05.12.2022

Der Westen leidet an historischer Amnesie

Rezension von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Föderationsrat Russland via Wikicommons / CC BY 4.0

Der russische Einmarsch in die Ukraine wurde möglich, so der britische Soziologe Frank Furedi in seinem Buch „The Road to Ukraine“, weil dem Westen geschichtliche und moralische Orientierung fehlt.

Durch den russischen Überfall auf die Ukraine sind westliche Politiker, das Militär und sogar die Geheimdienste aus allen Wolken gefallen. „Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa“ beschrieb Generalleutnant und Heeresinspekteur, Alfons Mais seine persönliche Erfahrung des 24. Februar 2022. Auf LinkedIn bekräftigte der oberste Heeressoldat diesen Überraschungseffekt, indem er klagte: „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert“ und er sei „angefressen“. Auf den Punkt brachte es dann die ehemalige Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die auf Twitter äußerte: „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet […], was Putin wirklich abgeschreckt hätte.“

Dennoch wird die Geschichte in Regierungskreisen offenbar nicht als Orientierungshilfe verstanden. Kurz vor dem russischen Einmarsch wies Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den russischen Anspruch auf die Ukraine auf der Münchner Sicherheitskonferenz zurück, indem er argumentierte, dass die Geschichte nicht als Kriterium tauge und sie geflissentlich ignoriert werden könne: „Wenn wir in den Geschichtsbüchern lange genug zurückkehren, dann haben wir Grund für genug Kriege, die ein paar hundert Jahre dauern können und unseren ganzen Kontinent zerstören.“ Putins Versuch, die Geschichte zu bemühen trat er abwertend und spöttelnd entgegen, indem er meinte, dieser habe sich als „Historiker betätigt und Texte geschrieben“. Dass sich Putin auf die Geschichte stützte und dabei seine eigene Version zum Besten gab, machte diesen in den Augen des Bundeskanzlers zu einem nicht mehr ernstzunehmenden Gesprächspartner: „Würden wir ihn beim Wort nehmen, würde uns das nicht optimistisch in die Zukunft blicken lassen. Ich weigere mich, das zu tun.“

"Das gesamte westliche Establishment leidet an ´historischer Amnesie´."

Der vom Bundeskanzler nicht ernst genommene Putin marschierte mit seiner Armee wenige Tage später in die Ukraine ein und der Westen war geschockt. Unmittelbar nach Kriegsbeginn reagierte Scholz mit einer Regierungserklärung im Bundestag, in der er erneut behauptete, dass die Geschichte keinen Wert mehr habe. Durch den Krieg sei eine historische Epoche beendet worden. Dieser Krieg verursache einen Bruch, so dass die jüngere Vergangenheit keine Bedeutung mehr habe und daher ein vollständiger Reset erforderlich sei: „Der 24. Februar markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ und das bedeutet: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Putin wolle „die Uhren zurückdrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts“, also eine längst vergangene Zeit wieder aufleben lassen. Es sei unfassbar: „Krieg in Europa.“

Distanzierung von der Geschichte

Das gesamte westliche Establishment, so der britische Soziologe Frank Furedi in seiner bestechenden Analyse zu den Ursachen des Ukraine-Kriegs, leidet an „historischer Amnesie“. Fehleinschätzungen mit verheerenden Folgen seien die Folge, weil man die Geschichte nicht kenne, deren gesellschaftliche Relevanz bestreite und sie sogar gezielt verdränge. Die im Westen dadurch fehlende Sensitivität gegenüber Russlands Sicherheitsinteressen – die auch durch die in Russland noch wache Erinnerung an die deutsche Invasion während des Zweiten Weltkriegs begründet sind – sei ein „nicht unbedeutender Faktor in der Kette der Ereignisse, die zu der Invasion der Ukraine geführt“ haben. Dieses historische Verständnis hätte helfen können, Russland zurückzuhalten. Die Folge der Amnesie des Westens ist für Furedi nicht nur ein „historischer Analphabetismus“, sondern auch eine „moralische Verwirrung“, denn indem das geistige, moralische und kulturelle Erbe verschüttet wird, fehlt in den westlichen Ländern die notwendige gesellschaftliche Orientierung.

