06.08.2014

Für ein neues Zeitalter der Vernunft

Rezension von Frank Furedi

Levins Werk über den philosophischen Streit von Edmund Burke und Thomas Paine beleuchtet die Entstehung des politischen Rechts-Links-Gegensatzes im späten 18. Jahrhundert. Ein Wunsch nach der Lektüre, mehr Verteidiger von Freiheit und Demokratie im Geiste Paines, in der heutigen Zeit.

Wer Yuval Levins bedeutendes Buch The Great Debate: Edmund Burke, Thomas Paine and the Birth of Right and Left liest, wird erstaunt sein von den drastischen Unterschieden zwischen der intellektuellen und ideologischen Landschaft des späten 18. Jahrhunderts und der heutigen. Was auch immer die Begriffe ‚rechts’ und ‚links‘ bedeutet haben mögen, als sie während und nach der Französischen Revolution aufkamen, im 21. Jahrhundert tragen sie diese Bedeutung nicht mehr. Sowohl der kompromisslose Konservatismus, für den Edmund Burke stand, als auch der von Thomas Paine vertretene prinzipientreue Liberalismus finden sich heute nur noch an der Peripherie des politischen Lebens.

Yuval Levin arbeitet in seiner Analyse den bedeutsamen Ideenkonflikt zwischen Burke, dem Vater des modernen Konservatismus, und Paine, dem vielleicht aufregendsten radikalen Theoretiker der liberalen Aufklärung, eindrucksvoll heraus. Obwohl Levin klare Sympathien für Burkes Sichtweise hegt, bietet er dennoch eine prägnante und ausgewogene Übersicht der Ideen beider. Das dramatische Ereignis, welches Burke und Paine trennte, war natürlich die Französische Revolution. Doch auch bei den großen Themen der Aufklärung waren sie uneins. Burke blickte argwöhnisch auf die Ideale der Aufklärung. Paine hingegen gehörte einer kleinen Gruppe von radikalen Philosophen und Befürwortern der Aufklärung an, die kompromisslos für Demokratie und Liberalismus einstandern.

Tradition gegen Vernunft

Der wichtigste Beitrag Burkes zur politischen Philosophie liegt in seiner kohärenten und eloquenten Verteidigung der Tradition. Seine Ablehnung der Revolution basierte auf der Überzeugung, dass das Vermächtnis der Vergangenheit und die Sensibilität für traditionelle Vorstellungen von Politik und Lebensführung unerlässlich seien für die Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung. Er hielt Tradiertes deshalb für wichtig, weil es sich seiner Auffassung nach in einem jahrhundertelangen Prozess von Versuch und Irrtum als wertvoll erwiesen hatte. Burke war Traditionalist, aber er richtete sich nicht grundsätzlich gegen Veränderung. Er war, wie Levin schreibt, ein „zukunftsorientierter Traditionalist“, der die Gesellschaft verbessern wollte, jedoch auf Grundlage der in der Vergangenheit verwurzelten Institutionen und Bräuche.

„Burke glaubte fest an die Grenzen des menschlichen Verstandes“

Burkes Gegnerschaft zur Aufklärung und Revolution ergab sich aus seiner Abneigung gegen die humanistische Vorstellung von Rationalität und Wissenschaft als beste Methoden zur Erkenntnis politischer Wahrheiten. Er glaubte sehr fest an Grenzen der menschlichen Verständnis- und Gestaltungfähigkeit. Seiner Ansicht nach konnten die durch die individuellen Vernunftleistungen gewonnenen Erkenntnisse nicht an die von früheren Generationen aufgehäufte Weisheit heranreichen. Burke entwickelte das Konzept der „Vorgegebenheit“ als Gegenmittel zu den politischen Experimenten, für die sich die Anhänger der Aufklärung so begeisterten. Wie Levin feststellt, benutzte Burke den Gedanken der Vorgegebenheit, um den vorherrschenden Institutionen das „Element des Zweifels“ einzuräumen. Damit konnten diese sich gegen Innovationen wehren, die ihre Autorität zu untergraben drohten. Bei Burkes Vorgegebenheit ging es darum „die gegebene politische Ordnung zu respektieren, aufrechtzuerhalten und ihr in Ehrfurcht zu begegnen.“

