15.11.2022
Ukraine: Brauchen wir ein Europa der Nationen?
Die nationale Souveränität eines Landes ist die Grundlage für Freiheit und Demokratie.
Der Krieg in der Ukraine, heißt es häufig auf eher pazifistisch geprägten Seiten, sei ein Wahnsinn oder ein sinnloses Blutvergießen. Das ist verständlich, denn jeder normale Mensch hasst den Krieg. Und trotzdem ist das Wort „sinnlos“ nicht richtig. Zumindest die Ukrainer, die mitten im Kampf stehen, würden diesen Krieg, auch wenn sie ihn hassen, nicht als sinnlos bezeichnen. Für sie geht es um so viel, dass sie sogar bereit sind, ihr Leben zu opfern.
Die Frage aber, was es genau ist, für das Menschen zu kämpfen und zu sterben bereit sind, scheint für viele unserer Politiker schwer zu beantworten zu sein. Natürlich gibt es Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine. Doch die Begründung dafür, warum wir solidarisch sein sollten, verharrt oft beim Oberflächlichen.
Zu den wenig überzeugenden Argumenten gehört der Versuch, die Geschehnisse als eine Wiederbelebung des Kalten Kriegs darzustellen. Dieser Betrachtung zufolge kämpfen die Ukrainer gegen ein böses Imperium, dessen Führer größenwahnsinnig oder verrückt sind. Die Reduzierung des Kriegs auf ein solches Schwarz-Weiß-Schema blendet vieles aus –angefangen von den diplomatischen und geopolitischen Fehlern, die im Westen in den letzten Jahren gemacht worden sind. Eine solide Grundlage für die Solidarität mit der Ukraine bietet diese Sicht kaum.
„Natürlich gibt es Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine. Doch die Begründung dafür, warum wir solidarisch sein sollten, verharrt oft beim Oberflächlichen."
Noch schlimmer ist es, wenn Politiker den Krieg für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Sie tun dies, um Legitimität zu erlangen oder um sich als auf der richtigen Seite der Geschichte stehend zu präsentieren. Ein Beispiel war die Rede von Annalena Baerbock, die sie im August in Prag hielt. Sie werde, sagte sie, die Ukraine an die erste Stelle setzen, unabhängig davon, was ihre deutschen Wähler denken. Diese Bemerkung war so narzisstisch wie undemokratisch. Es klang, als glaube sie, der Krieg hinge von ihr und ihren Kollegen ab. Dem Anliegen der Ukraine erwies sie damit einen Bärendienst, denn ihre Bemerkung diente kaum dazu, die Menschen hierzulande zu gewinnen. Echte Solidarität aber kann es nur geben, wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wird.
Worum also geht es in diesem Krieg, das verteidigt werden sollte? Die Antwort lautet: Um nichts weniger als die Souveränität eines Landes. Es mag für viele überraschend sein, dass so viele Ukrainer bereit sind, für das Existenzrecht ihres Staats zu sterben. Doch das sagt mehr über unsere derzeitige moralische Verwirrung aus als über die Ukrainer. Vieles von dem, was unser Leben in den letzten Jahrzehnten so gut gemacht hat, hängt mit diesem Recht zusammen. Nur als Bürger eines souveränen Nationalstaates haben wir ein Mitspracherecht darüber, wer uns regieren soll. Statt unser Schicksal in die Hände einer fremden Macht zu legen, können wir unsere Politiker wählen und wieder abwählen, wenn wir uns nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Damit verbunden ist auch die Möglichkeit, über die Gestaltung der Zukunft unseres Landes mitzuentscheiden.
Das festzustellen hat nichts mit einer Idealisierung des jetzigen Zustands der Demokratie zu tun. Auch der Hinweis, die Ukraine sei vor dem Krieg zutiefst gespalten oder korrupt gewesen, schmälert keinesfalls das Argument für die nationale Souveränität. Es handelt sich um die Verteidigung eines Prinzips, das auch dann gelten würde, wenn Russland weniger aggressiv wäre. Aus diesem Grund kämpften auch die kolonialisierten Staaten im letzten Jahrhundert für ihre Freiheit. Und selbst wenn ihr Kampf nicht immer in eine perfekte Demokratie mündete, so will doch kein Land wieder eine Kolonie sein. Sicher ist, dass weder die Demokratie noch die Freiheit der Bürger möglich sind, wenn das Land nicht souverän ist.
„Die nationale Souveränität wurde in den letzten Jahren eher als ein Problem statt als Grundlage unserer Freiheit dargestellt."
Wenn es vielen unserer Politiker schwerfällt, das zu verstehen, dann zeigt das die Unklarheit und moralische Verwirrung, die hierzulande vorherrscht. Tatsächlich wurde die nationale Souveränität in den letzten Jahren eher als ein Problem statt als Grundlage unserer Freiheit dargestellt. Der Nationalstaat mit seinen Grenzen galt vielen als überholt oder veraltet. Noch 2017 behauptete der damalige EU-Kommissionspräsident Jean Claude Junker in einer Rede anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz, Europa könne nur überleben, wenn es die Kleinstaaterei überwinde. Die Gefahr für den Kontinent sah er im Brexit, der ebenfalls ein Kampf für die nationale Souveränität war.
Nun wissen wir, wie sehr er irrte. Wenn der Ukrainekrieg als ein Weckruf bezeichnet wird, dann, weil er uns unsere Irrtümer und Illusionen vor Augen führt. Nicht nur die Ukrainer, sondern auch die Finnen und andere zeigen sich bereit, für ihre nationalen Grenzen militärisch zu kämpfen. So eng verwoben ist die Demokratie mit der nationalen Souveränität, dass schon viele unserer Vorfahren bereit waren, ihr Leben für sie zu opfern. Wir alle wünschen uns den Frieden. Wer aber von den Ukrainern einen Frieden um jeden Preis fordert, sollte sich fragen, ob er den Pazifismus über die Demokratie und die Freiheit stellt.