Gleich im ersten Kapitel zeigt Furedi, dass die heute dominierenden Ideologien, die in den vergangenen Jahrzehnten handlungsleitend wurden, keine adäquate Beschreibung der historischen Realität liefern und verheerende Fehleinschätzungen nach sich ziehen. So habe die für die Legitimität der EU immer bedeutender werdende Ideologie der Globalismus – die auf eine Steuerung der globalen Welt durch supranationale Organisationen setzt, die der Politik übergeordnet sind – ein „magisches Denken heraufbefördert, wonach Kriege in Europa der Vergangenheit angehören“. Den politischen und kulturellen Eliten des Westens wirft Furedi vor, dass sie dieses Denken kultiviert haben, während sie „Patriotismus“ und „nationale Souveränität als überholtes Vorurteil ansehen […] und abwerten.“

„Die Folge der historischen Amnesie ist eine ‚moralische Verwirrung´, denn indem das geistige, moralische und kulturelle Erbe verschüttet wird, fehlt in den westlichen Ländern die notwendige gesellschaftliche Orientierung."

Mit der Institutionalisierung der europäischen Integration im Rahmen der EU haben sie die Vorstellung verbunden, dass man die schlechte alte Zeit mit Kriegen, Gräueltaten und destruktiven Ideologien hinter sich lassen könne. Ähnlich wie in Deutschland, wo man sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe des Narrativs von der „Stunde Null“ von der Geschichte zu distanzieren versuchte, hätten die EU-Eliten in gleicher Weise versucht, sich von einer „Geschichte zu befreien, die sie weder schätzen noch verstehen.“ Eine Kultur jedoch, die sich „so sehr für ihre Vergangenheit zu schämen scheint, wird es kaum schaffen, ihr kulturelles Erbe an die jüngere Generation weiterzugeben.“ Europa „steckt in seiner Vergangenheit fest“ und könne nicht vorankommen, wenn es sich nicht mit ihr auseinandersetzt.

Legitimations- und Wertekrise

Europa steckt fest und wird in einem doppelten Sinn von der eigenen Geschichte verfolgt, wie Furedi im zweiten Kapitel herausarbeitet. Die Entfremdung von der eigenen Geschichte trübt nicht nur das Geschichtsverständnis und das Verständnis der heutigen geopolitischen Realitäten, sondern sie führt auch dazu, dass die moralische und legitimatorische Krise der bürgerlichen Gesellschaft, die vom Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, nie überwunden werden konnte. Denn „durch diesen Krieg wurden die zentralen Werte und Ideale“, die noch bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts Geltung hatten, plötzlich sinnentleert, so dass sich daraus eine Vertrauenskrise innerhalb der Eliten entfaltete. Es kam zu einer „moralischen Entwaffnung des Westens“, in der die bis dahin als selbstverständlich geltenden Annahmen über Fortschritt, Zivilisation und den menschengemachten gesellschaftlichen Wandel die Fähigkeit verloren, die Menschen zu inspirieren.

Die resultierende Legitimationskrise manifestierte sich in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Radikale Ideologien von links und von rechts dominierten. Das Wertegefüge der bürgerlichen Gesellschaft und das Vertrauen in den Kapitalismus wurden durch den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 weiter erschüttert. Erst der Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg und der beginnende Kalte Krieg „boten eine vorläufige Lösung für die moralische Krise des Westens“, denn so ließen sich Legitimationsprobleme durch den hochgradig ideologischen Konflikt der Supermächte überlagern. Das Ende des Kalten Krieges – das obendrein mit zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit und rückläufigen Wohlstandszuwächsen ab den 1990er Jahren zusammenfiel – beraubte die westlichen Gesellschaften jedoch plötzlich der Möglichkeit, sich dieser negativen Legitimation durch den Verweis auf die stalinistischen Regimes Osteuropas zu bedienen.

„Die Entfremdung von der eigenen Geschichte führt auch dazu, dass die moralische und legitimatorische Krise der bürgerlichen Gesellschaft, die vom Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, nie überwunden werden konnte."

