaspischen Meer – etwa 800 Kilometer vom Ziel entfernt.
Wink mit dem nuklearen Zaunpfahl
Viele Beobachter haben bemerkt, dass der Einsatz wenig militärischen Sinn hatte, sondern wohl vor allem ein Signal an die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten senden sollte. Eine Rakete, die für nukleare Sprengköpfe ausgelegt ist, die sich in großer Höhe lösen und dann ohne große Präzision herunterfallen, mit konventionellen Sprengköpfen auszustatten, wie im Fall von Dnipro, ist ungewöhnlich. „Es ist eine teure Rakete mit einer nuklearen Funktion. So ein Ding schießt man nicht einfach ab, wenn man keine Lust hat. Außerdem ist es für den Transport einer konventionellen Nutzlast nicht präzise genug. Man könnte es also als ein cleveres Signal betrachten“, zitiert t-online den Rüstungsexperten Frank Sauer. Der Zeit sagte Sauer: „Wenn man ein teures, eigentlich für Nuklearwaffen vorgesehenes Trägersystem erst nicht bestückt, dann medienwirksam abschießt und dann eine erzürnte Rede hinterherschiebt, dann bleibt nur die politische Botschaft stehen.“
„Viele Beobachter haben bemerkt, dass der Raketeneinsatz wenig militärischen Sinn hatte.“
Héloïse Fayet von der französischen Denkfabrik Ifri sagt über den Angriff auf Dnipro: „Wir haben es hier mit etwas noch nie Dagewesenem zu tun, und es ist viel mehr ein politischer als ein militärischer Akt.“ Fabian Hoffmann, Raketenexperte der Universität Oslo, hält die Frage, ob Russland bei dem Angriff eine Interkontinentalrakete oder Mittelstreckenrakete eingesetzt hat, für zweitrangig: „Die Tatsache, dass die Rakete multiple Lenksprengköpfe trug (MIRV), ist wichtiger, wenn es um Signale geht und das ist der Grund, warum Moskau sich dafür entschieden hat. Diese Sprengköpfe werden exklusiv mit nuklearwaffenfähigen Raketen assoziiert.“
Möglicherweise war die Rakete nicht einmal mit vollwertigen konventionellen Sprengköpfen bestückt, sondern mit Übungsgefechtsköpfen mit geringerer Sprengkraft. Laut Lars Winkelsdorf sah die Wirkung „für konventionelle Sprengstoffe eher gering aus“. Getroffen wurde ein unbedeutendes Heizgebäude einer Industrieanalage. Es gab zwei Verletzte und keine Toten. Auch die Tatsache, dass Russland die USA offenbar vorab über den geplanten Raketeneinsatz informiert hat, spricht eher für ein fein kalibriertes politisches Signal als für einen militärischen Akt.
In seiner Fernsehansprache einige Stunden nach dem Angriff drohte Kremlchef Wladimir Putin verbal dem Westen. „Wir haben mehrfach unterstrichen, dass der vom Westen provozierte Regionalkonflikt in der Ukraine Elemente globalen Charakters angenommen hat“, sagte er. „Wir sehen uns im Recht, unsere Waffen gegen militärische Objekte der Länder einzusetzen, die es zulassen, dass ihre Waffen gegen Objekte bei uns eingesetzt werden“, so der russische Präsident – ein klarer Bezug auf die Freigabe weitreichender Waffen wie ATACMS und Storm Shadow. „Im Fall einer Eskalation aggressiver Handlungen werden wir entschieden spiegelbildlich handeln.“ Einen Tag später schob Kremlsprecher Dmitri Peskow nach: Der Angriff auf Dnipro mit einer Mittelstreckenrakete sei eine Warnung an den Westen gewesen. Man gehe davon aus, dass die Botschaft angekommen sei.
