15.02.2013

Über den Disziplinen

Rezension von Boris Kotchoubey

Günter Ropohl sucht nach einem Gegenmittel zur fortschreitenden Zersplitterung des Wissens. Die Interdisziplinarität bietet keinen Ausweg. Stattdessen brauchen wir einen transdisziplinären Ansatz: die allgemeine Systemtheorie.

„Information“ ist das Wort unseres Zeitalters. Seine Häufigkeit in der Sprache nimmt stets zu. Wir leben, so wird oft gesagt, in einer „Informationsgesellschaft“ – in dem Sinne, dass immer größere Mengen an Information immer mehr Menschen zugänglich sind.

Etwas schlechter steht es mit dem Begriff „Wissen“ angesichts der Tatsache, dass der Bruchteil des gesamten erzeugten Wissens, den jeder Einzelne verarbeiten und verdauen kann, mit jedem Tag immer kleiner wird. Von einer „Wissensgesellschaft“ zu sprechen, erscheint daher eher problematisch. Noch kritischer ist die Situation mit dem Wort „Bildung“, denn dieses setzt eine gewisse Synthese der einzelnen Kenntnisse voraus, und diese Synthese gibt es nicht mal in Anfängen. In der aktuellen Literatur begegnet uns „Bildung“ immer häufiger mit ehrlosen Präfixen „Halb-„ bzw. „Un-„. Schließlich kann in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Weisheit“ erwähnt werden, der aus der modernen Sprache zu verschwinden droht.

Transdisziplinität statt Wissenszersplitterung

„Mehr Wissen bedeutet mehr Kummer“ sagte der Ecclesiastes. Jedenfalls müssen wir zugeben, dass mehr Information nicht unbedingt mehr Wissen bedeutet, und wahrscheinlich bedeutet sie sogar weniger Bildung und Weisheit. Günther Ropohl meint im vorliegenden Buch, die Ursache der wachsenden Diskrepanz zwischen dem immer einfacheren Zugang zu den einzelnen Wissensinhalten und den zunehmenden Schwierigkeiten bei Wissensverarbeitung sei v.a. der Mangel an integrativen Ideen, an universalen Prinzipien wissenschaftlicher Analyse. Die universitäre Wissenschaft zerlegte die Welt in Seinsbereiche, von denen jeder zur Domäne einer spezialisierten Disziplin wurde. Dies erschien nicht sehr problematisch, solange es nur wenige große Domänen gab; aber der Vorgang der Spezialisierung und der Zerteilung, einmal angefangen, setzte sich fort und führte schließlich zum notorischen Dilemma, dass man entweder Alles über so gut wie Nichts oder so gut wie Nichts über Alles wissen kann.

Der Autor zeigt, dass die Versuche, diese Zersplitterung des Wissens durch die sog. interdisziplinäre Forschung zu überwinden, notwendigerweise scheitern, weil sie davon ausgehen, dass die Integration irgendwo „zwischen“ den Köpfen von Spezialisten entstehen sollte; sie kann aber nur im Kopf eines Einzelnen stattfinden. Die einzige Alternative zur fortschreitenden Spezialisierung ist deshalb nicht die Interdisziplinarität, sondern ein neuer, transdisziplinärer Ansatz („trans-“ = „über“ die bestehenden Disziplinen statt „inter-„ = zwischen ihnen). Die Grundlage des transdisziplinären Paradigmas bildet die Die allgemeine Systemtheorie als universelles, integrierendes Werkzeug für die forschende Analyse unterschiedlichster Phänomene der Welt.

Die allgemeine Systemtheorie

Die Umrisse dieser Theorie werden im Buch quasiparallel in drei Sprachen ausgelegt: einer formell mathematischen, einer grafischen und einer allgemeinen wissenschaftlichen Sprache. Dies macht es natürlich einem Leser schwer, über die Unverständlichkeit zu klagen. Im 1. Kapitel erläutert Ropohl die Geschichte des systemischen Ansatzes sowohl in der Philosophie, als auch in der Naturwissenschaft und zeigt, dass zahlreiche Autoren tatsächlich im Rahmen der Systemtheorie arbeite(te)n, ohne dessen klar bewusst zu sein, etwa wie der bekannte Bourgeois Gentilhomme bei Moliere, der nicht wusste, dass er in Prosa spricht.

Im 2.Kapitel werden die Grundbegriffe der Systemtheorie, wie System und Umgebung, Struktur und Funktion, Subsysteme und Supersysteme usw. erklärt. Der Autor trifft hier übrigens eine wichtige Unterscheidung zwischen Umgebung und Umwelt. Bei bestimmten Systemen (besonders typisch, aber nicht nur, in der Ökologie) ist es sinnvoll, die Umwelt eines Organismus (oder einer Population) als Teil des Systems zu betrachten. Umgebung ist dagegen als Gruppe von Elementen definiert, die mit einem System interagieren, ohne ihm anzugehören.

