12.09.2022

Gründe genug, sich zu erregen

Von Christoph Lövenich

Titelbild

Foto: Ivan Radic via Flickr / CC BY 2.0

Zur ‚coronakritischen‘ Literatur gehören auch die Erreger-Hefte aus der ideologiekritischen Linken, die über die eigene Szene hinaus Denkanstöße liefern. Kürzlich ist der zweite Band erschienen.

Gegen den „munter weiter befeuerten Viruswahn“, den „Hygiene-Ausnahmezustand“ und „die neue Pflicht zur Gesundheit“ wenden sich oppositionell Denkende aus unterschiedlichsten Kreisen. Auch harsche Kritik an „Einschließungs-, Zwangsverhüllungs- und -spritzungsmaßnahmen oder der QR-Code-Apartheid“ findet sich bei ‚Alternativen‘ verschiedener Ausrichtung. Ihr verleihen zahlreiche Alternativmedien, Print oder online, Ausdruck.

Die obigen (und folgenden) Zitate stammen aus der zweiten Ausgabe des Erreger, einem gedruckten Magazin aus den Reihen der sogenannten ideologiekritischen Linken, die früher mal als „Antideutsche“ firmierten. Auch Teile dieser, von Marx und der Kritischen Theorie inspirierten Szene wenden sich gegen „den blanken Gesundheitswahn“, „die Notstandspolitik“ und den „Primat der Volksgesundheit“. Die erste Ausgabe des Erreger, einer nach Eigenaussage „mit liberalen Einsprengseln versehenen, zaghaft kommunistischen Zeitschrift“ war vergangenes Jahr erschienen, diesen Sommer legte ein anonymes Kollektiv das zweite Heft vor, das auf 180 Seiten Dutzende Texte von meist überschaubarer Länge präsentiert. Und die Lektüre lohnt sich auch für Leser, die mit der Szene bisher wenig in Berührung gekommen sind oder mit deren ideologischen Prämissen an sich wenig anfangen können. (Abgesehen davon zeigen kursierende Etiketten wie „rechtsantideutsch“, wie wenig klassische politische Koordinatensysteme noch taugen.)

Die Autoren, teils unter Pseudonym schreibend, stammen aus dem In- und Ausland und bilden nach Meinung der Redaktion „eine hübsche kleine Querfront“. Die wahre Querfront, wie insbesondere das Deutschland der letzten Jahre gezeigt habe, verläuft aber „von Söder bis zu den Postautonomen“, „vom Kanzleramt ins autonome Zentrum“. Wer öfters montags spazieren geht, kennt nicht nur die Diffamierung von oben, sondern vielerorts ebenso – meist kleine – Gegendemonstrationen schwarz vermummter Gestalten, die sich inzwischen sehr staats- und pharmatreu gerieren. Die „staatsantifaschistische Linke (StantLi)“ nennt Hendrik Wallat das im Heft.

„Der Erreger erregt sich nicht zu Unrecht über die Rolle der Linken in der Pandemiepolitik.“

Überhaupt erregt sich der Erreger nicht zu Unrecht über die Rolle der Linken in der Pandemiepolitik: „Linke Subströmungen als Einpeitscher“, ein „linkes Schweigekartell“, dessen „einstiger Anspruch auf Gesellschaftsveränderung in emanzipatorischer Absicht heute nur noch als Gerücht durch die Welt geistert.“ Ein französischer Text – mehrere Beiträge des Bandes sind aus anderen Sprachen übersetzt – wirft der Linken sogar vor, 2020 einen „himmelschreienden Verrat“ wie 1914 begangen zu haben. Christian Kleinschmidt erwähnt diverse linksradikale Medien und Denker, die aus dieser Sicht in Corona-Zeiten versagt haben, an anderer Stelle wird Jürgen Habermas in die Mangel genommen. Auch das angestammte Zentralorgan der Ideologiekritischen, die Bahamas, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, teilweise mitgemacht zu haben.