Das Veto des Extremisten
Ist die Botschaft wirklich angekommen? Jüngste Erklärungen lassen daran zweifeln. So verlautete ein US-Regierungssprecher, bei dem Raketenschlag auf Dnipro handele es lediglich um einen Einschüchterungsversuch. Russland verfüge „wahrscheinlich nur über eine Handvoll“ des neuen Raketentyps. Auf dem Schlachtfeld sei er kein „game changer“ – was völlig den Punkt verfehlt, dass es hier nicht um ein bestimmtes Waffensystem geht, sondern um eine eindeutige Drohung Moskaus, auf westliche Vorstöße, den Krieg in das russische Kernland zu tragen, mit Angriffen auf Nato-Staaten zu reagieren – in letzter Konsequenz mit Atomwaffen.
„Ist die Botschaft wirklich im Westen angekommen?“
Auch in Paris hat man den Ernst der Lage offenbar nicht verstanden. Am Sonntag hieß es aus dem französischen Außenministerium, die Ukraine dürfe die weitreichenden Marschflugkörper vom Typ Scalp, mit denen Paris das Land bereits seit Juli 2023 beliefert, auch auf Russland abfeuern. Die französischen Marschflugkörper sind baugleich mit den britischen Storm Shadow.
Blufft Putin? Das ist schwer zu sagen. Winston Churchill nannte Russland bekanntlich „ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt“ und nicht umsonst spricht man seit dem Kalten Krieg von „Kremlastrologie“, wenn es darum geht, die Absichten der Moskauer Führung zu entschlüsseln.
Dokumentiert ist zumindest: Wenn Putin über den Tod spricht, klingt er bisweilen wie ein Dschihadist. Als der Kremlchef 2018 nach den Risiken eines Atomkriegs gefragt wurde, entgegnete er nonchalant: „[Die Westler] werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel.“ Wie im Falle der Hamas-Palästinenser, deren religiöser Fanatismus ihnen in ihrem endlosen aber letztlich aussichtslosen Ankämpfen gegen die Existenz Israels eine fast grenzenlose Leidensfähigkeit zu verleihen scheint, ist möglicherweise auch Putins Reich „ein Reich nicht von dieser Welt“.
„Wenn Putin über den Tod spricht, klingt er bisweilen wie ein Dschihadist.“
Im Westen haben die Islamisten durch ihre Bereitschaft zu blutigen Morden, etwa an Theo van Gogh, Samuel Paty oder der Redaktion von Charlie Hebdo, etwas erlangt, was man als „Veto des Extremisten“ bezeichnen kann. Vor allzu heftiger öffentlicher Kritik oder Spott über den Islam und seinen Gründer schrecken die meisten Menschen zurück. Schließlich will niemand erschossen oder enthauptet werden. Putin – ein Mann, der von aus westlicher Sicht archaischen Kategorien wie Imperium und russischer Größe getrieben zu sein scheint – könnte durch seine mögliche Bereitschaft, in seinem brutalen, völkerrechtswidrigen Kampf gegen das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes bis zum Äußersten zu gehen, eine ähnliche Vetomacht erlangt haben.
Zu spät für „Peace through strength”
Es wäre zu begrüßen, wenn der Westen, der sich in den letzten Jahren allerlei postmateriellen Anliegen und woker Selbstdekonstruktion hingegeben hat, zu einem neuen Selbstbewusstsein zurückfindet. Die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus und der Siegeszug ähnlicher prowestlicher transatlantischer Populisten wie Giorgia Meloni, Javier Milei oder (mit Abstrichen) Geert Wilders deuten darauf hin. Vom Frieden durch Stärke, einem Konzept, das im Laufe der Jahrhunderte von so unterschiedlichen Anführern wie dem römischen Kaiser Hadrian und US-Präsident Ronald Reagan vertreten wurde, sind wir dennoch meilenweit entfernt. Russland und andere antiwestliche Kräfte haben unsere Schwäche bereits ausgenutzt, um zuzuschlagen. Sie haben Fakten geschaffen, die nur schwer rückgängig zu machen sind, in der Ukraine und darüber hinaus.
