25.02.2010

Endlich die Teilung überwinden!

Kommentar von Hans-Peter Krüger

Die Revolution von 1989 brachte keine Vereinigung der beiden deutschen Lebenswelten. Sie wurde auch dadurch behindert, wie der Einigungsprozess im Westen politisch-ideologisch abgearbeitet wurde.

Schüler und Lehrer

Denke ich an Deutschland, so frage ich mich, welcher Weg für die Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten der bequemste und daher wahrscheinlichste sein wird. Man kann es Politikern in einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie nicht verübeln, wenn sie mehrheitsfähig bleiben oder werden wollen. Nach dem Aufbruch in die Geschichte 1989 kam ihr Einbruch. Der Einbruch von Geschichte, wie wir ihn während des letzten Jahres erlebt haben, produziert Unsicherheit. Diese ist, ehe sie in nichts als Gegensätze ausufert, durch überschaubare Muster einzugrenzen. Das Geschwister-Modell war zu hautnah und anachronistisch. Die meisten Brüder und Schwestern sind nicht einmal zusammen aufgewachsen. Das Kolonialisierungsmodell schlägt Wunden mit geringer Heilungschance und provoziert Befreier nostalgischer Identitäten auf beiden Seiten. Am nächsten liegt inzwischen eine Art von Lehrer-Schüler-Verhältnis, in dem die meisten West- und Ostdeutschen auf Vertrautes zurückgreifen können.

Für diesen Weg empfiehlt es sich, Folgendes — wie in vielen Reden zum ersten Jahrestag des Beitritts geschehen — herauszustellen: Die DDR-Bevölkerung war dasjenige Fünftel der Deutschen, das seit dem Dritten Reich an Diktaturen gelitten hat. In der Nachkriegszeit des Kalten Krieges wurde dieser Teil Kolonie der stalinistischen Sowjetunion. Nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums muss er nun den Modernisierungsprozess der Bundesrepublik nachholen. Dies haben die Bürger sich verdient als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes und wegen der friedlichen Herbstrevolution, die als Andenken bleiben wird. Der Mehrheit der Ostdeutschen ist so Absolution zu erteilen. Sie gerät historisch in die Lage des Strukturopfers, dem es zu helfen gilt, gegenwärtig in die des Schülers auf Zeit. Der Schüler von heute darf Fehler machen und trägt noch nicht die volle Verantwortung für seine Zukunft. Es handelt sich um eine Entlastungsstrategie, die einstweilen keine volle Selbstbestimmung und Gleichheit mit den Westdeutschen vorsieht. Die meisten Westdeutschen geraten in die Rolle des Erziehers oder Lehrers. Schließlich kennen sie eine funktionierende Marktwirtschaft, parlamentarische Demokratie und öffentlich streitbare Kultur.

Das Bild vom totalitär eingefrorenen und nun aufzutauenden Ostdeutschen ermöglicht es beiden Seiten, vertraute Rollenmuster fortzusetzen. Der Westdeutsche kann sein Grunderlebnis, den Amerikaner des Marshall-Plans, nachspielen. Der Ostdeutsche war in der DDR ohnehin ein Erziehungsobjekt und kennt alle Kniffe, die Schülerrolle überzeugend wahrzunehmen, indem er sie auch klammheimlich unterläuft. Solange die Steuer- und Kreditdecke reicht, und wenn jetzt nicht schon wieder Geschichte dazwischenkommt, könnte diese Rollenteilung doch erst einmal aufgehen. Und wäre sie nicht ein Fortschritt gegenüber der Enttäuschung familiärer Erwartungen und der Sieger-Besiegten-Stimmung? Die kritischen DDR-Minderheiten, die der politischen Opposition und die der Intellektuellen, sind bislang in dieser Rollenverteilung kaum vorgesehen. Die politischen Oppositionellen würden, nachdem sie bei der Entmachtung der DDR-Eliten geholfen haben, aufs Andenken beschieden. Die Intellektuellen stehen ohnehin unter dem Verdacht, eine machtgeschützte Innerlichkeit gewesen zu sein, von der man auch nicht weiß, wie viele reformsozialistische Flausen sie in einer nächsten historischen Situation wiederbeleben könnte. Da heißt es: aussieben. Tribunale über sie werden gefordert. Die genannten Schwierigkeiten beider ostdeutschen Minderheiten deuten indessen auf ein tiefer liegendes Problem hin: Ostdeutsche haben auch, wenngleich in verschiedenem Maße, die Lebenserfahrung errungener Freiheit, sei es mehr in politisch-moralischer oder mehr in geistig-kultureller Hinsicht, gemacht. Diese Erfahrung geht in keiner Schülerrolle auf.