Eine Linke, die an vorderster Front eine „vollkommen neue Form des Totalitären“ vorantreibt, kritisiert Tove Soiland. „Das Frappanteste ist, wie weitgehend sich die Linke seit Beginn der Coronakrise aus ihren angestammten Kritikfeldern, allen voran der Kritik an den internationalen Organisationen der Globalisierung, verabschiedet hat, sodass man zuweilen den Eindruck bekommt, ihre Haltung sei nicht mehr von derjenigen des World Economic Forums und seines Begründers Klaus Schwab zu unterscheiden.“

Soilands Beitrag war zuvor im Neuen Deutschland erschienen, der aus Felix Perreforts Feder über „die katastrophalen Folgen der coronapolitischen Kinderfeindlichkeit“ bei der Achse des Guten. Wieder andere Artikel sind speziell für den Erreger entstanden. Als über einschlägige Kreise hinaus bekannter Name unter den Autoren findet sich Dietrich Brüggemann, ein wichtiger Kopf bei der Aktion #allesdichtmachen. Der Regisseur sieht in dem Umstand, dass deutsche Filme die Coronapolitik zumeist ausblenden, einen „Eskapismus erster Güte“. Eine eigene Aktion, vor der Berliner Volksbühne, ist im Band, der auch verschiedene Abbildungen und Flyer enthält, dokumentiert.

Mehr Sympathie als gegenüber den Mainstream-Linken haben viele Autoren für Corona-Kritiker aller Couleur, mehrfach liebevoll „Querstänker“ genannt. Den billigen Standardvorwurf der Verschwörungstheorien lassen sie so nicht gelten. „Wer die Frage nachdem cui bono an sich als strukturell antisemitisch denunziert“, so Politologe Wallat, „betreibt keine wissenschaftliche Aufklärung, sondern herrschaftsapologetische Propaganda.“ Die Macht der Pharmaindustrie z.B. dürfe nicht verschwiegen werden. Und gewisse historische Parallelen, so Horst Pankow, dürfen kein Tabu sein.

„Nein, woke sind die Ideologiekritischen wirklich nicht.“

Der autoritäre Charakter der Deutschen, an denen im Speziellen sich der Erreger meist abarbeitet, kommt nicht unbedingt in dieser Formulierung, aber vielfach zur Sprache. Jürgen Neucölln spricht von der „anscheinend tiefsitzenden Sehnsucht der Deutschen nach einer mehr Solidarität und Gemeinschaftssinn spendenden unsichtbaren Hand viraler Bedrohung, die in selbstverordneter Einsamkeit zu pflegen man sich wünschte.“ So befinde sich die Politik der letzten Jahre „im Einklang mit dem Volkswillen“, er diagnostiziert „alten Volksgemeinschaftsgeist in neuem postmodernen Gewand“. Hannah Arendts Begriff des „Bündnisses von Mob und Elite“ begegnen wir nicht nur einmal.

Es sind nicht Zahlen und Statistiken, mit denen der Band aufwartet, sondern Gesellschaftsanalysen, die aktuelle Veränderungen in einen größeren Kontext setzen. Martin Blumentritt beschäftigt sich z.B. in der Tradition Ivan Illichs mit der Iatrogenese von Krankheiten. („Warnhinweise und Schockbilder dürften auf Medikamentenpackungen angebrachter sein als auf Zigarettenschachteln.“) In eine ähnliche Kerbe schlägt Mirko Große-Bordewick, wenn er „Veganismus, die Schwemme von Ersatzprodukten, die anhaltende Beliebtheit unzähliger Diätprogramme und dergleichen […] als Anstrengungen zur Abschaffung von Geschmack und Genuss“ und Vorläufer der Coronamaßnahmen betrachtet. Re Badaud kritisiert die „die Zerstörung der Familie“ und „das neue Schönheitsideal der Transgeschlechtlichkeit“. Nein, woke sind die Ideologiekritischen wirklich nicht.

Bezüge zum Ukrainekrieg werden ebenfalls thematisiert: „Von der Maske zum Stahlhelm“, „von der Impf- zur Wehrpflicht ist es nur ein kleiner Schritt.“ Wobei das Heft durchaus ein gewisses Meinungsspektrum zur Kriegsfrage zulässt.

Was aber tun? Die „Abwicklung von RKI, DIVI, STIKO, PEI, EMA und des öffentlichen Rundfunks“ gehört für Autor Thomas Maul zu den notwendigen Konsequenzen. Argumente für eine schonungslose Aufarbeitung hält der Band jedenfalls bereit.

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