Paine lehnte Burkes Verehrung der Tradition strikt ab und beharrte darauf, dass nur durch den Gebrauch der Vernunft politische Wahrheiten erkannt werden könnten. Er wies den Ansatz der Vorgegebenheit entschieden zurück und ging davon aus, dass überlieferte Usancen keinen Wert an sich darstellen, dass im bloßen Aufrechterhalten hergebrachter Praktiken kein Nutzen läge, da diese nicht auf Vernunft und wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren würden. Somit seien sie für moderne Gesellschaften kaum relevant. Statt in vergangenen Ereignissen nach Antworten und Anleitungen für zeitgenössische Probleme zu suchen, war für Paine der Gebrauch der Vernunft die effektivste Methode, gesellschaftlichen Fortschritt herbeizuführen. Paines Glaube an die die Macht der Vernunft war ungewöhnlich optimistisch. Laut Levin stammt von Paine die Aussage, dass „wenn die Vernunft uneingeschränkt regieren kann, die richtigen Entscheidungen getroffen werden.“

Generationenverantwortung

Eines der interessantesten von Levin behandelten Themen – und das für die heutige Zeit wohl relevanteste – sind die unterschiedlichen Sichtweisen Burkes und Paines über die Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber früheren und zukünftigen Generationen. Für Paine trug die Gesellschaft keine Verantwortung gegenüber vorangegangenen Generationen. Er lehnte insbesondere die Vorstellung ab, früheren Generationen stehe eine besondere Autorität zu, der sich die heutige Generation beugen müsste. Laut Paine sollte „jede Generation frei und selbstbestimmt handeln können, wie zuvor schon die vorangegangenen Generationen.“ In einer wahrhaftigen Republik basiere die Demokratie auf den Prinzipien der Gleichheit, der demokratischen Willensbildung und der selbstbestimmten Entscheidung der Bürger über den Kurs der Gesellschaft, so Paine. Die Handlungen der Bürger sollten sich nach den Anforderungen des Hier und Jetzt richten und nicht an den eventuellen Bedürfnissen späterer Generationen orientieren. Paine glaubte, dass die Generationenverantwortung nur per Beschluss angenommen und nicht als Verpflichtung von vornherein bestehen könne. Eine demokratische Gesellschaft hat für ihn nur einzige moralische Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, und zwar diese zu befähigen, ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können.

Levin beschreibt Paines Sichtweise zur Interaktion zwischen den Generationen als „ewiges Jetzt“. Diese Ablehnung generationenübergreifender Verantwortung brach radikal mit der konservativen Weltsicht. In Burkes konservativer Betrachtungsweise war der Handlungsspielraum menschlichen Verhaltens und politischen Handelns durch die Verantwortung gegenüber früheren und zukünftigen Generationen eingeschränkt. „Burke nahm an, dass die jetzige Generation gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft tiefgreifend verpflichtet sind. Diese Verpflichtung sei jener Generation von Nutzen, da sie deren Ambitionen und ihren Einfluss auf ein angemessenes Maß begrenzt“, heißt es bei Levin. Solche Einschränkungen dienen hierbei als Rechtfertigung, den menschlichen Ehrgeiz und die politische Experimentierfreude einzudämmen. Eingeklemmt zwischen den Herausforderungen der Vergangenheit und der Zukunft müsse der Einfluss des Individuums beschränkt werden, glaubte Burke. Diese Politik der Einschränkung – oder „Besonnenheit“ wie Burke sie nannte –, schreibt der Menschheit nur eine sehr bescheidene Rolle bei der Gestaltung der Welt zu.

„Nicht tradierte Prinzipien oder etablierte Traditionen konstituieren laut Paine den radikalen Liberalismus, sondern die konsequente Vernunftorientierung.“

Paines Entschlossenheit, die Gesellschaft von jeglichen Verpflichtungen gegenüber früheren oder zukünftigen Generationen zu befreien, fußte in seinem Glauben an das Prinzip der Gleichheit, der moralischen Selbstbestimmung und der Fähigkeit von Individuen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der ideale Staat basierte für Paine auf einem frei erteilten Mandat und der Befähigung der Bürger, politische Entscheidungen unter Einsatz ihrer Vernunft zu treffen. Demnach machen nicht tradierte Prinzipien oder etablierte Traditionen den radikalen Liberalismus aus, sondern die konsequente Vernunftorientierung. Für Levin bildet Paines Primat der Vernunftentscheidung die Grundlage des heutigen paternalistischen, technokratischen und von den Ideen des „Social Engineering“ durchdrungenen politischen Denkens. Man könnte aber genausogut anderherum argumentieren und behaupten, dass gerade die Ablehnung von Paines radikaldemokratischem Liberalismus zur heutigen paternalistischen Politik geführt haben.