Zur kulturellen Aufgabe von Intellektuellen

Intellektuelle sind auch nur Menschen. Ihre Endlichkeit und Fehlbarkeit halten sie menschlich. Gewiss ist dies eine triviale Einsicht. Aber wir tun gut daran, von ihr auszugehen, um nicht falsche Erwartungen zu hegen. Intellektuellen-Schelten oder ihr Pendant, die Selbstüberhebungen der Intellektuellen, nähren sich häufig von solchen Erwartungen. Aufklärung sollte vor allem über sich selbst aufgeklärt bleiben, d.h. ihre Grenzen kennen. Intellektuelle sind keine Götter, nicht einmal Engel oder Heroen. Der göttliche Funke entzündet sich in der Liebe zum Nächsten und im Streit einer Kommunikationsgemeinschaft. Er mag uns Licht geben, aber in niemandes Hand zum Brandsatz werden.

Vielleicht besteht die größte Leistung von Intellektuellen darin, derart wirksam auf Gefahren aufmerksam gemacht zu haben, dass diese nicht eintreten und sie am Ende als die ewig Irrealen dastehen. Intellektuelle gewinnen bestenfalls einen Einfluss auf die öffentliche Meinung, auf den Wechsel von Themen, Erwartungen, des kulturell Akzeptablen in der Öffentlichkeit. Sie haben als Intellektuelle keine Machtpositionen inne, dieses oder jenes politisch und wirtschaftlich durchsetzen zu können, d.h., sie gehören nicht zur wirtschaftlichen oder politischen Elite. Dies entlastet sie vom nur interessenbezogenen Handlungsdruck.

Selbstwiderspruch und Versöhnung

Konnte diese Unterscheidung von Intellektuellen, die auf öffentlich demokratische Gesellschaften zutreffen mag, in der DDR respektiert werden? Zu einem Teil: ja. Gewiss, in der DDR herrschte ein diktatorisches Regime, das im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges als Bestandteil der sowjetischen Hemisphäre entstanden war und auch von den Westmächten machtpolitisch respektiert, schließlich diplomatisch anerkannt wurde. Dieses Regime übte eine parteistaatliche Monopolstellung nicht nur politisch, sondern spätestens seit dem Mauerbau auch kulturell und wirtschaftlich aus. Aber dieses Regime konnte in Mitteleuropa nicht anders überleben als dadurch, dass es eine Modernisierung auf allen Gebieten nolens volens zuließ, an der es zugrunde ging.

Stellen wir Ostdeutsche uns heute nicht dümmer, als wir es damals waren. Die Differenz zwischen offiziellen und informellen Maßstäben des Handelns gehörte zur Muttermilch jedes DDR-Bürgers. Der Unterschied zwischen ideologischem, intellektuellem, akademischem und einer Elite zugehörigem Verhalten konnte — mindestens informell und intuitiv — gewusst und auch praktiziert werden. Wer politisch einen anderen denunziert hat, konnte wissen, dass es sich dabei um keine intellektuelle oder akademische Tat handelt. Die offiziellen Maßstäbe selbst waren ambivalent. Die inhumane Praxis der Diktatur legitimierte sich als antifaschistischer und realer Humanismus, der sie nicht war, aber sie in Grenzen hielt. In der DDR gab es keine vom parteistaatlichen Monopol unabhängige und allgemeine politische Öffentlichkeit, aber die westdeutschen Rundfunkanstalten, ersatzweise die literarisch-künstlerische Öffentlichkeit, die in den 80er-Jahren unter dem Dach der Kirche anwachsende Öffentlichkeit der Oppositionsgruppen und wenig wirksame, weil speziellere Fachöffentlichkeiten in Forschung und Lehre. Sie alle waren in verschiedenen Proportionen doppelt, offiziell und informell, codiert.

