14.10.2011

Freiheitssehnsucht

Rezension von Josef Hueber

Die Autobiografie der Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld beschreibt ohne Pathos den menschlichen und politischen Werdegang einer mutigen Frau, der vor allem durch den Kampf gegen den DDR-Unterdrückungsapparat bestimmt war. Ein eindrucksvolles Plädoyer für die Freiheit.

“Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht was gestern, was heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig.“ (Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie)


Bekehrungsgeschichten finden ihre Leser. Sie erzählen von einem Kampfgeschehen ihres Helden mit – oder besser - gegen sich selbst, sind also Offenbarung des Protagonisten, sie schreiben gegen unseren inneren Strom der Gleichgültigkeit oder Trägheit und gewinnen so unser Erstaunen oder vielleicht sogar unsere Bewunderung. Manche von ihnen erlangten Weltruhm: Augustinus’ Bekenntnisse oder das Damaskuserlebnis des Apostels Paulus, erzählt in der Apostelgeschichte.

Die deutsche Literatur der jüngeren Vergangenheit kennt diesen Stoff: Wolfgang Leonhards Die Revolution entläßt ihre Kinder oder Ralph Giordanos Erinnerungen eines Davongekommenen sind zwei lesenswerte Bücher dazu. Beide Darstellungen sind Heilungsgeschichten, sie handeln von der Überwindung politischer Illusionen.

In diese Reihe könnte man Vera Lengsfelds Ich wollte frei sein stellen. Auch sie erzählt eine (Lebens)geschichte der Wandlung durch Begegnung mit der unvermuteten Realität. Eine Reise der jungen Frau nach Moskau sät erste Systemzweifel am Sozialismus, die Heilung tritt im Laufe ihres Engagements in der Bürgerrechtsbewegung ein, noch bevor die Mauer am 9. Nov. 1989 fällt – an dem Tag, an dem sie in die DDR zurückkehrt von einem Studienaufenthalt in Cambridge. Dass sie sich heute als Libertäre bezeichnet, die sich für die Marktwirtschaft ausspricht, die der 68er Generation nicht den Beifall zollt, der mittlerweile fast schon zum politischen Mantra geworden ist, zeugt nicht von Erstarrung und verloren gegangenem „linken“ Idealismus, sondern von Veränderbarkeit, von dem Ergebnis schmerzhaften Lernens. Libertär sein ist für Lengsfeld die Bejahung der komplementären Verbindung von Freiheit, Liberalität und persönlicher Verantwortung, das eine dem anderen verpflichtet.

Das Buch macht es dem Leser nicht immer leicht, am Wort zu bleiben. Viele Namen und Orte (von denen man sich in einem ausführlichen Register überzeugen kann) sind dem gegenwärtigen, besonders dem jüngeren Leser nicht (mehr) bekannt oder gar geläufig. Man mag sich als Außenstehender nicht zu sehr beunruhigen lassen, wenn Zuordnungen bisweilen schwierig werden oder nicht der Mühe wert erscheinen. Sie tragen dennoch zur präzisen Verortung des Erzählten bei. Historiker, die vielleicht (?) die Geschichte der Diktatur DDR aufarbeiten, werden Lengfelds Buch als wertvolle Quelle schätzen – ganz im Gegensatz zu den in endlosen Akten aufbewahrten Aufzeichnungen des IM-Personals, das, wie man erfährt, politisch-opportunistisch inspiriert, die Wirklichkeit bewusst verzerrt hat. (Ein Auftritt der Autorin im Rahmen ihrer Tätigkeit als politischer Widerständlerin, bei dem etwa 100 Personen anwesend waren, wird in den Akten als Veranstaltung mit 1 (!) Zuhörer notiert.) Aber auch darüber, inwieweit die Geschichte der Stasi nicht aufgearbeitet ist oder – in der wiedervereinigten Bundesrepublik - vielleicht am liebsten ignoriert würde, erfährt man Interessantes, bisweilen Unglaubliches. Oder kann man beim ersten Lesen glauben, dass Helmut Kohl „nach eigenem Bekunden die Stasiakten am liebsten verbrannt“ hätte?

Es gibt unter den vielen öffentlichen Personen im Leben der Autorin zumindest einen Namen, der besonderer Erwähnung bedarf, weil er sich heute immer noch politischer Bekanntheit und nicht geringer Akzeptanz erfreut: Gregor Gysi. Er gehört laut Lengsfeld zu denen, die Teil des Unterdrückungsapparates waren, Mitarbeiter bei der „Zersetzung“ von Biographien, die deswegen ihre zweifelhafte Vergangenheit zu vertuschen versuchten und dabei sogar noch auf die seltsame Aufarbeitungsgerechtigkeit in der politischen Arena der Bundesrepublik bauen können. Denn „leugnende Stasimitarbeiter“, so Lengsfeld, haben in der Bundesrepublik dieser Tage immer noch „ehrenvolle Positionen“ inne, ganz im Gegensatz zu den ehrlichen Bekennern ihrer unlöblichen Vergangenheit, die zum „Sündenbock“ wurden. Gregor Gysis Aktionen vor und nach der Wende, so Lengsfeld, zu DDR Zeiten im kleinen Stil (die versuchte Herbeiführung einer Trennung der Autorin von ihren Kindern) sowie im großen Stil nach 89 (bis heute hat Gysi sein Wissen über die verschwundenen Milliarden DDR-Vermögen nicht offen gelegt) haben nicht dazu geführt, dass er wirklichen politischen Schaden genommen hat. Gysi ist, wie Lengsfeld betont, ein raffinierter Stratege und – im doppelten Sinne – ein blendender Rhetoriker.

