04.08.2014
Wir lassen uns nicht herumschubsen
Essay von Sean Collins
Der Libertäre Paternalismus will Menschen zu sozialgefälligen Entscheidungen anleiten. In der „Anschubs-Theorie“ , zeigt sich das pessimistische Menschenbild einer Elite, die sich die Bewältigung der eigentlich wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr zutraut
Als das Buch „Nudge [sinngemäß: anschubsen]: Wie man kluge Entscheidungen anstößt [1] im Jahre 2008 im Original erschien, schien es, als handle es sich um einen jener kurzlebigen Bestseller wie Freakonomics oder anderer populärwissenschaftlicher Zeitgeist-Bücher.
Die „Schubs“-Autoren Richard Thaler und Cass Sunstein, amerikanische Akademiker, regten an, Regierung und Arbeitgeber sollten bewusster auf Menschen einwirken, „bessere“ Entscheidungen in Bereichen wie Gesundheit und Geld zu treffen, um so ihr Leben zu verbessern.
Als Praxisbeispiel für ihr Konzept beschreiben sie eine Cafeteria, die ihr Angebot so präsentiert, dass die Gäste eher zu Karottenstäbchen greifen als zu Pommes Frites oder Nachtisch. Diesen Ansatz nennen die Autoren „libertären Paternalismus“. Einerseits Paternalismus, weil sie die Menschen in eine bestimmte Richtung beeinflussen wollen, und andererseits „libertär“, weil sie ihnen dabei immer noch ein Maß an Entscheidungsfreiheit lassen; wer denn wirklich die Mousse au Chocolat haben will, kann sie bekommen, wenn er unter die Rückseite des Tresens greift.
„Wer denn wirklich die Mousse au Chocolat haben will, kann sie bekommen, wenn er unter die Rückseite des Tresens greift.“
Aufwertung durch Politik und Medien
Das Schubsen war zwar zu diesem Zeitpunkt eine neue, aber doch kaum eine große Idee. Trotzdem griffen es Regierungen rund um die Welt auf. Dadurch gewann das Konzept mehr Substanz und Langlebigkeit, als man vielleicht erwartet hätte. Wie Sunstein feststellte [2], haben seine und die Erkenntnisse anderer Verhaltensforscher die US-Vorschriften in Bezug auf „Altersvorsorge, Treibstoffsparen, Energieeffizienz, Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge und Fettleibigkeit“ beeinflusst. Sunstein selbst hat viele dieser Maßnahmen in seiner Eigenschaft als Regulierungsbeauftragter der Obama-Regierung umgesetzt (wie er selbst in seinem Buch Simpler – die Zukunft des Regierens beschreibt). In Großbritannien hat Premierminister David Cameron im Jahre 2010 das „Behavioural Insights Team“ ins Leben gerufen, auch bekannt als die „Schubser-Einheit“. Diese hat eine Reihe von Maßnahmen und Projekten hervorgebracht [3], die sich allem Möglichen widmen, vom Übergewicht über Teenager-Schwangerschaften bis hin zu Organspenden und Umweltfragen.
Nun sucht man nach Möglichkeiten, das „Schubs“-Konzept auf neue Gebiete auszuweiten. Im Sommer 2013 hat das Weiße Haus die Einrichtung einer neuen Arbeitsgruppe angekündigt, die neue Anwendungsbereiche für das Konzept untersuchen sollen. In einem Anfang des Jahres in der New York Times erschienen Gastkommentar setzte sich David Brooks [4] dafür ein, das „Schubsen“ noch weiter auszudehnen, um den sozialen Zusammenhalt zu fördern: „Die meisten von uns verhalten sich anständig, weil wir von sozialen Normen und Wertungen umgeben sind, die uns das Gut-Sein erleichtern. Auf sanfte Weise sollte Regierungshandeln derartige Normen verkörpern, beispielsweise lieber zu sparen statt zu konsumieren, lieber fit zu sein statt übergewichtig. […] Dieser Tage haben wir eher einen Zerfall des Sozialgefüges zu befürchten, als dass es erstickend eng werden könnte.“ In Großbritannien sind „Schubs“-Empfehlungen über das gesamte politische Spektrum hinweg wohlwollend aufgenommen worden, vom Guardian bis hin zum Daily Telegraph.