„Die Allgemeine Systemtheorie soll die Basis für eine synthetische Philosophie bilden, die die disziplinäre Zersplitterung des Wissens überwindet.“

Das 3.Kapitel handelt von verschiedenen Möglichkeiten Systeme zu klassifizieren. Typischerweise verläuft die Klassifizierung von Systemen nach dem disziplinären Prinzip: Es gäbe physikalische, chemische, biologische, … soziale und philosophische Systeme. Dies stünde aber im Widerspruch mit einer der Hauptideen des Autors, dass die Systemtheorie die disziplinären Grenzen prinzipiell sprengen sollte. Daher setzt sich Ropohl für formelle Klassifikationskriterien ein und schlägt ein konsequentes und überzeugendes System der Klassifikationsmerkmale vor, die zwischen verschiedenen Systemarten unabhängig von den durch universitäre Disziplinen bestimmten „Seinsbereichen“ unterscheiden lassen. Zugleich werden einige (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Beispiele solcher formell definierten Systeme diskutiert. Wir können also die Verschiedenartigkeit von Systemen erfahren, ohne dabei die Welt in Seinsbereiche unterteilen zu müssen.

Im 4. und 5. Kapitel betrachtet der Autor einige spezielle Systeme entsprechend disziplinärer Bereiche, und zwar soziologischer und ökologischer Systeme, und das 6. Kapitel schließt den Argumentationskreis: Die Allgemeine Systemtheorie sollte die Basis für eine synthetische Philosophie bilden, die die disziplinäre Zersplitterung des Wissens überwindet.

Stärken des Buches

Um die stärksten Seiten des Buches zusammenzufassen: Erstens: Es überzeugt den Leser davon, dass die Systemtheorie weder eine Modererscheinung ist (und schon gar nicht die Erscheinung vergangener Moden), noch mit den Trivialitäten wie „alles hängt mit allem zusammen“ etwas zu tun hat. Vielmehr zeigt es die Systemtheorie als ein mächtiges analytisches Instrument, das in unterschiedlichsten Bereichen einsetzbar ist.

Zweitens dient dieses Instrument nicht nur dem Wissenschaftler (dem „Wissenshersteller“), sondern vor allem und in erster Linie einem „Wissensverbraucher“, d.h. jedem ausgebildeten Menschen, der hofft, dass Wissen und Wissenschaft ihm bei der praktischen Orientierung in seiner Lebenswelt, der Suche nach seinem Weg und der Lösung seiner Probleme helfen. Diese Person ist der Hauptadressat sowohl des Buches, als auch der Allgemeinen Systemtheorie im Ganzen. Ein Forscher, dessen Interessen in einem speziellen Bereich - sei es beispielsweise die Struktur der Purkinje-Zellen im Kleinhirn oder die isländische Literatur am Ende des 17.Jh. - kann in gewissem Grad auch als enger Spezialist erfolgreich sein; wenn er aber aus dem Labor in den Alltag kommt und versucht, als gebildete Person das wissenschaftlich gesicherte Wissen in den zentralen Bereichen seines Lebens (Arbeit, Freizeit, Umwelt, Politik, Gesundheit usw.) nützlich zu machen, ist er ohne einen integrativen Ansatz hilflos.

Drittens demonstriert der Autor einen besonderen heuristischen Wert der formellen Analyse von Systemen. Jede Analyse setzt einige Momente des analysierten Objekts als Grundlagen voraus und nimmt sie aus der methodologischen Kritik heraus. Versuchen wir, ein System vom Anfang an inhaltlich anzupacken, laufen wir Gefahr, gerade diejenigen Aspekte des Systems unkritisch anzunehmen, die schon aufgrund der vorherigen Kenntnisse eine zentrale Stellung besaßen. Deshalb kann eine inhaltliche Systemanalyse paradoxerweise dazu führen, dass uns der systemische Ansatz im untersuchten Objekt lediglich das zeigt, was wir auch ohne diesen Ansatz wussten. Im Gegensatz dazu fordert uns die formelle Systemanalyse, unseren Blickwinkel zu ändern, und deckt im Objekt diejenigen Aspekte auf, die davor unklar bzw. versteckt waren.
Viertens zeigt Günter Ropohl am Beispiel sozialer Systeme auch die Gefahren der unkritischen Anwendung der Systemphraseologie. Die Betonung der Verbindung zwischen den Elementen (eher als der Elemente selbst) ist zwar generell für den Systemansatz konstituierend; so können z.B. dieselben drei Elemente A, B, C je nach der Natur der Verbindungen zwischen ihnen viele vollkommen verschiedene Systeme ergeben. Daraus aber wie etwa Niklas Luhmann die markante These herzuleiten, dass „Systeme nicht aus den Elementen, sondern aus den Verbindungen“ bestehen, bzw. dass die Komponenten eines sozialen Systems Beziehungen seien, ist eine Metapher, die, wie die meisten Metaphern, zwar in Einzelfällen produktiv sein kann, im Allgemeinen aber falsch und irreführend ist. Insbesondere bei den Systemen der Gesellschaft, deren Elemente menschliche Personen sind, kann eine solche Systemrhetorik mit Leichtigkeit zur Ideologie eines radikalen Antihumanismus werden.

