01.11.2008
Die radikale Humanität der Wissenschaft
Essay von Raymond Tallis
Warum genießen wissenschaftlicher Sachverstand und die Wissenschaften insgesamt einen so schlechten Ruf, während unsinnige Behauptungen über die Wissenschaften oder wissenschaftlich verbrämter Unsinn Hochkonjunktur haben? Die Ursache liegt in einer Reihe weit verbreiteter Vorurteile und Mythen: etwa, dass die Wissenschaft unüberwindbare Schwierigkeiten erzeuge, dass sie nicht in der Lage sei, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, und wenn doch, so nur zu einem zu hohen Preis und zulasten menschlicher Werte. Diese Vorstellungen zu entkräften ist die Voraussetzung dafür, dass die öffentliche Wertschätzung von Wissenschaft gesteigert werden kann.
Eigentlich ist es bestürzend und lächerlich zugleich, dass man heute die Errungenschaften der Wissenschaft überhaupt verteidigen muss. Und dennoch ist es notwendig. Einer Studie zufolge glaubt weniger als die Hälfte der britischen Bevölkerung, dass die Wissenschaft eine für die Gesellschaft positive Rolle spielt. 1 Eine andere Umfrage zeichnete ein auf den ersten Blick positiveres Bild: Ihr zufolge glaubten 85 Prozent der Bevölkerung, die Wissenschaft hätte einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft. Dennoch gingen nur 71 Prozent davon aus, dass die Errungenschaften die Risiken überwiegen, und nur 44 Prozent widersprachen der Aussage, die Risiken würden überwiegen. 2
Die Medizin verfolgt zwei grundlegende Ziele: zum einen das Aufschieben des durch Krankheit verursachten Todes, zum anderen die Linderung des durch körperliche Gebrechen ausgelösten Leidens. In beiden Bereichen hat die wissenschaftsbasierte Medizin hervorragende Fortschritte erzielt. Als eines von unzähligen Beispielen sei an dieser Stelle die Entwicklung der Lebenserwartung genannt. Sie hat sich in Großbritannien seit Beginn des 19. Jahrhunderts mehr als verdoppelt: Um 1800 betrug sie weniger als 30 Jahre, im Jahr 2000 lag sie bei 67 Jahren. 3 Dieser Trend setzt sich weiter fort: Einem Bericht des Komitees für Wissenschaft und Technologie des britischen Oberhauses zufolge steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in jedem Jahrzehnt um gut zwei Jahre. 4 Doch überraschenderweise sind angesichts dieser überaus erfreulichen Nachrichten auch negative Äußerungen zu vernehmen. Miesmacher behaupten, ein längeres Leben verlängere in erster Linie das menschliche Leid und liefere den Menschen der modernen Gerätemedizin aus. Doch diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Denn die moderne Medizin hat gerade im Bereich der Krankheitsprävention enorme Fortschritte erzielt. Deutlich wird dies, wenn man die Entwicklung der Häufigkeit von Schlaganfällen betrachtet, die eine der häufigsten Ursachen für schwere Behinderungen im Alter darstellen: Zwei im Abstand von 20 Jahren in Oxford an denselben Probanden durchgeführte Studien ergaben, dass die altersbedingte Schlaganfallrate dramatisch gesunken ist: Anstatt des durch die Alterung der Probanden erwarteten Anstiegs der Rate um ca. 30 Prozent sank sie um 30 Prozent. Diese positive Entwicklung wird sich weiter fortsetzen, da durch eine systematischere Anwendung unseres Wissens der Ausbruch schwerer Krankheiten immer besser vermieden oder zumindest hinausgezögert werden kann. Oder, um es mit den Worten von Grimley Evans zu formulieren: „Wir werden nicht nur mehr Zeit mit Leben, sondern auch weniger Zeit mit dem Sterben verbringen.“ 5
Wissenschaft und menschliche Werte
Viele Wissenschaftsskeptiker gehen davon aus, dass wir dem Fortschritt der Wissenschaft unsere Menschlichkeit sowie unsere fundamentalen menschlichen Werte opfern. Diese Argumentation ist alles andere als neu, sie lässt sich bis zu der insbesondere in Deutschland und England stark ausgeprägten romantischen Bewegung des späten 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. 