13.11.2017

Fortschritt für alle durch Freiheit

Rezension von Michael von Prollius

Titelbild

Foto: Rod Waddington via Flickr / CC BY-SA 2.0

Die Armut ist weltweit auf dem Rückzug. Leider weiß das kaum jemand. Ein neues Buch von Johan Norberg zeigt, wie die Welt immer besser wird, und bricht eine Lanze für Fortschritt und Marktwirtschaft.

Immer mehr Menschen geht es immer besser – nie ging es so vielen so gut. Der Fortschritt ist seit 250 Jahren nicht aufzuhalten. Selbst Weltkriege sorgten nur für eine Delle. Die entscheidenden Maßstäbe für ein gelingendes Leben, zunächst für das Überleben, haben sich dramatisch verbessert: darunter Ernährung, Sauberkeit, Wohlstand, Alphabetisierung und als Folge dessen und weiterer Faktoren die Lebenserwartung.

Am Anfang stand die Aufklärung. Dann folgte die kapitalistische Revolution, die zugleich eine institutionelle und industrielle Revolution war. Nach Jahrhunderten zumeist wenig beschränkter Herrschaft und Subsistenzwirtschaft errang die breite Masse der Menschen sukzessive mehr Freiheit. Freiheit wurde in Verfassungen abgesichert. Die Herrschaft des Rechts verdrängte allmählich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Die industrielle Revolution eroberte Europa von Westen nach Osten. Das Wissen vieler breitete sich im Zuge der ersten Globalisierung in der entwickelten Welt aus und erreichte einen vorläufigen Höhepunkt um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Seitdem, verstärkt noch einmal nach der Implosion des Sozialismus, ist das Wissen um eine bessere Welt auf der ganzen Erde verfügbar. Seit der letzten Jahrhundertwende haben Hunderte Millionen Menschen in Asien und auch in Afrika davon profitiert.

Dennoch beherrschen Schlagzeilen über den nahenden Nieder- und Untergang die Medien. Ob Klima, Finanzsystem, politische Verwerfungen oder falsche Annahmen über die Entwicklung von Armut, Bildung, Ernährung und Freiheit – der Untergang des Abendlandes droht. Erstickungstod durch Feinstaub, Vergiftung durch dieselige Stickoxide, Hitzetod durch Klimakollaps – Wald gestorben, Ressourcen verbraucht, Wasser fast alle. Der nächste Crash kommt bestimmt, der Zusammenbruch des Euro-Systems wird mitunter sehnsüchtig erwartet. Der Populismus ist natürlich der Totengräber der Demokratie.

„Die positiven Trends reichen von abnehmendem Analphabetismus und sinkender Karies bis zu besserer Luft, mehr Wohlstand, geringerer Arbeitszeit und weniger Toten durch mehr Impfungen.“

Zu den profunden Analytikern (und Statistikern), die ein Bild der guten und immer besseren Welt dokumentieren, gehört Björn Lomborg, Leiter des Copenhagen Consensus Center. Josef H. Reichholf zeigt in seiner Naturgeschichte, dass die Umwelt früher anders und schlechter war. Jüngst hat der Spiegel-Redakteur Guido Mingels ein handliches Buch im Querformat für jedermann publiziert: „Früher war alles schlechter. Warum es uns trotz Kriegen, Krankheiten und Katastrophen immer besser geht“ enthält 52 dicke, fette, fröhliche Gründe für globalen Optimismus. Es handelt sich um seine wöchentliche Rubrik aus dem Jahr 2016. Links ist ein kurzer Text abgedruckt, rechts eine illustrierende Graphik. Die positiven Trends reichen von abnehmendem Analphabetismus und sinkender Karies bis zu besserer Luft, mehr Wohlstand, geringerer Arbeitszeit und weniger Toten durch mehr Impfungen. Das Lesen macht gute Laune.

Im politischen Alltag geht die zwei Jahrhunderte währende Erfolgsgeschichte der Menschheit unter. Die Schlagzeilen werden von Problemen statt Lösungen beherrscht. Selbst Liberale, die mit feinem Gespür die aktuellen Defizite wahrnehmen, verlieren darüber die mittel- bis langfristige Lebensverbesserung aus den Augen. Das kann sich mit einer neuen Publikation ändern. Warum es uns global nie so gut ging wie heute und die Zukunft noch besser werden dürfte, zeigt Johann Norberg in seinem kompakten, empiriegesättigten Buch „Progress: Ten reasons to look forward to the future“ („Fortschritt: Zehn Gründe sich auf die Zukunft zu freuen“). Allerdings ist auch hier die Wahl der Perspektive entscheidend.

Der schwedische Historiker fiel erstmals international mit seinem statistisch unterfütterten Bestseller „In Defence of Global Capitalism“ (deutsch: „Das kapitalistische Manifest“) auf, einem Jugendwerk. Nun schreibt er mit dem in peppigem grellgelb aufgemachten Taschenbuch gegen globalen Pessimismus und verbreitete Irrtümer an. Zugleich untermauert er sein Plädoyer für Freiheit, Freihandel und Marktwirtschaft.

