06.01.2020
2019, das Jahr, in dem die etablierten Parteien zu bröckeln begannen
Die Parteien haben Mühe, populistische Herausforderer abzuwehren.
Was wird vom Jahr 2019 in Erinnerung bleiben? Wird es die „Fridays for Future“-Bewegung sein, wie es die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zu glauben scheint, die den Namen an die dritte Stelle ihrer Wörter des Jahres wählte? Wie kein anderer Ausdruck stehe „Fridays for Future“ für eine junge Generation, die bereit sei, für ihre Zukunft auf die Straße zu gehen, heißt es in der Erklärung der Jury. Doch wie sehr haben die Proteste das Leben der Menschen beeinflusst?
Möglicherweise genau so wenig wie das Wort Flugscham – ein weiterer Begriff der 2019 in den Vordergrund getretenen Klimadebatte: Die Flugschambewegung hebe ab, behauptete die Deutsche Welle im Juli – just zu der Zeit, da sich die Bürger in die Sommerferien begaben. Worte und Realitäten können, wie sich zeigt, meilenweit auseinander liegen. Und so wurde 2019 das Jahr, in dem mehr Flugzeuge von deutschen Flughäfen abhoben als je zuvor.
„Vielleicht ist ‚Kenia-Koalition' das neue Wort, das die politische Realität in Deutschland treffender beschreibt."
Vielleicht ist „Kenia-Koalition" das neue Wort, das die politische Realität in Deutschland treffender beschreibt. Diese Koalitionsform ist zwar nicht ganz neu – die erste Kenia-Koalition wurde 2016 in Sachsen-Anhalt gebildet –, aber auch in Brandenburg und Sachsen wurde sie zum Rettungsanker der Machterhaltung für die etablierten Parteien. Kenia ist der Code für den defensiven Zusammenschluss ehemals gegnerischer Parteien, um einen gemeinsamen Feind zurückzudrängen: die AfD. Es ist eine Strategie, die zu instabilen und weitgehend administrativen Regierungen führt, deren Hauptziel es ist, im Amt zu bleiben.
Wenn es ein Wort gibt, das wirklich die Nachrichten beherrscht hat, dann ist es „Brexit“. Es übertrifft mit Sicherheit die wenig inspirierende „Respektrente“, die von der GfdS zum Wort Nr. 1 des Jahres gewählt wurde. Die Respektrente – das Versprechen der Regierung, die Renten der Ärmsten um einen relativ geringen Betrag aufzustocken – war ein schlecht getarnter Versuch der gescheiterten SPD und ihres Arbeitsministers, sich bei den Wählern einzuschmeicheln. Wie so viele Maßnahmen hat sie es nicht geschafft, die Menschen wirklich zu inspirieren. Der Zerfall der SPD, die nach dem Rücktritt ihrer Vorsitzenden Andrea Nahles im Juni monatelang de facto ohne Führung war, ist ein weiterer Trend, der das Jahr 2019 auszeichnet.
Es mag falsch erscheinen, „Brexit“ zum Wort des Jahres in Deutschland zu erklären. Im Zentrum der Berichterstattung stand der EU-Austritt Großbritanniens allerdings schon 2016. In der deutschen Öffentlichkeit wurde der Brexit in den meisten Fällen als negatives und zerstörerisches Unterfangen dargestellt. Deshalb wahrscheinlich belegte das Adjektiv „brexitmüde“ den 6. Platz auf der Wort des Jahres-Liste 2019. Die Nervosität der deutschen Eliten gegenüber jeglicher Infragestellung der EU wurde bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai deutlich. Eine gemeinsame Kampagne aller großen Parteien (mit Ausnahme der AfD), der Vertreter der Industrie (Volkswagen, Deutsche Bank, Deutsche Bahn und mehr) und sogar der Kirche rief die Deutschen zur „Unterstützung der EU" auf.
Die überraschende Ernennung Ursula von der Leyens, die nicht einmal als Spitzenkandidatin auftrat, zur Präsidentin der Europäischen Kommission wird viele zum Nachdenken gebracht haben. Auch hierzulande wird das Glaubensbekenntnis einer friedlichen und demokratischen EU zunehmend in Frage gestellt.
„2019 war ein Jahr des Übergangs. Es brachte keinen Regierungswechsel. Aber es war auch das Jahr, in dem Angela Merkel praktisch von der politischen Bühne verschwand."
2019 war ein Jahr des Übergangs. Es brachte keinen Regierungswechsel. Aber es war auch das Jahr, in dem Angela Merkel praktisch von der politischen Bühne verschwand. Ihre öffentlichen Interventionen und Auftritte waren noch seltener als in den Jahren zuvor. Ihr Schweigen kam in einer Zeit der wirtschaftlichen Unsicherheit, in der viel von einer bevorstehenden Rezession die Rede war. Die scheint vermieden worden zu sein, aber die Wirtschaft ist im Laufe des Jahres nur um magere 0,5 Prozent gewachsen.
Überschattet wurde das Jahr von zwei rechtsextremen Terroranschlägen: dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke im Juni und dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle im Oktober. Die von der Regierung vorgeschlagenen neuen Gesetze zur Verschärfung der Strafen für antisemitische Gewalt sind zu begrüßen. Die geplanten Verschärfungen der Gesetze gegen Hass im Netz sind jedoch besorgniserregend.
Wird Deutschland im neuen Jahrzehnt demokratischer oder autoritärer und illiberaler? Wir werden sehen. Die Zukunft ist offen.