6 In den letzten Jahrzehnten wurde diese Sichtweise vor allem in der grünen Bewegung lautstark vertreten. Aber nicht nur durch dort: Homo faber, so lesen wir, verlor den Respekt für die Natur und schickte sich an, diese zu zerstören und die Welt unbewohnbar zu machen. Wissenschaftsskepsis stellt das Fundament ganzer Denkschulen dar. In klassischer Form zu finden ist sie in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung: Dort wird argumentiert, die Industrialisierung des Todes sei nicht nur ein Beispiel für die technologischen Möglichkeiten, die uns die Wissenschaft bietet, sondern Ausdruck des Wesens der Wissenschaft selbst. Sicherlich hat die Wissenschaft unsere Möglichkeiten, Schlechtes und Unmenschliches zu tun, sowohl individuell als auch kollektiv, sowohl vorsätzlich als auch unbeabsichtigt vergrößert. Den Wert der Wissenschaft damit zu verteidigen, dass sie neutral und nicht in der Lage sei, die Anwendung des durch sie erlangten Wissens zu steuern, löst bei Kritikern in der Regel wüste Beschimpfungen aus. Diese Argumentation spült Wasser auf ihre Mühlen, suggeriert sie doch, dass die Wissenschaft durch ihre Wertneutralität tatsächlich unverantwortbar und unmoralisch, mithin im ureigensten Sinne des Wortes „wertlos“ sei. Die Kritik an der unmoralischen und wertlosen Wissenschaft geht zumeist Hand in Hand mit einer sentimentalen Verklärung der Natur und ihrer angeblichen Sinnhaftigkeit. Tatsächlich aber schert sich Mutter Natur herzlich wenig um uns oder um die Menschen, die wir lieben. Für sie ist der Bandwurm im Darm eines Kindes genauso viel wert wie das Kind, das aufgrund des Bandwurms an Anämie stirbt. Die Naturverklärung macht es leicht, die Ethik der Wissenschaften zu kritisieren. Ich möchte daher die Wissenschaft nicht nur aufgrund der durch sie realisierbaren menschlichen Bedürfnisse verteidigen, sondern eben gerade im Hinblick auf die fundamentalen und wundervollen menschlichen Werte, die sie verkörpert.
Wissenschaftsphobie und Pseudowissenschaft
Der Reiz des Pseudowissenschaftlichen geht nicht zuletzt auch davon aus, dass sie scheinbar die Kluft zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Alltäglichen zu überwinden imstande sind. Wenn ein Lifestyle-Guru großspurig verkündet, Brustkrebs könne durch das Massieren des lymphatischen Systems bekämpft werden, dann scheinen lebensnahe und angenehme Gewohnheiten mit medizinischen Fakten zusammenzufallen. Doch dies ist eine Illusion. Tatsächlich ist wissenschaftliches Denken alles andere als natürlich, wie bereits Lewis Wolpert richtigstellte: „Die Art und Weise, in der sich die Natur entwickelt hat, sowie die Gesetze, denen sie folgt, lassen keine offensichtliche Verbindung zu unserem Alltagsleben erkennen.“ 7 Wir müssen unsere Vorurteile überwinden, die uns auf jeder Ebene des Bewusstseins verfolgen – von der spontanen Wahrnehmung bis hin zur Ebene abstrakter Gedanken. Tun wir dies nicht, laufen wir Gefahr, Wissenschaft misszuverstehen und falsch zu interpretieren. Selbst Wissenschaftlern passiert es, dass sie außerhalb ihres Wissensbereiches nicht dieselbe Vorsicht walten lassen, wie sie es in ihrem Spezialgebiet tun würden.
Wissenschaft und menschliches Bewusstsein
Warum ist die Wissenschaft, wenn sie doch in Einklang mit unseren menschlichen Werten steht, vielen Menschen sso fremd? Ich denke, es hängt damit zusammen, dass es sich bei der Wissenschaft um den am stärksten ausgebildeten und mithin extremsten Aspekt des menschlichen Bewusstseins handelt, der uns aufgrund seiner Radikalität ein fast schon metaphysisches Unbehagen bereitet. 8 Menschen sind einzigartige, „wissende Tiere“: Sie sind in der Lage, ihre körperliche Existenz zu transzendieren und zu wissen, dass Objekte existieren, dass Dinge geschehen und dass dieses oder jenes richtig ist. Dieser einzigartige Sinn dafür, dass bestimmte Situationen existieren, auch wenn sie jenseits unseres begrenzten sensorischen Erfahrungshorizontes liegen, ist der Kern unseres Bewusstseins, Teil einer Welt zu sein, die intrinsische Eigenschaften hat, auf kausalen Zusammenhängen beruht und nach eigenen Regeln funktioniert. Diese zu ergründen stellt die Triebfeder unserer enormen Neugierde dar – und Wissenschaft besteht aus nichts anderem als aus unserer globalen und organisierten Neugierde. Wir leben nicht nur in unseren Körpern, sondern bewohnen eine Welt, die sowohl aus unseren unmittelbaren Erfahrungen als auch aus auch Fakten, Vorstellungen und Vermutungen von Millionen fremder Menschen besteht. Dies gilt auch für unser Alltagsleben: Unsere Welt besteht aus Worten, aus Menschen und aus Dingen. Die Wissenschaft stellt das am weitesten entwickelte Produkt dieser geistigen Gemeinschaft dar.