In drei Großkapiteln präsentiert sich der menschliche und politische Werdegang der Autorin: Jugend im Sozialismus, In Dissidentenkreisen, Volkskammer und Bundestag. Die Überschriften legen eine Außenperspektive nahe, was nicht vollkommen von der Hand zu weisen ist. Es scheint in dem Buch mehr um die Darlegung von gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten als um menschliche Betroffenheiten zu gehen. Der Leser wird allerdings bisweilen mit persönlichen Verletzungen konfrontiert, die dem in weiten Teilen fast neutralen, objektiven Erzählton eine andere Klangfarbe verleihen. Was an diesen Passagen überrascht, ist der erzählerische Zeigegestus und der Verzicht auf verurteilende Kommentare. Als das junge Mädchen Vera in den Radarschirm polizeilicher Verhaltenskontrolle gerät und der politisch konforme Vater davon erfährt, als er um Nachteile fürchtet, schlägt er die Tochter so, dass sie sich ärztlicher Behandlung unterziehen muss. Dass dies eine Distanzierung zur Folge hat, wird nicht verschwiegen, verurteilt wird der Vater nicht.

Überhaupt ist dies eine der großen Stärken des Buches. Die Protagonistin gibt menschlich nicht auf, gerät auch sprachlich nie außer Kontrolle. Das wohl entscheidendste Erlebnis, die Bespitzelung durch ihren eigenen Mann, erzählt sie frei von Ressentiments, wie sie auch menschlich am Schluss des Buches mitteilt, dass sie dem mittlerweile schwer Erkrankten verzeiht. „Pathos ist mir ohnehin unerträglich“ – dies ist gewissermaßen die Poetologie ihres Denkens, aber auch ihres Schreibens. Das Buch trägt eine weitgehend von starker Emotionalität zurückgenommene Sprache, unprätentiös, unintellektuell – aber nicht unreflektiert und nicht bloß additiv erzählend. Dennoch begegnen dem Leser vereinzelt ergreifende Bilder, die besondere Betroffenheit ausdrücken. Die Trennung von ihrem Mann Knud wird zur „Amputation“ eines Armes. Obwohl diese Trennung „ endgültig“ ist, bleibt der Arm in der Erinnerung „intakt“. Knud war nach Aussagen Lengsfelds ein „ guter Vater. Es gab keinen Grund, das im Nachhinein zu bestreiten.“

War die DDR die schlimmste aller denkbaren Diktaturen? Sicher nicht. Man kann sich leicht ausdenken, dass in Nordkorea oder im China Maos oder in der Sowjetunion unter Stalin Menschenquälen schlimmere Formen angenommen hat als die von der Machtapparatur der DDR angewandten. Wenngleich Rechtsbeugung bis hin zur psychischen und physischen Vernichtung von Menschen praktizierte Methoden des Unterdrückungsapparates waren, so können Widerstandsbewegungen, wie sie Lengsfeld schildert, nicht in einem Staat existieren, der ausschließlich und umgehend bestialische Gewalt anwendet.
Dennoch: Wenn auch die Autorin das Glück hatte, nicht körperliche Folterungen (was es auch gab) über sich ergehen lassen zu müssen, so hat sie doch die Zerstörung von Freundschaften und ihrer Ehe sowie alle anderen Register denkbarer Schäbigkeit erfahren, die Menschen innerlich kaputt machen können. Aber sie wurde nicht gebrochen, auch wenn sie von niemals ganz aufarbeitbaren Erfahrungen spricht.

Das Buch hat – in den Schlusskapiteln wird dies besonders deutlich - die Kraft der Hoffnung, eine ermunternde Aufforderung für Freiheit einzutreten, sich nicht verbiegen zu lassen und Aufrichtigkeit zu bewahren. Es ist im Grunde das optimistische Zeugnis eines politischen Werdegangs. Ich wollte frei sein ist an eine zur Geschichtsvergessenheit neigende Wohlstandsgesellschaft gerichtete Ermahnung, die nicht überhört werden sollte. Auch in einer Demokratie büßt diese Ermahnung nichts von ihrer Dringlichkeit ein, da auch in der Demokratie Mechanismen – wie Unkraut – am Wirken sind, welche das Geschenk der Freiheit zu ersticken drohen. Und Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit.

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