Noch schlimmer wird es, wenn jene notorischen „Verbindungen“ allein auf den Informationsaustausch (im sozialen System: Kommunikation; in der Umgangssprache auch „bla-bla“ genannt) reduziert werden. In einem solchen System gibt es weder Materie noch Energie, weder Stoffwechsel noch Thermodynamik. Im Falle sozialer Systeme führt dies zu einer Parodie auf eine Gesellschaft, in der Menschen nichts herstellen, keinen Kontakt mit der wirklichen (nicht der in grünen Gehirnen eingebildeten) Natur haben und überhaupt nichts tun als nur miteinander „Texte“ austauschen; einer Gesellschaft, in der der Strom aus der Steckdose und das Brot vom Bäcker kommt, in der es keine wirklichen Nöte und Bedürfnisse gibt und der gesamte Konsum allein durch die böse Werbung bestimmt wird – kurz und gut, in dieser Karikatur erkennen wir das wohlbekannte Gesellschaftsbild eines typischen westlichen Humanitariers. Zur Entschuldigung der Sozialwissenschaftler kann hier gesagt werden, dass die Neuroforschung den gleichen Fehler macht, indem sie versucht, das Gehirn (ausgerechnet das Organ, das am meisten Energie verbraucht und am stärksten von thermodynamischen Regelmäßigkeiten abhängt) als reine Informationsverarbeitungsmaschine aufzufassen.

Kritische Aspekte

Die meines Erachtens schwächeren Seiten des vorliegenden Buches sind - wie oft bei Büchern und Menschen - direkte Fortsetzungen dessen Tugenden.

Der Autor unterscheidet zwischen den „Ganzheiten“, d.h. objektiv existierenden Mengen der Elemente der Welt, und Systemen, d.h. vom menschlichen forschenden Denken gebauten Modellen jener Ganzheiten. Die erste und natürlichste Frage, die eine solche Differenzierung sofort auslöst, ist die Frage, wozu wir noch extra das Wort „System“ brauchen, wenn wir für dasselbe bereits das Wort „Modell“ haben.

Der Autor verfällt hier meines Erachtens dem Denkfehler, dass alle Erscheinungen entweder objektiv („wirklich existierend“), oder subjektiv (geistig bzw. ideell vorhanden) sein müssen. Dabei sind vielleicht die interessantesten Dinge weder subjektiv noch objektiv (oder, wenn Sie wollen, sowohl subjektiv als auch objektiv). Das offensichtlichste Beispiel dessen, was sich keineswegs im Rahmen der objektiv-subjektiven Dichotomie beschreiben lässt, ist unsere ordinäre, tagtägliche Wahrnehmung; ein anderes Beispiel sind Systeme.

Ein System ist eine Gruppe von Elementen, unter denen die Verbindungen in einer gewissen Hinsicht stärker bzw. enger sind als ihre Verbindungen mit den Elementen außerhalb der Gruppe (mit der Umgebung). Diese Elemente und ihre Verbindungen sind keine Hirngespinste eines Forschers; sie gibt es wirklich. Aber die Hinsicht, d.h. die Sicht der Dinge, nach welcher wir diese (und nicht jene) Elemente und Verbindungen hervorheben, ist immer nur eine mögliche; diese Sicht ist immer „alternativvoll“. So sind z.B. alle Prozesse im menschlichen Körper so eng verbunden, dass es durchaus objektive Gründe dafür gibt, ihn als System der Organe (Herz, Magen, Darm, Niere…) und alle Dienstelemente wie Küche, Wohn- und Schlafräume, Bad, Klo, Heizung usw. als die Umgebung dieses Systems zu betrachten. Wie natürlich diese Betrachtung erscheinen mag, zwingend ist sie auch nicht. Unter einem bestimmten Blickwinkel könnte man z.B. von einem „Entsorgungssystem“ sprechen, dessen Elemente Nieren, Harnleiter, Blase, Urinal, Kanalröhren usw. sind und zu dessen Umgebung z.B. der Kreislauf, das Blut, das Nervensystem, die Wasserleitungen, die Hauswände u.v.a. gehören. Man kann also je nach dem eigenen „subjektiven“ Interesse in einer Menge von Elementen unterschiedliche Unterscheidungen treffen, was ein System und was eine Umgebung ist. Unterschiedliche, aber nicht willkürliche. Man kann nicht das als System auffassen, was es nicht gibt.

