26.08.2014

Wie man kluge Entscheidungen

Rezension von Frank Furedi

Man entdeckt dem internationalen Bestseller Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt Beunruhigendes: Aus trivialen Erkenntnissen der Verhaltensforschung wird die weitreichende Konsequenz gezogen, dass die moralische Urteilsfähigkeit des Individuums überholt sei

Sozialwissenschaftler neigen manchmal dazu, viel Zeit und Aufwand der Entdeckung des Selbstverständlichen zu widmen. So wartet auch das Buch Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt [1] der beiden US-Wissenschaftler Cass R. Sunstein und Richard H. Thaler mit einer sensationellen Erkenntnis von Verhaltensökonomen auf: Menschen treffen in ihrem Leben oft Entscheidungen, die im Gegensatz zu ihren individuellen Interessen und Zielen stehen. Durchweg wird diese – den meisten Erwachsenen wohlbekannte – Erkenntnis als bahnbrechende Entdeckung verkauft.

Dem Leser wird unablässig vermittelt, dass Menschen den Befunden der Verhaltensforschung zufolge „unzählige, teilweise zerstörerische Fehler begehen“. Sie seien oft zu kurzsichtig in ihren Entscheidungen, und anscheinend entfalten „Verschleppung, Trägheit, die Überbewertung des Jetzt und vergleichbare Probleme der Selbstkontrolle“ vielerlei nachteilige Wirkungen. Zudem setzt man uns davon in Kenntnis, dass wir Entscheidungen treffen, die nicht unserem ureigenen Interessen liegen. Genüsslich breitet Sunstein all die verschiedenen Ausprägungen des menschlichen Irrens aus. Was früher als menschliche Schwäche und Fehlentscheidung galt, beschreibt Sunstein als verhaltensbasiertes Marktversagen. Mit dieser Terminologie wird eine Analogie zum ökonomischen Konzept des Marktversagens gezogen. Zu welchem Zweck? Wenn Marktversagen als Legitimation für staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens dient, so muss das verhaltensbasierte Marktversagen entsprechend als Rechtfertigung für die staatliche Regulierung des Privatleben herhalten.

„‚Verhaltensökonomen haben festgestellt‘“ ist Sunsteins Äquivalent zum biblischen Ausdruck „‚Der Herr sprach‘“

Die verhaltensökonomischen Erklärungen des menschlichen Versagens, diejenigen Entscheidung zu treffen, die der Autor und seine Fachkollegen als sinnvoll erachten, weisen schon fast einen quasi-religiösen Ansatz auf. „Verhaltensökonomen haben festgestellt“ ist eine von Sunsteins meist genutzten Redewendungen – es ist sein zweckmäßiges Äquivalent zum biblischen „Der Herr sprach“. Während des Lesens von Nudge kann man schon fast die technokratische Beschwörung „Wir verfügen über neue Erkenntnisse“ hören. Er versichert den Lesern zwar, dass sie täglich Neues dazulernen, an anderer Stelle betont er jedoch, dass Menschen in ihrer Entscheidungsfindung vor allem von ihrem Hintergrund geprägt sind.

Das „Die Wissenschaft hat festgestellt“-Argument dient im Buch dazu, paternalistische Maßnahmen des Staates zum Schutz der Bürger vor sich selbst zu rechtfertigen. Laut Sunstein basieren solche paternalistischen Ansätze auf der Annahme des Staates, „dass Bürger nicht fähig sind, Entscheidungen zu ihrem eigenen Wohl zu treffen, und daher Maßnahmen ergriffen werden, um die Entscheidungen der Bürger zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen.“

Sunstein sieht in seinem „libertären Paternalismus“ als relativ sanfte und gutartige Korrektiv des ansonsten unvorhersehbaren Chaos der menschlichen Entscheidungsfindung. Sein Konzept des „Anschubsens“ („Nudging“) der Menschen stelle eine moderate Form des Drucks auf menschliches Verhalten dar. Sunstein beteuert außerdem, dass er nicht die Ziele und Intentionen der Menschen zu ändern beabsichtige, sondern nur die Mittel und Wege zu deren Erreichung. Er unterscheidet zwischen dem „Paternalismus der Zwecke“ und dem „Paternalismus der Mittel“, und befürwortet offensichtlich das Letztere.

„Mit wissenschaftlichen Mitteln wird die moralische Autonomie des Menschen in Frage gestellt“

Positiv anrechnen kann man Sunstein, dass er zumindest den Unterschied zwischen Mitteln und Zwecken erkennt. Dennoch: Was ist mit der moralischen Autonomie? Die Menschen betrachten ihre Entscheidungsfreiheit wohl nicht nur als reines Mittel zum Zweck, sondern auch als Wert als sich. Für Sunstein ist eine solche Haltung Ausdruck eines „starken Maßes an Autonomie“ („thick version of autonomy“). Selbstverständlich bevorzugt er eine abgespeckte Variante („thin version“), bei der die Entscheidungsfreiheit nicht den Status eines grundlegenden Prinzips oder – in seiner Terminologie – eines „erhabenen“ Wertes einnimmt. Seine lockere Einstellung gegenüber dem Ideal der moralischen Autonomie bedeutet auch, dass die Entscheidungsfreiheit nicht über seinem „Gesamtkonzept des gesellschaftlichen Wohls“ steht. Zugunsten dieses gesellschaftlichen Wohls sind folgerichtig für ihn „härtere Formen der Bevormundung nicht tabu“. Aus seiner Perspektive verlangt verhaltensbasiertes Marktversagen bisweilen nach einer Zwang einsetzenden Paternalismus-Variante.

