19.06.2024

Der Boom der Verletzlichkeit

Rezension von Thilo Spahl

Titelbild

Foto: Matt Hrkac via Flickr / CC BY 2.0

Frauke Rostalski liefert in ihrem neuen Buch ein Plädoyer wider die Diskursvulnerabilität und für die Meinungsfreiheit als Herzstück der Demokratie.

Ausgehend von der Beobachtung, dass heute sehr viele Personengruppen, allgemein oder in bestimmten Situationen als vulnerabel, also verletzlich, bezeichnet werden, widmet sich die Juraprofessorin Frauke Rostalski der Frage, inwieweit die Verbreitung dieser Sichtweise sich auch auf unser Rechtssystem auswirkt.

Die Kennzeichnung von Menschen als vulnerabel dient dazu, deren Anliegen und Interessen als besonders bedeutsam zu markieren und die Gesellschaft hierauf aufmerksam zu machen. Vulnerabel kann dabei eigentlich jeder sein: Junge, Alte, Arme, Reiche, Kranke, Schwangere, Frauen, Angehörige von Minderheiten, Politiker, etc.

Rostalski konstatiert, dass wir uns zu einer vulnerablen Gesellschaft entwickeln. Und sie sieht das nicht als positive Entwicklung. Die wesentliche Botschaft ihres neuen Buches „Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ lautet, „dass immer dann, wenn der Staat mit seinen Mitteln dafür sorgt, Vulnerable zu schützen, Freiheit auf allen Seiten verloren geht – nicht bloß bei denjenigen, die zu den jeweils ‚Stärkeren‘ gehören. Alle verlieren Freiheit, auch die Vulnerablen, sobald der Staat eingreift.“

„Alle verlieren Freiheit, auch die Vulnerablen, sobald der Staat eingreift.“

Die Autorin kommt in ihrer Untersuchung zum Schluss, dass Vulnerabilitäten bereits in einer Vielzahl von Gesetzen Einfluss auf die Rechtsentwicklung genommen haben. Die Veränderungen seien weitreichend und greifen tief in individuelle Freiheiten ein. Vulnerabilität werde mehr und mehr zum Leitmotiv von Gesetzesreformen. Infolge gewachsener Vulnerabilitätsannahmen würden Einzelne oder Gruppen stärker durch Gesetze geschützt, was eine Ausdehnung staatlicher Hoheitsbefugnisse zur Folge habe. Was ihr besonders problematisch erscheint, ist die Tatsache, dass das neue Leitmotiv nicht explizit ausgesprochen und thematisiert werde. Wieviel Freiheit in der Gesellschaft gewährt wird, sei aber Angelegenheit aller Bürger und müsse daher breit diskutiert werden.

Sie betont, dass es ihr nicht darum gehe, zu bewerten, ob die eine oder andere Rechtsentwicklung der Sache nach gerechtfertigt sei oder nicht, sondern nur darum, dass allen bewusst sein sollte, was hier geschieht, damit die Gesellschaft bewusst entscheiden kann, wie weit man gehen möchte. Denn – Rostalski wiederholt das immer wieder – es gehe in diesem Prozess uns allen Freiheit verloren. Und zwar in dreierlei Hinsicht: Verloren gehen Handlungsfreiheit, Eigenverantwortung und Räume privater Konfliktlösung.

Insbesondere sieht sie die Meinungsfreiheit bedroht, da häufig der Schutz besonders verletzlicher Menschen darin bestehen soll, dass sie vor Worten geschützt werden. Rostalski bezeichnet diesen Bereich als „Diskursvulnerabilität“. Wenn der Gesetzgeber diesem speziellen Schutzbedürfnis nachkommt, bedeute dies den „Ausschluss von Menschen aus der jeweiligen öffentlichen Debatte, deren Positionen als verletzend wahrgenommen werden, oder von spezifischen Argumenten und Standpunkten, die ihrerseits die Gefühle mancher Gesprächsteilnehmer verletzen können.“ Diskursvulnerabilität erweise sich somit als „schädlich für den freien Austausch von Ideen und Meinungen, wie er den Kern einer Demokratie bildet.“

„Dummerweise trifft der Trend zur stetig zunehmenden Verletzlichkeit auf Vertreter des Staates, denen der Ruf nach immer mehr Maßnahmen für Schutz und Vorsorge sehr gelegen kommt.“