Selbst bestimmte tendenziell libertäre Autoren haben dahingehend argumentiert, dass Thaler und Sunsteins „Libertärer Paternalismus“ nur in geringem Maße, wenn überhaupt, paternalistisch sei. Will Wilkinson, vormals beim libertären Cato-Institut, schreibt [5] im Blog „Demokratie in Amerika“ der Zeitschrift Economist: „Eine die ‚Entscheidungsfreiheit bewahrende Politik‘ ist per Definition keine paternalistische Politik.“ Conor Friedersdorf von der Zeitschrift Atlantic hält es für machbar, echten Libertären den „libertären Paternalismus“ zu ‚verkaufen‘. [6] Er schreibt: „Mein Enthusiasmus für ‚libertären Paternalismus‘ ist groß, weil es keine neutrale Standardeinstellung geben kann, und die Regierung in dem rechtmäßig von ihr kontrollierten Bereich einen aufgeklärten Standard setzt. Ich lasse sogar über ein paar Regierungsvollmachten mit mir reden. […] Um aber seinem Namen gerecht zu werden, muss ein ‚libertärer Paternalismus‘ weiter gehen […] im Beharren auf einer klaren Trennlinie zwischen aufgeklärten Standards und paternalistischen Vorschriften ohne Ausstiegsklausel.“ Mit anderen Worten: So lange sie eine Ausstiegsklausel haben, gehen die ‚aufgeklärten Standards‘ der „Schups“-Strategie schon in Ordnung.
Zwang oder sanfte Empfehlung?
Was Thaler, Sunstein und ihre Anhänger allerdings übersehen: Nur weil die „Schubser“ ein bestimmtes Maß an Wahlfreiheit bieten, bedeutet das keineswegs automatisch, dass derartige Programme die individuelle Freiheit und Entscheidungsfähigkeit respektieren. Ebenso wenig lässt dieser Umstand die Schubser auch nur ein bisschen weniger paternalistisch erscheinen.
In seiner hervorragenden Analyse des libertären Paternalismus beleuchtet der New Yorker Wissenschaftler Mark White die hochproblematische Art, in der die schubsenden ‚Entscheidungs-Architekten‘ Szenarien konstruieren. Wie schon im Titel seines Buches – The Manipulation of Choice [7] – angedeutet, stellt White fest, dass die Karten der Schubser gezinkt sind. Denn die Schubser gehen nicht nur davon aus, dass Menschen aufgrund von Verhaltensdefiziten „Fehl“-Entscheidungen treffen, sie setzen genau diese Defizite ein, um die Menschen zu ihrer Meinung nach „korrekten“ Entscheidungen zu treiben.