Die Betonung auf den allgemeinen systemischen Prinzipien und der allgemeinen Methode der systemischen Analyse gehört wie schon gesagt zu den wichtigen Vorteilen des Buches. Dennoch setzt diese Betonung eine gewisse Unterschätzung der Besonderheiten bereichspezifischer Systeme voraus. Insbesondere verdienen lebendige Systeme (auch „Organismen“ genannt) in diesem Buch keine große Beachtung. Das ist ein bisschen schade, da gerade solche Systeme im Wesentlichen zur Gründung der allgemeinen Systemtheorie durch Ludwig von Bertalanffy und seine Vorgänger wie Claude Bernard, Walter Cannon, Nikolai Bernstein (alles Physiologen) beigetragen haben. Diese Missachtung für bereichspezifische Systemeigenschaften ist nicht zufällig, sondern entspringt wiederum der durchaus positiven Grundintention zur Überwindung der interdisziplinären Grenzen. Dabei übersieht der Autor (wie so viele Rebellen in der Geschichte), dass das Alte, das zu überwinden ist, auch seine Begründung hat. Die Aussage Ropohls, dass die Unterteilung des Wissens in Fachdisziplinen einen zufälligen, rein historisch bedingten Charakter trägt und mit der Realität der Welt nichts zu tun hat, könnte vermuten lassen, dass er z.B. auch den Unterschied zwischen der lebendigen und der toten Natur nicht anerkennt. Dann wundert es nicht, dass die besonderen Eigenschaften lebendiger Systeme im besten Fall skeptisch erwähnt, meistens ignoriert werden.

Wie schon oben angedeutet, teile ich großenteils die Kritik Ropohls an dem missglückten Versuch Niklas Luhmanns, systemtheoretische Begriffe für die Soziologie nutzbar zu machen. Dennoch unterschätzt er in seiner Kritik den einfachen Fakt, dass Soziologen (resp. Biologen, Psychologen…) vollkommen im Recht sind, wenn sie sich vor allem für die jeweils „eigenen“ Systeme statt für Systeme im Allgemeinen interessieren. Im 3.Kapitel macht der Autor klar, dass auch diejenigen Systemeigenschaften vom großen Interesse sein können, die nur bestimmte (nicht alle) Systeme besitzen. Wenn es so ist, dann erscheint mir im 5.Kapitel die Kritik an die Soziologen inkonsequent, dass diese soziale Systeme eher im Rahmen spezieller (und nicht allgemeiner) systemischer Gesetzmäßigkeiten analysieren.

Schließlich sind Selbsterhaltung der Systeme und ihre Abgrenzung von der Umgebung keineswegs mysteriöser als z.B. die Rückkopplung. Selbsterhaltung bedeutet, dass Komponenten eines Systems Vorgänge initiieren oder beschleunigen, in denen diese (oder andere) Komponenten desselben Systems erzeugt werden. Vielleicht das einfachste Beispiel ist eine Substanz, die die chemische Reaktion katalysiert, deren Produkt diese Substanz ist [1]. Abgrenzung bedeutet, dass ein System solche Subsysteme beinhaltet, deren Hauptfunktionen darin bestehen, das System von seiner Umgebung zu trennen. Jeder von uns kann auf Anhieb Dutzende Beispiele solcher trennenden Subsysteme nennen, die etwa Lipidmembranen, -Lymphozyten, Wohnwände, Fachjargon, Zollamt oder Bundesnachrichtendienst heißen können [2].

Fazit

Trotz – und sogar wegen – dieser und anderer kontroversen Momente würde ich das Buch uneingeschränkt zum Lesen empfehlen. Es geht über die bloße Anerkennung der traurigen Folgen der Wissenszersplitterung hinaus zu einer realistischen Perspektive, diese Zersplitterung zu überwinden. Die allgemeine Systemtheorie sollte jeden interessieren, für den die Worte Bildung und Wissen mehr bedeuten als nur Ausbildung und berufliche Kenntnisse.

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