05.11.2009

Wie kann wirkliche Einheit entstehen?

Kommentar von Sabine Reul

Die politisch ermüdete Westrepublik war nicht in der Lage, Ostdeutschland wirklich zu integrieren.

Die Revolution von 1989/90, der Zusammenbruch des Stalinismus in Europa und das Ende der deutschen Teilung wurden vor 20 Jahren als Triumph der Marktwirtschaft und der Demokratie gefeiert. Der Eiserne Vorhang fiel, die staatssozialistische Diktatur und Mangelwirtschaft wurden beseitigt, und in Ostdeutschland hielt, wie in den übrigen Staaten Osteuropas, mit dem Markt auch die pluralistische Parteiendemokratie Einzug. Hier, wo der spektakuläre Aufstand der Bevölkerung den waffenstarrenden Partei- und Staatsapparat der DDR bezwang und die Vereinigung beider deutscher Staaten ermöglichte, war die Begeisterung über diese historische Wende besonders groß.

Aber sie dauerte nur kurz. Die Aufbruchsstimmung wich schon bald der Enttäuschung und neuen Unsicherheiten. Und das nicht nur im vereinigten Deutschland: In den anderen Staaten Osteuropas, wo in den 90er-Jahren in unterschiedlichen Geschwindigkeiten Marktwirtschaft und Mehrparteiensysteme eingeführt wurden, war der Verlauf ähnlich. Überall folgte auf die kurze Phase der Euphorie eine lange, bis heute anhaltende Periode der Ernüchterung. Überall kam es auch, zumindest vorübergehend, zum Erstarken rechtsnationaler oder -extremer Strömungen, was das positive Bild der neu gewonnenen Freiheiten trübte. In Deutschland kam der Wendepunkt mit den Pogromen im östlichen Hoyerswerda im Jahre 1991. Zwar waren ausländerfeindliche Ausschreitungen in den 80er-Jahren in Westdeutschland fast alltäglich, und auf Hoyerswerda folgten die Ereignisse in den westdeutschen Städten Solingen und Mölln. Trotzdem wurde die Stadt in der Oberlausitz vor allem in Westdeutschland zum symbolischen Fanal eines neuen Befremdens über den Osten.

Der große Unterschied zwischen der marktwirtschaftlichen Transformation in Ostdeutschland und der im übrigen östlichen Europa besteht darin, dass das Aufeinandertreffen westlicher und östlicher Erfahrungswelten hier in einer Form politisiert worden ist, die den anderen zuvor nicht geteilten Ostblockstaaten erspart geblieben ist. Lapidar ausgedrückt waren die Deutschen während des Kalten Krieges politisch geteilt, sich aber menschlich nicht fremd; das wurden sie erst in der staatlichen Einheit. Das lag daran, dass schon mit dem Untergang der DDR Anspielungen auf die „Andersartigkeit“ der Ostdeutschen in Politik und Medien zunahmen und bald meinungsbildende Wirkung hatten.

Den in dieser Hinsicht besonders traurigen Anfang machte die westdeutsche Linke. Man erinnere sich: Otto Schily empfahl sich kurz nach seinem Übertritt von den Grünen in die SPD seinen neuen Parteifreunden damit, nach der Wahl zur ostdeutschen Volkskammer im März 1990 auf die Frage, warum so viele Ostdeutsche wohl CDU gewählt hätten, stumm eine Banane in die Kamera zu halten. In Vorbereitung auf die ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 versuchte Oskar Lafontaine wenig später, westdeutsche Ängste vor einheitsbedingten Wohlstandsverlusten gegen Bundeskanzler Helmut Kohl zu mobilisieren. Dass Schily wie andere Angehörige der gerne gepflegte Rotweine schlürfenden Toskana-Fraktion der SPD dem Wunsch der Ostdeutschen nach Hebung des Lebensstandards nur elitäre Verachtung entgegenbringen konnte, hinderte seinen Parteikollegen Lafontaine nicht, gleichzeitig westliche Futterneidreflexe gegen die deutsche Vereinigung zu schüren – was, nebenbei gesagt, seinen späteren Werdegang in der zur Linken umbenannten PDS umso kurioser erscheinen lässt. Dass Helmut Kohl und die CDU/CSU auf der anderen Seite bestrebt waren, mit den Bildern des Aufstands in der DDR ihre politischen Batterien neu aufzuladen, war vergleichsweise harmlos. Trotzdem: Beides zusammen hat den Einigungsprozess von Anfang an mit den Degenerationserscheinungen der westdeutschen Parteienlandschaft aufgeladen.