„Die Schubser gehen nicht nur davon aus, dass Menschen aufgrund von Verhaltensdefiziten ‚Fehl‘-Entscheidungen treffen, sie setzen genau diese Defizite ein, um die Menschen zu ihrer Meinung nach ‚korrekten‘ Entscheidungen zu treiben.“
White schreibt: „Libertärer Paternalismus beinhaltet sehr viel Zwang und ist in manchen Bereichen deutlich hinterlistiger als paternalistische Strategien ‚alter Schule‘ wie Verhaltensverbote oder -besteuerung. Statt den Menschen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, oder sie ganz offen durch Steuern zu beeinflussen, haben Schubser wie die Veränderung von Standards oder die Verordnung der Entscheidungsalternativen einen naturgemäß verdeckten Charakter, denn sie reiten gewissermaßen Huckepack auf den kognitiven Verzerrungen und Fehlfunktionen der Menschen, um diese zu den ‚richtigen‘ Entscheidungen zu ‚leiten‘. Selbst wenn man sich mit einem gewissen Maß an – offenem und transparentem – Paternalismus von Regierungsseite her abfinden wollte, so ist es für politische Entscheidungsträger doch ungebührlich, die Schwächen der Menschen zu missbrauchen, um sie, heimlich, still und leise so zu manipulieren, dass sie die erwünschten Entscheidungen treffen, und nicht diejenigen, die sie unbeeinflusst selbst getroffen hätten.“
Ein Beispiel hierfür ist das Verbot großer Limonaden und anderer zuckerhaltiger Getränke, das im letzten Jahr vom damaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg eingeführt (und später als verfassungswidrig aufgehoben) wurde. Diese Aktion kann man als einen Schubs ansehen (wenn auch einen ziemlich penetranten), da die Menschen immer noch zu einer freien Entscheidung in der Lage waren, und ersatzweise eben mehrere Getränke hätten kaufen können. Ganz typisch für Schubser aber setzt dieses Verbot gar nicht erst bei rationalen Überlegungen an. Stattdessen beruht der Schubs auf der Annahme, dass man zu faul oder zu verschämt sein würde, weitere Getränke zu kaufen. Ein anderes Beispiel ist die standardmäßige Aufnahme von Mitarbeitern in über den Arbeitgeber laufende Sparverträge (z.B. in den USA sog. 401k-Pläne zum Ansparen von Rentenansprüchen). Dabei wird das Personal automatisch aufgenommen, und ein Ausstieg ist nur möglich, wenn man selbst aktiv wird. Dies scheint auf den ersten Blick gut, doch muss es nicht im Interesse eines jeden einzelnen Angestellten liegen, daran teilzunehmen; und selbst wenn dem so wäre, ist es durchaus nicht dasselbe, ob man automatisch in die Sache hineingedrückt wird oder sich aus freien Stücken dafür entschieden hat.
Wie Mark White, so kritisiert auch Sarah Conly, Philosophieprofessorin am amerikanischen Bowdoin College, den libertären Paternalismus als manipulativ. „Sinn und Zweck des Schubses ist, die Leute jenseits des logischen Denkens zu bedrängen. Dies basiert auf der Annahme, dass die Beschränktheit unserer Entscheidungskompetenz nicht-rationale Mittel erfordert, um Menschen zu dem, was gut für sie ist, zu verführen“, so Conly in ihrem Buch Against Autonomy, welches Anfang des Jahres erschienen ist. Indem sie den Anschein von freier Entscheidung bewahren, wollen Sunstein und Thales die Vertreter klassisch-liberaler Anschauungen besänftigen. Aber: Dieser Ansatz „respektiert in Wahrheit nicht die Wahlfreiheit, in dem Sinne, dass es einem selbst überlassen sein sollte, seine Entscheidungen zu treffen.“ Allerdings sieht Conly dieses Manko – im Gegensatz zu White – als ein Argument für stärker an Zwang orientierte Formen des Paternalismus.
Schutz der Menschen vor sich selbst
Für sie liegt das eigentliche Problem des „Schubsens“ darin, dass es nicht funktioniere. „Manche, die den Schubs in Richtung Obst ignorieren, und doch zu den Schweineschwarten greifen, werden ungesunde, cholesterinbelastete Körper unter den Essenstisch klemmen, da sie nach Jahren derartigen Essens ein solches Verlangen nach Fett und Salz aufgebaut haben, das sich von keinem Schubs überwinden lässt, selbst wenn diese Ernährung ihnen ein kürzeres, schmerzvolleres Leben einbringt.“ Wie diese Passage zeigt, bekundet Conly eine richtiggehende Abscheu vor den einfachen Leuten, die sich in ihren Augen scheinbar selbst nicht unter Kontrolle haben.
Statt sich leisetretend mit dem Schubsen zu begnügen, will Conly „Menschen vor sich selbst schützen, indem manche Handlungsweisen gesetzlich unterbunden werden“. Dies umfasst ein absolutes Rauchverbot, das Verbot von Trans-Fetten und anderen ungesunden Sachen. In ihrer unter dem Titel „Ein dreifaches Hoch auf den Nanny-Staat“ in der New York Times erschienen Gastkolumne spendete sie Bloombergs Verbot großer Limonadenbecher Beifall.