Hätten wir nicht ständig die Ambivalenz der offiziellen Maßstäbe bewusst ausgenutzt und in den informellen Kommunikationsnetzen Gegenmaßstäbe entwickelt, wir hätten gar keine negativen Erfahrungen sammeln können, die wir aber doch so reichlich gemacht haben. Der Herbst 1989 wäre von innen her nicht möglich geworden. Irgendwie hat schon jeder eine Vorstellung davon gehabt, dass ein modernes Wirtschaftsleben nicht ohne die Anerkennung von Leistung in realen Geldeinheiten und Gewinneffizienz funktionieren kann. Irgendwo wusste jeder, dass ein modernes politisches Leben die Respektierung des einzelnen Staatsbürgers voraussetzt und Entfaltung von Demokratie bedeutet. Und irgendwie wusste auch jeder, dass sich moderne Kultur nicht ohne eine von Diktatur freie öffentliche Diskussion und ohne internationale Bewährung entwickeln lässt. Die Kriterien der Kritik waren bereits kompatibel mit der westeuropäischen Entwicklung, was man von vielen Kritiken in der Sowjetunion, so der Solschenizyns, nicht sagen konnte.

Die einfache Gleichsetzung der DDR-Strukturen mit denen des Dritten Reiches oder denen der stalinistischen Sowjetunion ist höchst irreführend. Dass es diesbezügliche Kontinuitäten gab (Diktatur, ideologische Gleichschaltung, Angstneurosen und Untertanengeist), war Gegenstand der Diskussion in der DDR, übrigens dank der heute gescholtenen Intellektuellen (Christa Wolf und Heiner Müller). Die damals subversive Gleichstellung — so der Kommentar der Großmutter zu einem offiziellen Aufmarsch „Das ist ja wie bei Hitler“ — war ein Indiz dafür, dass wir auch schon in anderen Verhältnissen lebten. In tatsächlich totalitären Ordnungen wird intellektuelle Wirksamkeit unmöglich. Wer dann nicht emigrierte oder aufhörte, Intellektueller zu sein, wurde schlichtweg umgebracht. Das SED-Regime konnte die DDR nie total beherrschen. Dieses Land war in höchstem Maße äußeren Abhängigkeiten unterworfen. Die innerdeutsche Grenze manifestierte die Grenze der Legitimität und Loyalität, die das Regime in der Bevölkerung genoss. Dem Regime waren auch von seinem eigenen legitimatorischen Anspruch her, antifaschistisch und (seit 1956) poststalinistisch sein zu wollen, Grenzen gesetzt. Die parteistaatliche Diktatur musste von ihr widersprechenden Modernisierungspotenzialen leben, an denen sie zugrunde ging.

Informelle Kommunikationsgemeinschaften

Das eigenartigste Modernisierungspotenzial der DDR wuchs in den Menschen selbst heran. Sie entwickelten eine Kultur sich selbst widersprechender Individuen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Volker Braun früh davon gesprochen, dass in der DDR die gesellschaftskonstitutiven Widersprüche durch ein und dasselbe Individuum hindurchgehen. In anderen Gesellschaften, ob west- oder ostwärts gesehen, konnte sich das Individuum eher auf eine Seite des Widerspruchs schlagen und mit dieser identifizieren. Wer Gewerkschaftler war, gehörte nicht gleichzeitig dem Bundesverband der deutschen Industrie an; und wer sich als Solidarnosc-Anhänger engagierte, war in Polen nicht gleichzeitig Träger des kommunistischen Regimes (Nomenklaturkader). Waren anderenorts im Regelfall die gegensätzlichen Seiten eines Widerspruchs auf verschiedene Individuen und deren Organisationen verteilt, fühlte sich bei uns die Mehrzahl der Individuen durch konträre Rollen, die jeder gleichzeitig ausüben sollte, hin- und hergeworfen. Was objektiv an modernen Wettbewerbsformen zur Austragung sozialer Widersprüche fehlte, musste subjektiv kompensiert werden durch damit permanent überanstrengte und auch überforderte Individuen.