Nicht umsonst wollte der Demokratische Aufbruch (DA), also die Fraktion der ostdeutschen Bürgerbewegung, die am frühesten und deutlichsten für die Vereinigung beider Staaten eintrat, die Auflösung der Bürgerbewegung in den westdeutschen Parteien verhindern. Der DA-Vorstand erklärte im Januar 1990 zum Links-rechts-Gegensatz der westlichen Parteien: „Wir halten diese Unterscheidung für einen Mythos, für ideologischen Schein.“1 Bis zu den Wahlen im Dezember gingen die verschiedenen Gruppierungen der Bürgerbewegung trotzdem fast ausnahmslos in den westlichen Parteien auf. Die Chance für politische Erneuerung blieb daher ungenutzt. Daher fand die besondere ostdeutsche Erfahrung von 40 Jahren DDR-Geschichte und dem Bürgeraufstand, in den sie mündete, keinen Ort im Parteiensystem. Die politische Welt der Ostdeutschen beschränkte sich fortan auf die fremd von außen importierten Apparate. Folglich ist weder erstaunlich, dass die PDS als regionale Partei der Enttäuschten bald starken Zulauf verbuchen konnte, noch, dass Ostdeutsche laut Umfragen zwar immer hohe Wertschätzung für die Demokratie als solche, nicht aber für ihre praktizierte Form bekunden.

Die Deutschen waren während des
Kalten Krieges politisch geteilt, sich aber
menschlich nicht fremd; das wurden
sie erst in der staatlichen Einheit.

Damit wurde schon rein institutionell ein politisches Ungleichgewicht in das vereinte Deutschland getragen. Die Tendenz zur Politisierung der unterschiedlichen Erfahrungswelten wurde gleichzeitig auch durch die erwähnten Zerfallserscheinungen im linken wie rechten Spektrum der Westpolitik befördert. Die Materialismusfeindlichkeit der Linken, die die Arbeiterklasse längst gegen „postkonventionelle Werte“ eingetauscht hatte, musste der ostdeutschen „arbeiterlichen Gesellschaft“, als die der Soziologe Wolfgang Engler die DDR beschreibt, völlig fremd bleiben. Die Ostdeutschen waren, so Engler, „in einer Gesellschaft, die der Arbeit, ob geliebt oder ungeliebt, außergewöhnliche Bedeutung für das eigene Leben beimaß“, gewohnt, „ihre Kritik an den Verhältnissen in die stumme Demonstration werktäglicher Tugenden zu kleiden“.2 Die „Werktätigen“ waren die eigentliche moralische Instanz der DDR. Dass ihnen nun von Linken der Wunsch nach funktionierenden Fabriken und bescheidenem Wohlstand verübelt wurde, musste auf sie mehr als befremdlich wirken.

Aufseiten der Unionsparteien hingegen verlegte man sich darauf, die schwindende Bedeutung klassischer konservativer Wertvorstellungen, die zuvor durch die Ersatzideologie Antikommunismus kaschiert worden war, durch unablässiges Eifern gegen die Schändlichkeit des untergegangenen DDR-Sozialismus zu kompensieren. Auch da wurde aus einem defensiven Reflex heraus Dissonanz befördert. Denn in der vereinfachenden Formel, wonach das Leben in der DDR nur aus der Unterdrückung von „Opfern“ durch „Täter“ bestanden habe, konnte sich die reale Lebenserfahrung vor 1989 nicht wiederfinden, denn die hatte natürlich auch andere Aspekte: Gemeinschaftsempfinden, geteilte, verzweifelt bis ironische Distanz gegenüber dem Apparat und gewisse Chancen zur Selbstbehauptung, die die reine Marktgesellschaft Arbeitern und Angestellten nicht ohne Weiteres bietet.