Die Ideologie des Kalten Krieges schuf einen Erklärungsrahmen, der der Politik wie auch der Gesellschaft ermöglichte, globale Ereignisse zu interpretieren und einzuordnen. Ihr Verlust führte zu einer Sinnkrise, in der Grundannahmen, Konventionen und Verfahren, die mit der Ordnung des Kalten Krieges verbunden waren, schnell erodierten. „Diese Sinnkrise“, schreibt Furedi, „resultiert daraus, dass heute weder öffentliche Institutionen noch Konventionen die Kraft haben, eine schlüssige Zielsetzung für politisches Handeln zu liefern. Es fehlt eine Vision für das Gemeinwohl“. Das zeige sich am fortgesetzten Niedergang des öffentlichen Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und den vor allem in den USA, aber auch in den anderen westlichen Gesellschaften tobenden Kulturkriegen. Sie haben ihre Wurzeln in der moralischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs, wurden nie gelöst und während des Kalten Krieges nur überlagert und zurückgedrängt. Dieses Vermächtnis hält die westlichen Gesellschaften im Bann, denn dadurch fehlt es ihnen an moralischer Orientierung und Legitimität.

Der Kampf um moralische Klarheit

„Seit der Wende zum 21. Jahrhundert versucht das westliche politische Establishment, den durch den Kulturkrieg entstandenen Schaden einzudämmen, indem es über seine Außenpolitik für moralische Klarheit sorgt.“ Und das ist keine gute Nachricht, denn „das Streben des Westens nach Legitimität kann durchaus zu Ergebnissen führen, die den Interessen der ukrainischen Bevölkerung zuwiderlaufen“, wie Furedi im Weiteren aufzeigt. So droht der Ukrainekrieg zu einem Stellvertreterkrieg zu werden, den die USA in irriger Absicht nutzen wollen, um ihre Position durch ein Wiederaufleben des Kalten Krieges sowohl innerhalb der westlichen Allianz wie auch global zu stärken. Nicht weniger relevant ist, dass dieser Ansatz auch der Aufwertung des Westens dient, indem der Kampf gegen Putin „moralische Klarheit“ herstellen soll.

„Im Kontext der zunehmenden globalen geopolitischen Spannungen, erinnert die Gegenwart in bedrückender Weise an die Zeit des Ersten Weltkriegs."

Insbesondere in den USA sind Intellektuelle bemüht, den Widerstand der Ukrainer gegenüber den russischen Invasoren als Verteidigung westlicher Werte zu instrumentalisieren, um dem einheimischen Populismus einen Schlag zu versetzen. Die zwischenzeitlich verlorengeglaubte Einheit des Westens lebt auf, während der EU-Skeptizismus zurückgedrängt wird. Furedi wirft dem westlichen Establishment vor, dass es  vielfach versucht, den Ukraine-Krieg „zu nutzen, um aus den tragischen Verhältnissen, die den Ukrainern widerfahren, moralische Klarheit zu gewinnen“. Dies sei ein „Fall von geschmacklosem kulturellem Parasitismus“. Dass Unklarheit darüber herrscht, was überhaupt westliche Werte sind, und die darum tobenden Kulturkämpfe sind eine große Gefahr. Denn dies könne zur Folge haben, dass die Interessen der Menschen in der Ukraine den in den westlichen Gesellschaften ausgetragenen Konflikten untergeordnet werden und diesen sogar zum Opfer fallen. Der verzweifelte Versuch der westlichen Eliten, die moralische und legitimatorische Krise zu kompensieren, ist aber auch für die westlichen Gesellschaften eine große Gefahr. Im Kontext der zunehmenden globalen geopolitischen Spannungen, erinnert die Gegenwart in bedrückender Weise an die Zeit des Ersten Weltkriegs.

Furedi steckt den Finger tief in die Wunde und hält uns einen Spiegel vor. Er zeigt, dass wir nicht umhinkommen, uns mit unserer eigenen Geschichte und der Krise unserer Gesellschaften zu befassen, um die tieferen Ursachen des Ukraine-Krieges zu verstehen und um Auswege zu finden. Denn es reicht nicht, der populären Version zu folgen, dass die Erklärung für den Ukraine-Krieg ausschließlich bei Putin oder in Russland zu finden sei.

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