Was sich nicht in der Objektivität ausleben konnte, wurde in der Subjektivität abgelagert. Noch der Herbst 89 war mehr eine allgemeine Implosion als eine Explosion. Wer sich, genötigt zu offiziellen Mitgliedschaften, keinen Halt in einer informellen Kommunikationsgemeinschaft schaffen konnte, wurde verrückt, ob mit der Folge des Suizids oder der einer zynischen Selbstdegradierung zum Instrument der Apparate. Der Mehrzahl gelang der Aufbau informeller Kommunikationsgemeinschaften. Diese wurden den Selbstwiderspruch nicht los. Aber sie ermöglichten eine erträgliche Balance gegensätzlicher Erwartungen und damit Distanz zur offiziellen Wirklichkeit. Der Widerspruch zwischen Handlungen, die die Monopolstruktur konservierten, und Handlungen, die sie durch Modernisierung erodierten, durchzog so gut wie jeden. Auch Schweigen und Unterlassen sind Handeln. Nur die allerwenigsten konnten lebensgeschichtlich nichts anderes als entweder Regimeträger oder Regimegegner werden. Für die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung war die Verinnerlichung dieses Widerspruches realistisch. Sie lagerte sich nach jedem historischen Ereignis (1953, 1956, 1961, 1965, 1968, 1976, 1980, 1985–87) Schicht um Schicht in die Lebenswelt ein. Es lag kulturgeschichtlich bei der mehrheitlich protestantischen Tradition nichts näher als diese Verinnerlichung.

Jedes historische Ereignis brachte eine Entscheidungssituation. Wie sich welcher DDR-Intellektuelle wann entschieden hat, ist heute zugänglich und im Einzelnen zu diskutieren. Die Entscheidungen fielen verschieden aus, verschieden nach der Generation des Aufbaus, der Hineingeborenen und der Abkunft; verschieden nach der Herkunft aus einer Intelligenzschicht (Literatur und Künste, Natur-, Sozial- oder Geisteswissenschaftler, Theologen, Journalisten) und verschieden nach dem Charakter der jeweiligen Persönlichkeit. Bei allem Selbstwiderspruch in jedem bildeten sich Gruppen, die mit diesem Widerspruch unterschiedlich umgingen. Das die Gruppen unterscheidende Maß an Entschiedenheit, die intellektuelle Aufgabe wahrzunehmen oder aufzugeben, verschwimmt heute in pauschalen Gleichsetzungen, die falsche Solidaritäten fördern. Der Differenzierungs- und Auflösungsprozess reformsozialistischer Erwartungen begann unter Intellektuellen mit jedem historischen Einschnitt von Neuem. Er war für die Bevölkerung seit 1976, mit dem kulturellen Aderlass im Gefolge der Ausbürgerung Wolf Biermanns, deutlich. Dieser Prozess beschleunigte sich seit dem Dezember 1989 enorm. Sein Ausgang hängt von den Chancen zur symmetrischen Verständigung unter West- und Ostdeutschen ab.

Die Verinnerlichung der sozialen Widersprüche war historisch realistisch, für einen großen Teil schon seit dem Mauerbau, für die Mehrheit seit dem Scheitern des Prager Frühlings. Warum heute den Ostdeutschen vorwerfen, was sich auch die Westdeutschen im Bündnis mit den Westalliierten nicht zu tun getrauen konnten: die Hegemonie der neostalinistischen Sowjetunion über Osteuropa, einschließlich der DDR, aufzuheben. Aufrufe zum Umsturz wären damals nicht verantwortlich gewesen. Erst seit 1984, der ersten großen Ausreisewelle, wurde auch das Übersiedeln wieder zu einem kalkulierbaren Risiko. Wer — persönlich meistens verständlich — in die alte Bundesrepublik übersiedelte, schwächte zwar auch das Regime, aber nicht minder das innere Oppositionspotenzial.

Versagen an den eigenen Maßstäben

Das Gefühl des Versagens, des Versagens an den eigenen Maßstäben und Handlungsmöglichkeiten, breitete sich in der DDR massiv seit 1987 aus, der ersten relativen Festigung von Glasnost und Perestroika. Die seit dem Prager Frühling offenbare Reformnot wäre jetzt — außenpolitisch realistisch — zu wenden gewesen. Die nationale Karte spielte inzwischen — als ihren letzten Strohhalm — die Honecker-Riege selber, vom Milliarden-Kredit bis zum Bonn-Besuch im gleichen Jahr. An dem intellektuellen Oppositionspotenzial in der DDR fiel — im Unterschied zu dem in Polen, Ungarn oder der Sowjetunion — auf, dass es sich vor allem reformsozialistisch orientierte. Es war nicht oder kaum national, konservativ, nur liberal, rechts- oder linksradikal. Warum war dies so? Es wird sich nicht nur damit erklären lassen, dass die, die mit politisch anderem sympathisierten, bis 1961 und dann wieder ab 1984 die DDR verlassen konnten. Auch das antifaschistische Motiv der Aufbaugeneration von DDR-Intellektuellen scheint mir nicht hinreichend zu sein.