Sunstein findet in seiner Rezension denn auch viel Gefallen an Conlys Buch, findet allerdings, dass sie über das Ziel hinausschießt. „Wahlfreiheit“ muss angeboten werden, da sie „eine wichtige Absicherung gegen mögliche Fehler auch der wohlmeinendsten Funktionäre darstellt“ – wobei er unter dem Begriff der „Wahl“ auch die manipulierten Entscheidungsvorgänge aus seinem Schubs-Konzept fasst. Darüber hinaus argumentiert er, dass Totalverbote – wie das von Conly vorgeschlagene Zigarettenverbot – unpraktikabel seien, weil sie zu schwer durchsetzbar sind.
Statt sich in Sunsteins/Conlys Debatte „Lieber Schubsen oder gleich ganz Verbieten?“ zu verheddern, muss man die Folgen ihrer gemeinsamen paternalistischen Ansicht in den Blick nehmen. Trotz ihrer Differenzen bei der Taktik gehen sie von denselben Grundannahmen aus.
„Sowohl Sunstein als auch Conly schieben diverse soziale Probleme darauf, dass ihrer Meinung nach die Individuen nicht in der Lage sind, in ihrem eigenen Interesse zu handeln.“
Sowohl Sunstein als auch Conly schieben diverse soziale Probleme darauf, dass ihrer Meinung nach die Individuen nicht in der Lage sind, in ihrem eigenen Interesse zu handeln. Nehmen wir das Beispiel der Fettleibigkeit. Beiden Autoren zufolge wollen viele Menschen Gewicht verlieren, scheitern aber fortlaufend dabei, die dafür richtige Entscheidung zu treffen (vernünftig zu essen oder Sport zu treiben), was zur Folge hat, dass sie weiterhin übergewichtig bleiben, mit allen gesundheitlichen Folgen, die dies mit sich bringt. Ihres Erachtens sollte die Regierung dabei nicht tatenlos zuschauen, sondern stattdessen tätig werden und die Menschen von den „schlechten“ Entscheidungen abhalten.
Doch wie einige Kritiker der Gesundheitsbehörden aufgezeigt haben [8], wurde die Definition der Fettleibigkeit so erweitert, dass sie heute auch leichtes Übergewicht umfasst; und der Einfluss von Fettleibigkeit auf die Gesundheit im Allgemeinen (und speziell bei der Langlebigkeit) ist längst nicht eindeutig geklärt. Indem sie also eine Fettsucht-„Epidemie“ herbeireden, übertreiben die Paternalisten das Ausmaß sogenannter „Selbstschädigung”, um dadurch ein Eingreifen von außen zu rechtfertigen.
Sowohl Sunstein, als auch Conly behaupten zu Unrecht, die wahren Interessen der Menschen zu kennen, und dass sie diesen nur „helfen“ würden, die Ziele zu erreichen, die sie sich selbst gesetzt haben. Um beim Beispiel Übergewicht zu bleiben: Schlank sein zu wollen, ist eine persönliche Wertentscheidung, die nicht auf Dritte projiziert werden sollte. Tatsächlich ist der starke Fokus, der in letzter Zeit aufs Körpergewicht gerichtet wird, vorrangig ein Elitenproblem, das bei weitem nicht alle teilen. Wenn man entscheidet, was man essen will, mag sich mancher eher am Geschmack als an den Kalorien orientieren (oder sich darüber keinerlei Gedanken machen). Vielleicht verfolgen die Menschen auch konkurrierende Zwecke – wobei der eine Zweck (Arbeiten für den Lebensunterhalt) sie kaum Zeit für den anderen Zweck (Sport treiben) finden lässt. Wenn Sunstein und Conly von „Wir“ reden, setzen sie irrtümlicherweise voraus, jedermann teile ihre Ziele. Doch, wie White so schön sagt, geht es dem Paternalismus „nicht darum, den Menschen zu helfen, die bessere Entscheidung zu treffen, sondern diejenige Entscheidung, die politische Entscheidungsträger von ihnen erwarten“.