Eine westliche Selbstüberschätzung in dieser Situation könnte fatale Folgen haben. In den letzten Jahren konnten wir im Westen unter anderem bei den Themen Migration, Energie, Landwirtschaft und Corona den Vormarsch einer aggressiven Gesinnungsethik beobachten. Mahnende und abwägende Stimmen wurden vom links-progressiven Mainstream verächtlich gemacht und ausgeschlossen, während Machbarkeitswahn, utopisches Denken und Dezisionismus dominierten. Dies hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die innere Sicherheit und den Wohlstand. Ist die politische Klasse, die dafür verantwortlich ist, in der Lage, ein nukleares Vabanquespiel mit dem Kreml gut zu meistern? Daran kann man Zweifel haben. Aber auch dem polternden, mackerhaften Trumpismus ist zuzutrauen, dass er zu weit am Eskalationsrad dreht.
„Der Westen sollte sich nun darauf konzentrieren, den Krieg einzufrieren, mit dem Ziel der Erhaltung einer westlich orientierten Kernukraine.“
Während 2022 und 2023 die meisten Ukrainer laut Umfragen weiterkämpfen wollten, befürworten inzwischen 52 Prozent Verhandlungen mit Russland, um den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat kürzlich einen Schritt in Richtung einer realpolitischen Lösung des Konflikts unternommen, indem er die russische Kontrolle über einige ukrainische Gebiete als faktisch unumkehrbar anerkannt hat – zumindest solange das derzeitige Regime in Moskau an der Macht ist.
Der Westen sollte sich nun darauf konzentrieren, den Krieg einzufrieren, mit dem Ziel der Erhaltung einer westlich orientierten Kernukraine, die etwa 80 Prozent des formellen Staatsgebiets umfasst und von einer demokratisch gewählten und von Russland unabhängigen Regierung in Kiew beherrscht wird. Das russische Kernland mit weitreichenden Waffen wie ATACMS oder Storm Shadow anzugreifen, ist wohl nicht notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Ebenso gefährlich wie undurchdachte westliche Eskalationen bleibt freilich auch ein weltfremder, charakteristisch deutscher Vulgärpazifismus nach dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“. Zu dessen Entlarvung haben so unterschiedliche Kommentatoren wie Sascha Lobo und Henryk M. Broder schon alles gesagt, was es zu sagen gibt, so dass ich hier nicht weiter ins Detail gehen werde.
Mögliche Eskalationsschritte
In einem Meinungsbeitrag, der Russland Schwäche attestiert (wie „schwach“ kann eigentlich ein Land sein, das laut Experten über rund 5600 Atomsprengköpfe verfügt, und über hochmoderne Systeme für deren Einsatz von Land, Luft und See aus?), schreiben die Welt-Autoren Clemens Wergin und Pavel Lokshin über den Raketenangriff auf Dnipro: „Auf den ersten Blick eine starke Botschaft. Tatsächlich hat Putin seine letzte nichtnukleare Option in der Kommunikation verspielt […].“
Das stimmt wohl nicht. Denkbar ist etwa, dass Putins nächstes Signal an den Westen darin besteht, eine atomwaffenfähige Rakete mit konventioneller Nutzlast vor der Küste eines Nato-Staats ins Meer stürzen zu lassen, zum Beispiel in der Nähe der Millionenmetropole London. Auch in einem solchen Fall würde Moskau den Westen sicherlich vorab über den geplanten „Warnschuss“ informieren, um sicherzustellen, dass dieser auf die Infrarot-Signatur des eintreffenden Geschosses nicht mit eigenen Raketenschlägen gegen Russland reagiert. Die nächste logische Eskalationsstufe wäre dann wohl tatsächlich der erste Einsatz von Atomwaffen in einem Krieg seit 1945, vermutlich ein Angriff mit kleineren, sogenannten taktischen Atomsprengköpfen auf ein oder mehrere Ziele in der Ukraine.
Ein guter Spieler weiß, wann er den Tisch verlassen sollte.