Reformsozialistische Ideen ermöglichten den versöhnlichen Umgang mit unserem Selbstwiderspruch. Strukturell ist es unvereinbar, ein Monopolregime mitzutragen, auch nur mitzudulden, und gleichzeitig Selbstverwirklichung für alle und mit allen zu beanspruchen. Die Konsequenz der Unvereinbarkeit blieb lebensweltlich verborgen. Man kann vieles ohne Versöhnung tun, nur nicht leben. Indem wir diese Versöhnung lebten, konnten wir uns als Schizophrene erkennen. Hätten wir die Versöhnung des Unversöhnlichen nicht gelebt, wären wir tatsächlich schizophren gewesen. An die Lebenswelt, diesen Halt des Selbstverständlichen, der allem bewussten Handeln vorausliegt, kommen Argumente, politische und wirtschaftliche Fakten nur schwer heran. Diese interpretierte jeder schon immer im Horizont einer mit anderen geteilten Lebenswelt. Ein Mindestmaß von Gemeinschaftlichkeit, einer gemeinsamen Lebenswelt, ist und bleibt Existenzial von uns endlichen Wesen. Die Lebenswelt lässt sich nur ändern durch neue Lebenserfahrungen, und die hängen nun ab vom Modus der Folgen des Beitritts.

Es ist gar nicht menschenmöglich, seine eigene Lebenswelt aufzugeben. Sie ist nicht verfügbar. Es ist ein höchst technischer Standpunkt, solches von jemandem zu fordern. Selbst wenn die Lebenswelt verfügbar wäre, müsste derjenige eine Anpassungsleistung vollbringen, die ihm für seine Vergangenheit gerade vorgeworfen wird. Beides passt nicht zusammen und hat mit dem viel zitierten Respekt vor der Würde jedes menschlichen Lebens nichts zu tun. Es ist politisch auf Sand gebaut, den in die alte Bundesrepublik und in die DDR Hineingeborenen vorzuwerfen, dass sie keine andere Lebenswelt erfahren haben. Ob sie eine gemeinsame ausbilden und in welchem Maße, dies hängt von der Gestaltung der Beitrittsfolgen ab. Es ist eine Aufgabe.

Ich befürchte, dass diejenigen Westdeutschen, die heute intolerante Schläge austeilen, von einer nicht minder lebensweltlich fundierten Angst umgetrieben werden. Ließen sie sich auf eine symmetrische Verständigung ein, die intellektuelles Vermögen auszeichnet, könnte die hermeneutische Übernahme ostdeutscher Perspektiven zu einer vielleicht bitteren Selbsterkenntnis führen: Hätten Westdeutsche unter vergleichbaren historischen Bedingungen und bei einem ähnlichen Lebenslauf grundsätzlich anders gehandelt? Eine symmetrische Verständigung brächte auch die Arten von Opportunismus, Kritik und Lebenswelt zur Sprache, die für die alte Bundesrepublik charakteristisch waren und sind. Die Ostdeutschen kommen in der Umstrukturierung ihrer Lebensverhältnisse um solche Vergleiche am eigenen Leibe nicht herum. Warum sich dieser kulturhistorisch innovativen Herausforderung entziehen?

Woher kommt die Angst, dass sich das Alt-Bundesrepublikanische nicht konservieren lässt, wir nicht am Ende der Geschichte angelangt sind? — Die in sich zerklüftete Wohlstandsinsel Westeuropa wird durch die Veränderungen in Osteuropa, die Schwellenländer, die ökologischen und anderen globalen Interdependenzen auf den Boden der welthistorischen Tatsachen zurückgeholt. Die ostdeutschen Reformillusionäre waren nur einer der Vorboten dieser offenbar schlechten Nachricht. Die Bewährungsprobe für alle strukturellen Errungenschaften, die die alte Bundesrepublik im Vergleich zur DDR auszeichneten, hat eben erst begonnen.

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