In der Tat haben sich in der heutigen angloamerikanischen Politik beide Seiten des politischen Spektrums dem Burkeschen Gedanken von Generationenverantwortung verschrieben. Die antiaufklärerischen Ideen von nachhaltiger Entwicklung und generationenübergreifender Verantwortung gegenüber der Umwelt schränken menschliches Wachstum und menschlichen Ehrgeiz ausdrücklich ein. Diese Grundhaltung beeinflusst heute die gesamte politische Klasse. Die derzeitige Politik, ganz auf die vermeintlichen Bedürfnisse zukünftiger Generationen ausgerichtet, ist sehr viel technokratischer als alles, was sich Paine je ausgemalt hat. Diese unerwartete Verbindung von Burkeschen Vorstellungen über Generationenverantwortung und utilitaristischem „Social Engineering“ zeugt von den sich wandelnden Bedingungen, unter denen heute politische Differenzen ausgefochten werden.

Liberalismus und Konservatismus

Levin geht davon aus, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen Paine und Burke im Kern einen ideologischer Konflikt über die Bedeutung des Liberalismus ausdrücken: „Genau dieser Konflikt definiert den modernen Liberalismus.“ Zweifelsohne hatte die Debatte zwischen diesen beiden großen Denkern einen signifikanten Einfluss auf die politische Landkarte der modernen Gesellschaft. Diese Debatte jedoch in der liberalen Tradition zu verorten, wäre zu weit gegriffen. Burke mag zwar Verbindungen zu den Whigs (von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine liberale Partei im britischen Parlamentarismus) gehabt und Sympathien für die liberale politische Ökonomie seiner Zeit gehegt haben, jedoch war er seinem Temperament, seiner Philosophie und seinem politischen Selbstverständnis nach dem Liberalismus und dessen Verherrlichung des Individuums feindlich gesinnt.

Wie Levin herausstellt, waren für Burke Pflichtgefühl und Verantwortung zwar optional, aber dennoch bindend. Er stand der Idee der liberalen Vorstellung von demokratischer Entscheidungsfindung und besonders der Wahlfreiheit feindlich gegenüber. Burke war ein antiliberaler Paternalist durch und durch, der Ansicht verhaftet, dass Menschen oft nicht ihre wahren Interessen zu begreifen in der Lage sind und deshalb der traditionellen Autorität und der Leitung durch einen fähigen Anführer bedürfen, um den richtigen Weg zu finden.

„Die Befreiung des Einzelnen vom Ballast der Tradition und dem Erbe der Vergangenheit waren beherrschende Elemente des aufklärerischen Denkens.“

Paine hingegen war von der Macht der Vernunft überzeugt und stritt deshalb energisch für das Individuum und Rationalität. Er war nicht nur Liberaler, sondern im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen auch ein radikaler Anhänger der liberalen Werte der Aufklärung und ihrer Betonung der Rechte des Einzelnen. Jeden, der Paine heutzutage liest, wird sein unbändiger Glaube an die Prinzipien der demokratischen Willensbildung und der individuellen Rechte erstaunen. Die Befreiung des Einzelnen vom Ballast der Tradition und dem Erbe der Vergangenheit waren beherrschende Elemente des aufklärerischen Denkens. Eine Welt, in der Individuen ihre Entscheidungsmacht nicht länger traditioneller Autorität oder Hierarchie unterwarfen, erschien großen Teilen der politischen Elite des 18. und 19. Jahrhunderts aber bedrohlich. Deshalb distanzierten sich sogar Philosophen und Kommentatoren aus aufgeklärten Kreisen von Paines radikalen Schlussfolgerungen. Viele Liberale wollten nur ungern das Recht des Individuums anerkennen, seiner Vernunft gemäß zu handeln.

Wenn eine Welt, in der Individuen nicht mehr der traditionellen Autorität hörig war, sogar Liberalen Sorge bereitete, so galt dies für die Konservativen erst recht – sie wurden von regelrechten Panikgefühlen überwältigt. Burkes Reaktion auf die Französische Revolution war von Gefühlen gespeist, die wir heute „Moralpanik“ nennen. Sein Konservatismus huldigte nicht nur der Tradition, sondern er drückte gar eine aktive Feindschaft gegenüber den Idealen des Liberalismus aus, insbesondere gegenüber der individuellen Autonomie.

Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die konservative Reaktion auf die Französische Revolution sich nicht nur auf die damit einhergegangene Gewalt und das Chaos bezog, sondern auch auf die Bedrohung durch die individuellen Rechte. Wie eine wichtige Studie zur Geschichte des Individualismus zeigt, richtete sich das konservative Denken des frühen 19. Jahrhunderts „nahezu einhellig“ gegen „die Berufung auf die Vernunft, die eigenen Interessen und die Rechte des Einzelnen.“ [1] Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war es zunehmend verbreitet, sozialen Verfall einer im Zuge der Aufklärung und der Individualisierung entfesselten Anarchie zuzuschreiben. Als Auguste Comte (französischer Philosoph des 19. Jahrhunderts) den Individualismus die „Krankheit der westlichen Welt“ nannte, verlieh er damit einem Gefühl Ausdruck, welches nicht mehr länger nur im konservativen Denken vorherrschte, sondern von der europäischen Öffentlichkeit mehrheitlich geteilt wurde.

Burkes Antwort auf die so gefeierte individuelle Rationalität lag darin, die „Bedeutungslosigkeit des Menschen aufzuzeigen“, wie Zeev Sternhell in seinem Buch The Anti-Enlightenment Tradition schreibt. [2] Dem setzte Burke das Primat der Gesellschaft gegenüber dem unbedeutenden Individuum entgegen. Aus Burkes Blickwinkel existierte die Gesellschaft schon immer, und sollte nicht verändert oder individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, resultierte die konservative Kritik an der Verherrlichung des Individuums im 18. Jahrhundert in der Vergötterung der Autorität der Gesellschaft als Ganzes. Kritiker des Aufklärungsrationalismus und Befürworter der alten Ordnung behaupteten unablässig, dass das Individuum gegenüber der Macht der Gesellschaft schwach und belanglos sei.

„Paradoxerweise fand sich die konservative Vergötterung gesellschaftlicher Autorität auch bei der antikapitalistischen und antiindividualistischen sozialistischen Bewegung wieder.“

Letztendlich schlägt Levins Versuch, die Debatte zwischen Burke und Paine als Ausgangspunkt für die derzeitige Polarisierung der amerikanischen Politik darzustellen, fehl. Um die Vorrangstellung der Rechte des Einzelnen unschädlich zu machen, klammerte sich Burke an sein Gesellschaftskonzept. Im 19. Jahrhundert fand ein ähnlicher Prozess statt, getragen von den verschiedensten politischen Interessen, darunter auch solchen, die man später der politischen Linke zurechnete. Paradoxerweise fand sich die konservative Vergötterung gesellschaftlicher Autorität auch bei der antikapitalistischen und antiindividualistischen sozialistischen Bewegung wieder. Von kleinen Gruppen prinzipientreuer liberaler Demokraten abgesehen, stoßen Paines Ideen heute bei der Linken auf die gleiche Ablehnung wie bei den konservativen Bewegungen, welche sich im 19. Jahrhundert herausbildeten. Blickt man auf die große Debatte zwischen Paine und Burke zurück, stellt man fest, dass die Vorstellungen von links und rechts, die sich im 19. Jahrhundert entwickelten und im 20. an Kontur gewannen, nichts mehr gemeinsam haben mit der ursprünglichen Polarisierung der politischen Kräfte, wie sie sich 1789 in der französischen Nationalversammlung gegenüber standen.

Levins Buch The Great Debate verdeutlicht, dass politische Auseinandersetzungen auf Grundlage klarer philosophischer Prinzipien zu deutlichen und kraftvollen Debatten führen. Es ist traurig, dass es den heutigen Möchtegern-Burkes am nötigen Selbstvertrauen und der erforderlichen Härte fehlt, eine konservative Weltsicht auf einer philosophisch kohärenten Grundlage zu vertreten. Tragisch ist auch, meiner Meinung nach, dass nur so wenige gewillt sind, Paines leidenschaftliches Engagement für die liberale Demokratie fortzusetzen. Es scheint fast so, als hätte es seit Paine keinen wesentlichen Erkenntnisfortschritt über die Rolle der demokratischen Willensbildung gegeben. Ein neues Zeitalter der Vernunft (wie ein berühmtes Werk von Thomas Paine heißt) für das 21. Jahrhundert muss erst noch geschrieben werden.

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