Historisch betrachtet waren die meisten Vorbehalte gegen das Aufklärungsideal der Selbstbestimmung religiöser oder moralischer Natur. Bei der aktuell vorherrschenden Vergötterung der Wissenschaft bzw. des „Szientismus“ überrascht nicht, dass sich Sunstein wissenschaftlicher Mittel bedient, um die moralische Autonomie des Menschen in Frage zu stellen. Da der Szientismus die moralische Autonomie jedoch bisher noch nicht zu widerlegen vermocht hat, muss Sunstein argumentieren, dass „wir eine Art Verhaltensforschung nicht über Tatsachenurteile, sondern auch über Werturteile benötigen.“ Der Ehrgeiz, den Bereich der Werturteile in ein Labor zu verwandeln, verstört bei diesem ganzen „Anschubs“-Projekt am meisten. Im Ergebnis würde die Umdeutung des Urteilsvermögens von einer moralischen zu einer wissenschaftlichen Errungenschaft der individuellen Autonomie jegliche Bedeutung absprechen.

Wie Nudge verdeutlich, wenden zahlreiche Regierungen den „libertären Paternalismus“ an. Für ihre Anhänger stellt die „Anschubs“-Taktik eine kostengünstige und effektive Möglichkeit dar, das Verhalten der Menschen im Sinne eines gesellschaftlichen Nutzens zu beeinflussen. Politische Entscheidungsträger reizt der Schubs-Ansatz noch aus einem anderen Grund. Auf der ganzen Welt haben die Regierungen damit zu kämpfen, ihre Rolle und Autorität zu legitimieren. Mangels einer wirklichen Vorstellung dessen, wozu eine Regierung dient, haben sich viele Machthaber für eine Politik entschieden, die ihre Bürger vor den negativen Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens schützen soll.

Autorität wird in der heutigen Welt grundsätzlich negativ wahrgenommen. [2] Autoritäre Theorien wie das „Nudge“-Konzept versuchen kaum, sich auf einer normativen Grundlage zu rechtfertigen. Negative Autoritätstheorien basieren auf der Prämisse, dass gesellschaftliches Verhalten überwiegend irrational sei. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert legitimierte nach verbreiteter Auffassung das irrationale Verhalten der Massen bzw. des Mobs die Autoritätsausübung. Kritik an der breiten Masse der Bevölkerung verband sich eng mit der Begründung paternalistischer Politik. Früher betonten solche negativen Autoritätstheorien der Eliten die moralischen und intellektuellen Mängel der Bevölkerung. Anschubsen sieht die Öffentlichkeit leidenschaftsloser und bietet eine scheinbar eher wissenschaftliche als moralische Grundlage für paternalistische Staatstätigkeit.

„Zur Legitimation von Autorität dienen nicht die positiven Eigenschaften des Staates, sondern die negativen Eigenschaften des Volkes“

Sunsteins Haltung gegenüber Menschen, die nicht immer die besten Entscheidungen treffen, erinnert an die Kritik an den irrationalen Massen aus dem 19.und 20. Jahrhundert. Nach wie vor gründet sich Autorität nicht auf den positiven Eigenschaften der Regierungen bzw. des Staates, sondern auf den negativen Eigenschaften des Volkes. Im 19. Jahrhundert diente die Massenpsychologie der Abwertung der Bevölkerung; im 21. Jahrhundert greift man aus ähnlichen Gründen zu Verhaltensökonomik und Neurowissenschaften.

Auch wenn der „libertäre Paternalismus“ weit weniger wie Zwang wirkt als seine Verwandten aus dem 19.und 20. Jahrhundert, entpuppt er sich in mindestens einer Hinsicht als heimtückischer. Sunstein sagt voraus, dass in Zukunft der Paternalismus personalisiert werden könnte, so dass sich seine Regeln den Bedürfnissen des Individuums anpassen. Er glaubt, dass „personalisierte vorgegebene Regeln“ den Ansatz einheitlicher Regulierung ablösen werden. Dies könnte zwar eintreffen, es würde aber die Integrität der Privatsphäre ernstlich bedrohen. Auch Sunstein erkennt, dass sich „ernsthafte Fragen über die persönliche Privatsphäre“ stellen. Da er jedoch davon ausgeht, dass der Personalisierung die Zukunft gehört, scheinen diese ernsthaften Fragen schon beantwortet zu sein. Allein dies sollte Warnung vor den Gefahren des „Anschubsens“ genug sein.

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