„In den vergangenen 200 Jahren hat sich das Verhältnis wohlhabend zu arm von 20:80 mehr als umgekehrt.“

Der Stockholmer hat neun handfeste Themenfelder eines besseren Lebens identifiziert:

  • Ernährung: Hungersnöte gehören (fast ausnahmslos) der Vergangenheit an. Während noch 1947 die Hälfte der Weltbevölkerung unterernährt war, sind es heute selbst in Afrika nur noch 20 Prozent.
  • Sanitäreinrichtungen und Wasserversorgung wurden nach dem „Great Stink“ in London 1858 sukzessive verbessert; in Afrika hat in den letzten 25 Jahren fast eine halbe Milliarde Menschen einen verbesserten Zugang zu Trinkwasser erhalten. Wasserklosetts sind so verbreitet wie nie zuvor. Das vermindert Seuchen.
  • Die Lebenserwartung ist weltweit dramatisch gestiegen. Revolutionäre medizinische Fortschritte wie die Erfindung des Antibiotikums haben einen erheblichen Anteil daran. Selbst Seuchen wie Ebola werden durch einen adäquaten Umgang vor Ort inzwischen eingedämmt.
  • Die statistischen Daten zur weltweit schwindenden Armut sind geradezu atemberaubend. In den vergangenen 200 Jahren hat sich das Verhältnis wohlhabend zu arm von 1:4 mehr als umgekehrt. Den größten und schnellsten Sprung hat China gemacht, das unter Mao noch Millionen Hungertote verzeichnete.
  • Ähnlich günstige Entwicklungen verzeichnet Johan Norberg in den Bereichen Gewalt, Umwelt, Alphabetisierung, Freiheit und Gleichheit.

Kritisch lässt sich einwenden, dass sich das Kapitel zur Gewalt stark auf Steven Pinker und dessen umstrittene Statistiken stützt. Gleichwohl ist für historisch wache Leser nicht zu übersehen, dass der europäische Alltag heute weitaus sicherer ist als noch vor 50 oder 100, geschweige denn 150 Jahren. Das gilt auch für die Opfer von Terrorismus, deren Zahl geringer ist als die der in Badewannen ertrunkenen Menschen. Zudem hätte ein Blick auf die Verkehrstoten Erstaunliches zu Tage gefördert.

Leider schlägt der Schwede beim Thema Klimawandel sehr alarmistische Töne an. Das lässt den Abschnitt gegenüber anderen Kapiteln abfallen. Das kann der eingangs erfolgte Hinweis auf eine verbesserte Umwelt, beispielsweise die drastisch abgenommene Luftverschmutzung in Großbritannien, nicht kompensieren. Im Kapitel über die zunehmende Freiheit thematisiert Norberg das Aussterben der Sklaverei und die Zunahme der Demokratie, die 1900 noch nirgendwo existiert habe. Erneut ließe sich Kritik formulieren. Erstens nimmt die Zahl der Demokratien seit einigen Jahren wieder ab. Außerdem steckt in vielen Demokratien wenig Freiheit und Recht drin. Nicht jede Statistik hält, was sie verspricht, und nicht jede Makroperspektive ist für die Menschen mit ihren akuten Problemen heute hilfreich. Das gilt offenkundig für Venezuela wie für lupenreine Demokratien. Allerdings äußert sich der klassisch Liberale an anderer Stelle auch sorgenvoll über die Zukunft Europas. Der Westen droht durch Bürokratisierung erstickt zu werden. Konkret warnt Norberg vor Abschottung und einer nachlassenden offenen Geisteshaltung.

„Norberg zeigt auf, dass Freiheit der Schlüssel für ein besseres Leben ist.“

Gerade aus klassisch liberaler Perspektive wäre an dieser Stelle mehr Kritik angebracht. Die aktuelle Generation steht vor anderen Herausforderungen als ihre Vorfahren bis zurück zu den Anfängen der Frühen Neuzeit. Aktuelle Kritik und Sorgen sind vielfach berechtigt. Der institutionelle Zustand des Westens ist zusammen mit dem kaum mehr als mediokren politischen Führungspersonal Grund genug für Zweifel an einer rosigen Zukunft. Gleichwohl kommt es selten so schlimm wie befürchtet. Daran erinnert Johan Norberg mit seinem kraftvollen Plädoyer.

Das wird Berufspessimisten und Gewinnler schlechter Nachrichten nicht überzeugen, wie der Schwede im vorletzten Kapitel passend thematisiert. Warum das strukturell der Fall ist, darauf haben andere klassische Liberale wie Ludwig von Mises („Die Wurzeln des Antikapitalismus“) weitreichendere Antworten formuliert oder wie Henry Hazlitt ihr Leben lang dagegen angeschrieben. Zugleich könnte es nach den Krisen des Westens kaum einen günstigeren Zeitpunkt geben, um dem negativen Kurzzeitdenken entgegenzuwirken.

Johan Norbergs facettenreiches Buch zeigt auf, dass Freiheit der Schlüssel für ein besseres Leben ist. Nur so kann der Evolutionsprozess von Versuch, Irrtum und neuerlichem besseren Versuch seine kraftvolle Wirkung entfalten. Zugleich raubt „Progress“ gerade den Progressiven ihre Lieblingsvorstellung: Am Etatismus werde die Welt genesen. Gerade deshalb bleibt nach der Lektüre ein Stück Staunen, ist doch die Marktwirtschaft als Motor des Fortschritts längst pervertiert. Zudem sorgen politische Privilegien für erhebliche Schieflagen bei der Aneignung von Reichtum. Deshalb sind klassische Liberale kurzfristig zutiefst pessimistisch und langfristig optimistisch. Freiheit muss immer wieder neu errungen werden.

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