„Dieser paternalistische Ansatz verändert das Verhältnis zwischen Politik und Bürgern. Statt dass die Politik uns vertritt, für uns arbeitet, arbeitet sie nun an uns, und versucht unsere Belange zu verändern.“
Autonomie – ein überholtes Konzept?
Dieser paternalistische Ansatz verändert das Verhältnis zwischen Politik und Bürgern. Statt dass die Politik uns vertritt, für uns arbeitet, arbeitet sie nun an uns, und versucht unsere Belange zu verändern. Das könnte noch angehen, wenn die Politik die Bevölkerung in einer offenen Debatte zu überzeugen versuchen wollte, aber diejenigen, die es zum Schubsen oder Verbieten drängt, wollen gar keine offene Debatte oder Diskussionen. Wie der Ausdruck „Paternalismus“ schon andeutet, werden die Bürger im Wesentlichen wie Kinder behandelt, die selbst keine Mitsprache haben, sondern denen man schon sagt, wo es langgeht.
Beider, sowohl Sunsteins, als auch Conlys, Argumentation liegt die Negation des Menschen als vernunftbegabtes Wesen zugrunde, was dann als Vorwand für eine infantilisierende Grundhaltung dem Bürger gegenüber dient. Sunstein und Thalers Schubsen stützt sich bekanntlich auf die Verhaltensökonomie und deren Annahme, dass die Menschen gewissen Befangenheiten und Denkschwächen unterliegen. Conly springt auf diesen Ansatz auf. Immer wieder betont sie, John Stuart Mills klassische Quelle anti-paternalistischer Argumentation, Über die Freiheit, sei heute überholt. „Marx, Freud, sowie den philosophischen Erkenntnissen des Feminismus folgend, haben wir unsere Sicht auf menschliches Wirken schon einmal revidiert. Heute erkennen wir im Lichte zeitgenössischer Psychologie und Verhaltensökonomie, dass eine weitere Korrektur notwendig ist.“
Wie der Titel ihres Buches, „Gegen Autonomie“, bereits zum Ausdruck bringt, gibt Conly zu, dass ihr Paternalismus eine Absage an Freiheit und moralische Autonomie bedeutet. Und in der Tat argumentiert sie, dass es mit derjenigen Autonomie, deren Loblied Kant und andere gesungen haben, auch nicht weit her sei:
„Der Grund für unsere Wertschätzung der Freiheit liegt in der Behauptung, dass wir vorrangig rational Handelnde seien, jeder von uns gut dazu im Stande, zu bestimmen, was in unserem Leben abläuft. Es liegen jedoch reichlich Belege aus den Bereichen der Psychologie und der Verhaltensökonomie vor, dass dies in vielen Fällen einfach nicht wahr ist. Irrationalität tritt viel häufiger auf, als es uns unsere Tradition der Aufklärung annehmen lässt, und hält uns davon ab, diejenigen Entscheidungen zu treffen, mittels derer wir unsere Ziele erreichen. Der Respekt vor der Autonomie steht auf wackligen Füßen.“
Die Unverblümtheit, mit der Conly die Autonomie angreift, lässt aufhorchen: „Der Grund für unsere Einmischung: Wir trauen euch nicht zu, euch richtig zu entscheiden. In diesen Fällen nehmen wir die Wahlfreiheit weg, weil wir nicht glauben, dass die Menschen selbst eine gute Entscheidung treffen können. Wir glauben nicht, dass der Erhalt Eurer Autonomie, Eurer Freiheit, aufgrund eigener Entscheidungen zu handeln, die damit verbunden Kosten aufwiegt, auch deshalb nicht, weil eure Entscheidungsfindung so schlecht funktioniert, dass Ihr Eure Freiheit ungenügend nutzt.“
Für Sunstein wie Conly bedeutet die Unvernunft der Menschen, dass sie nicht auf sich selbst aufpassen können. Und das gibt ihnen einen Grund, die Politik zum Eingreifen aufzufordern. Letztlich sagt Conly zu Sunstein nichts anderes als: Wir sind uns einig darüber, dass die Menschen dumm sind. Und wenn sie doch so dumm sind, warum sollte man ihnen überhaupt irgendeine Wahl lassen?