„In der perversen Welt der Mangelwirtschaft musste selbst ein Mitglied der Elite sich mit dem Gemüsehändler anfreunden, wenn es frisches Obst wollte. Der Gemüsehändler entschied, wer was bekam. Er war ohnmächtig, hatte aber doch eine gewisse informelle Macht“, schreibt der Bulgare Ivan Krastev und begründet das Erstarken des Rechtspopulismus in den östlichen Transformationsländern mit dem Verschwinden dieser sozialen Vernetzungen zwischen oben und unten und den bescheidenen Möglichkeiten der Selbstbehauptung, die sie dem Einzelnen boten.3 Dass den Ostdeutschen just, seit der Markt solche sozialen Bezüge aufzulösen anhob, obendrein pausenlos die DDR-Vergangenheit vorgehalten wurde, konnte ihr Befremden nur stärken. Es ist daher ebenfalls kein Wunder, dass man immer öfter hört, „so schlimm“ sei es nun auch wieder nicht gewesen. Dass manche angesichts solcher Äußerungen immer wieder aufgeregt die Hände ringen, zeugt von beachtlicher Realitätsferne.

So nahmen schlichte unterschiedliche Lebenserfahrungen in West und Ost die Gestalt politisierter Missverständnisse an. Und seither wird in Deutschland eine stupide Debatte über ostdeutsche Mentalitäten geführt. Der Obsession mit ostmenschlicher „Andersartigkeit“ verdankt sich der Aufstieg einer ganzen Forschungsbranche, die die Seelen der neuen Bundesbürger bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet hat. Sie brachte mitunter sonderbarste Erkenntnisse hervor, so die berühmte „Töpfchenthese“ des Kriminologen Christian Pfeiffer, wonach fremdenfeindliche Gewaltbereitschaft unter ostdeutschen Jugendlichen eine Spätfolge sozialistischer Horterziehung sei.

Unzählige Studien attestieren den Ostdeutschen seit 15 Jahren ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit Politik und Wirtschaft im vereinigten Deutschland sowie eine zunehmende Verklärung der DDR-Vergangenheit. Erstaunlich sind diese Befunde, wie gesagt, nicht. Jüngere Studien haben gezeigt, dass Unzufriedenheit mit den sozialen und politischen Verhältnissen sich in Ost wie West kaum nachsteht, was am eingefahrenen Ostbild bislang aber wenig geändert hat. Die demoskopischen Daten vermitteln „ein eher undramatisches Bild der Lage zwischen Ost und West, was angesichts der sozialen Diskurs- und Gedenklage die eigentliche Sensation“ sei, schrieb dazu unlängst Claus Leggewie.4 Doch die Medien verbreiten unverdrossen die Kunde von der Andersartigkeit der Ostbürger mit griffigen Formeln wie „Ostalgie“ und „Jammerossi“ und lasten ihnen so die realen und eingebildeten Probleme im vereinten Deutschland an. Eine Art Ethnisierung hat sich der politischen Vorstellungswelt der Deutschen bemächtigt – mit dem doppelt unerfreulichen Ergebnis, dass man die Wirklichkeit immer schlechter versteht und Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschen systematisch untergraben wird.

Das geteilte Erlebnis wirtschaftlicher, ideeller und nun auch politischer Ungewissheit kann heute zu neuer Gemeinsamkeit führen. Doch das wird nur in dem Maße geschehen, in dem statt des pseudosoziologisch distanzierenden Blicks auf Differenz das reale gesellschaftliche Erleben in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Dass die Ostdeutschen nach dem Krieg die schlechteren Karten hatten, sich im schweren DDR-Alltag behaupten mussten, im Kampf gegen die SED-Diktatur und schließlich in der Auseinandersetzung mit dem brachialen marktwirtschaftlichen Umbruchsprozess Enormes geleistet haben, ist eine jener Lebenswirklichkeiten, die der missglückte Einheitsdiskurs erfolgreich aus dem öffentlichen Erfahrungsschatz getilgt hat.