„Ja, wir Menschen haben Fehler, doch trotz all dieser Fehler ist es uns gelungen, unsere Verhältnisse umzugestalten, zusammenzuarbeiten und hoch entwickelte Gesellschaften aufzubauen.“
Pessimismus der Eliten
Zumindest kann man Conly zugutehalten, ist dass sie zum Kern der Materie vorstößt und erkennt, dass die Schlüsselfrage die der Autonomie ist. Jeder, den das Konzept des Paternalismus abstößt, muss sich gegen den Angriff auf die menschliche Handlungskompetenz wappnen, den sowohl Conly als auch Sunstein verfechten. Zum einen muss man ihnen entgegnen, dass ihre breitgefächerten Behauptungen nicht durch ihre Forschungen bestätigt werden. Besonders aber ist festzustellen, dass wir – trotz der Einseitigkeiten in unserer Entscheidungsfindung – immer noch über die Fähigkeit zu zielgerichteter Subjektivität verfügen, die eben jene Einseitigkeiten zu überwinden vermag. Ja, wir Menschen haben Fehler, doch trotz all dieser Fehler ist es uns gelungen, unsere Verhältnisse umzugestalten, zusammenzuarbeiten und hoch entwickelte Gesellschaften aufzubauen. Und so waren sich auch Denker in aufklärerischer Tradition wie Mill durchaus der Voreingenommenheit und der rückwärtsgewandten Tendenzen bewusst. Der Unterschied zu heute besteht nicht darin, dass wir einige erstaunliche psychologische oder biologische Einsichten gewonnen haben, die das rationale Subjekt völlig untergraben. Nein: Im Unterschied zu damals ist die heutige Elite zutiefst pessimistisch eingestellt, und dieser Pessimismus richtet sich gegen die menschliche Subjektivität überhaupt.
Bis vor kurzem war der Paternalismus geradezu ein Tabuthema, mit dem man sogleich Visionen vom Großen Bruder heraufbeschwor. Doch bereits fünf Jahre nach dem Schubser-Buch behandeln politische Entscheider und Wissenschaftler ihn als legitimes Thema, und diskutieren seine besten Anwendungsmöglichkeiten. Wie wir an der Diskussion um Conlys Buch sehen können, hat die Idee des Schubsens, präsentiert als ‚sanfter‘ oder ‚weicher‘ Paternalismus, den Ruf nach einer Politik angestoßen, die auch vor Zwangsmaßnahmen nicht zurückschreckt. Wenn man bedenkt, dass die amerikanische (Alkohol-)Prohibition von 1919 bis 1933 heutzutage gemeinhin als Wahnsinnsaktion gewertet wird, muss es da nicht überraschen, dass Intellektuelle sich ernsthaft mit dem Aufruf zu einer Zigarettenprohibition beschäftigten?
Wenn der Gedanke, dass die Menschen hoffnungslos unvernünftig und fehlbar sind, akzeptiert wird, kann das noch weitaus größere – und erheblich schädlichere – Konsequenzen haben als einfach nur Limonaden- und Zigarettenverbote. Wenn Menschen so unfähig sind, taugliche Entscheidungen zu treffen, warum dann nicht auch in andere Bereiche jenseits der Gesundheit eingreifen, beispielsweise in die Berufs- und die Partnerwahl? Diese Bereiche bestimmen das ‚Wohlbefinden‘ doch wohl ebenso sehr, wie es die Gesundheit tut. Und tatsächlich schließt Conly arrangierte Ehen für die Zukunft auch gar nicht aus; nur ist der Forschungsstand dazu noch nicht so weit. „Experten haben keine Daten über die Dauer-Verträglichkeit, welche wir bräuchten, um erfolgreich Prognosen zu erstellen“, so schreibt sie. Und in Anbetracht solch autoritärer Tendenzen kann es uns wohl nicht völlig überraschen, dass Conly in ihrem nächsten Projekt [9] für das Recht des Staates auf Durchsetzung von Ein-Kind-Familien plädieren wird.
Für die nähere Zukunft dürften Conlys Lieblingsmethoden allerdings noch keine Umsetzungschance haben. Die viel trügerischere, und um keinen Deut weniger paternalistische, Schubserei à la Sunstein stellt wahrscheinlich das Vorgehen der Wahl dar. Für die Hinwendung der Elite zum Paternalismus sind die jeweiligen Einzelfragen ohne Belang – schließlich ist das Verbot großer Limonadenbecher nicht mehr als eine symbolische Geste. Was diese paternalistische Wende wirklich widerspiegelt, ist eine herrschende Klasse, die ins Schwimmen geraten ist, die pessimistisch ist in Bezug auf ihre Fähigkeit, die Gesellschaft voranzubringen. In Ermangelung bedeutungsvoller Umwälzungen, die wirklich etwas an den Umständen der Menschen ändern könnten, geben derartige Maßnahmen den Politikern eine Daseinsberechtigung (quasi als Beleg ihres Kümmerns), die ihnen ansonsten fehlen würde. Sich selbst angreifbar fühlend, projiziert die Elite ihre eigenen Unsicherheiten auf die Bevölkerung als Ganzes, und regt sich über Fragen auf, die zuvor nicht als wirklich große Probleme galten. Dass irgendjemand ihr geneigtes Interesse daran nicht teilen könnte, liegt jenseits ihrer Vorstellungskraft, weshalb sie auch ohne weiteres davon ausgehen, ihre eigenen Interessen ganz paternalistisch im Namen der Allgemeinheit verfolgen zu können.
Wir leben nicht in einer restriktiven Periode wie der US-Prohibitionszeit der 1920er- und 30er-Jahre. Doch in mancher Hinsicht ist unsere Situation sogar schlimmer. Die Abstinenzbewegung des späten 19. Jahrhunderts wurde von Gruppen wie der Women’s Christian Temperance Union angeführt, die nach Aussage ihrer Präsidentin Frances Willard [10] bestrebt war, „eine Vereinigung von Frauen aller Konfessionen zum Zwecke der Erziehung der Jugend, zur Heranbildung eines besseren Volksempfindens, zur Besserung der trinkenden Klassen [zu schaffen], und durch die Macht göttlicher Gnade diejenigen zu wandeln, die vom Alkohol versklavt sind, und die Alkoholläden per Gesetz von unseren Straßen zu entfernen“. Für Frauen war diese Bewegung, die auch für das Frauenwahlrecht und Reformen bei den Arbeitsbedingungen kämpfte, oftmals der Einstieg ins öffentliche Leben. So schlimm die Prohibition auch werden sollte, so wurde die Bewegung doch durch Menschen angestoßen, die davon ausgingen, die stark trinkende Arbeiterklasse könnte ihre Lage mittels Bildung künftig in die eigenen Hände nehmen.
„Die heutigen Paternalisten sehen keine Hoffnung auf Erlösung. Die Menschen sind ihrer Ansicht nach rettungslos unvernünftig – ein unabänderliches Programm in unseren Hirnen oder Genen.“
Demgegenüber sehen unsere heutigen Paternalisten keine Hoffnung auf Erlösung. Die Menschen sind ihrer Ansicht nach rettungslos unvernünftig – ein unabänderliches Programm in unseren Hirnen oder Genen. Nach Auffassung derjenigen, die da gerne schubsen oder verbieten möchten, verfügen die Massen nicht über die Fähigkeit, rational zu urteilen oder aus Fehlentscheidungen zu lernen, und dementsprechend werden sie nicht einmal versuchen, diese mit Argumenten zu überzeugen, und schon gar nicht anderen erlauben, selbst zu entscheiden.
Wie die derzeitige Diskussion zeigt, sind die neuen Paternalisten der Menschheit gegenüber auf unerbittliche Weise pessimistisch. Das heißt allerdings nicht, dass wir das auch sein müssen.