Die besondere ostdeutsche Erfahrung
von 40 Jahren DDR-Geschichte und
dem Bürgeraufstand hat keinen Ort im
Parteiensystem.

Auch den Westdeutschen sind unangenehme Erfahrungen ja nicht fremd. Eine ist, dass die Dinge nicht mehr sind, was sie waren. Die hohen Wachstumsraten der alten Westrepublik gehörten, als die Berliner Mauer fiel, schon der Vergangenheit an – wie die Ostdeutschen dann zu ihrem Leidwesen ebenfalls feststellen mussten. Für Westdeutsche fiel das Ende der Teilung und des Kalten Krieges in eine Periode, in der die beste Zeit wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch unübersehbar vorüber war. Unsicherheit, die sich damals im Westen als Politikverdrossenheit äußerte, hatte zur Folge, dass in den Osten „kein unumstrittenes, von den Westdeutschen selbst parteiübergreifend mit Stolz getragenes politisches System“ exportiert wurde.5 Mit anderen Worten: Die angeschlagene Stimmung der Westrepublik schlug sich auch im Osten auf das Erlebnis der Einheit nieder.

Der Bundesregierung unter Helmut Kohl gelang es nicht, das Konzept der Einheit jenseits bloßer Phraseologie mit positivem Inhalt zu füllen. Ostdeutschland trat einer ermüdeten Westrepublik bei. Daher blieb der große historische Moment, der einen wirklichen Aufbruch zumindest im Selbstgefühl der Gesellschaft hätte einleiten können, seltsam flach, ohne Strahlkraft und versandete rasch im Getriebe administrativer Umstrukturierungs- und Anpassungsprozesse. Eine weitere schlichte Wahrheit lautet daher, dass die Einheit eben nur so gut vorangekommen ist, wie die Gesellschaft, der die Ostdeutschen 1990 beitraten, nun einmal war.

Der stets negative und introvertierte Fokus auf Ostdeutschland, vom Spiegel 2004 unter dem Titel „Jammertal Ost“ schlaghammerartig auf den Punkt gebracht, erzeugt recht paradoxe Effekte. Er blendet verschämt aus, dass der Zustand der Westrepublik den beschwerlichen Gang des Einigungsprozesses entscheidend beeinflusst hat. Daher hat Deutschland bis heute kein gemeinsames Geschichtsbewusstsein entwickeln können, und die Interdependenzen der wirtschaftlichen wie der politischen Entwicklung in beiden Landesteilen werden nicht zur Kenntnis genommen. Und diese Orientierung auf „Ostsorgen“ verhindert paradoxerweise auch, dass die Erfolge der Einheit angemessene Würdigung finden. Immerhin stieg das BIP pro Kopf von etwa einem Drittel des Westniveaus zum Ende der DDR auf heute 71 Prozent und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von ebenfalls rund einem Drittel auf 68 Prozent. Das sind trotz hoher Transfers letztlich Erfolge beharrlicher Arbeit im Osten. Anhaltend doppelt so hohe Arbeitslosigkeit und der Umstand, dass viele Regionen vom Wachstum ausgeschlossen bleiben oder sogar zurückfallen und ein sich selbst tragender Aufschwung bislang nicht in Gang kommen will, sind ohne Zweifel gravierende Probleme. Nur: Der in Ost-West-Dichotomie verhakte Einheitsdiskurs behindert die realistische Bewertung der Erfolge ebenso wie die der Rückschläge. Letztere sind nun einmal kein „Ostproblem“, sondern Element der gesamtdeutschen und internationalen Wirtschaftsentwicklung. Verständigung statt konstruierter Dissonanz ist der Schlüssel für Fortschritt im vereinten Deutschland – menschlich, wirtschaftlich und politisch.

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