Auch für die als besonders schutzbedürftig Identifizierten geht die Kultur der Vulnerabilität nach hinten los. Denn sie zahlen als Preis für diesen Status, dass die eigenverantwortliche Risikobewältigung und damit auch die eigenständige Lebensgestaltung mehr und mehr in den Hintergrund rücken und sie mehr und mehr zu passiven Schutzbefohlenen (von Vater Staat) werden. Dies ist für den Einzelnen nicht unbedingt erstrebenswert und für die gesamte Gesellschaft erst recht nicht. „Vulnerable Gesellschaften sind nicht bloß besonders risikoavers, sondern neigen außerdem dazu, die Aufgabe der Risikobewältigung in staatliche Hände zu legen und diesen Vorgang immer weiter auszudehnen“, schreibt Rostalski. Eine hypersensible Gesellschaft wird so unweigerlich zu einer sehr unfreien Gesellschaft.

Unser Problem ist, dass Empfindlichkeit vielen Menschen inzwischen als Tugend gilt und die „Ausweitung der Schmerzzone“ notwendig mit „Erweiterung der Risikozone“ einhergehe. Jemand, der sich auf seine Verletzlichkeit konzentriert und ggf. durch seine Mitmenschen darin bestätigt wird, schränkt selbst seine Freiheit durch beständige Risikovermeidung ein. Noch schlimmer wird es, wenn immer mehr Menschen den Staat auffordern, für alle Eventualitäten Risikovorsorge zu betreiben, und dieser dem durch entsprechende Gesetzgebung auch nachkommt.

Dummerweise trifft der Trend zur stetig zunehmenden Verletzlichkeit auf Vertreter des Staates, denen der Ruf nach immer mehr Maßnahmen für Schutz und Vorsorge sehr gelegen kommt. Denn sie brauchen dringend Legitimation. Und so ist es in den letzten Jahrzehnten zur Lieblingsaufgabe des Staates geworden, uns vor allem Möglichen zu schützen: vor dem Klimawandel, vor Corona, vor Diskriminierung, vor Stress, vor schlechten Noten, vor Arbeitslosigkeit, vor Hitze, vor Desinformation, vor unüberlegten Entscheidungen, vor genderungerechter Sprache, vor aufdringlichen Blicken, vor schlechten Witzen, vor kontroversen Meinungen, vor unangenehmen Gefühlen, vor dem Infragestellen eigener moralischer Überzeugungen, vor Mikroaggressionen, vor Einsamkeit, vor Melodien, die zum Singen unerwünschter Parolen einladen, vor Nichtanerkennung der selbst empfundenen Geschlechtsidentität, vor Nichtanerkennung des Wunsches nach selbstbestimmtem Sterben, vor heterosexueller Hegemonie, vor Ehrverletzung, vor „Gehsteigansprachen“, vor Hass und Hetze, vor allem möglichen, was bisher unter der Rubrik „allgemeines Lebensrisiko“ firmierte, und mitunter sogar vor Tatsachenbehauptungen (wenn diese dazu geeignet sind, eine andere Person verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen).

„Wir entwickeln uns von einer Demokratie zu einer Technokratie, in der kein Platz mehr für gefährliche Debatten und mündige Bürger ist.“

Nutznießer der Hypersensibilisierung ist also der Staat: „Was der einzelne Mensch an Freiheit aus seiner eigenen Sphäre wegschiebt, landet in aller Regel unmittelbar bei staatlichen Akteuren, die hierauf durch den Erlass neuer Gesetze und den Ausbau der eigenen Institutionen reagieren.“ So entwickeln wir uns von einer Demokratie zu einer Technokratie, in der die Spezialisten des Staates und parastaatlicher NGOs Maßnahmen zum Schutz der vulnerablen Bevölkerung (und des Planeten) beschließen und umsetzen und kein Platz mehr für gefährliche Debatten und mündige Bürger ist. In Hinblick auf Klimaaktivisten schreibt Rostalski: „Einer atemlosen ‚Letzten Generation‘ bleibt keine Zeit mehr zum langen Reden. Debatten darüber, wie angemessen auf die Risiken der klimatischen Veränderungen reagiert werden soll, werden dann als persönlicher Angriff gewertet – als Hindernis auf dem Weg zu der einzig richtigen Lösung, von der der andere durch sein Reden bloß abhält.“

Die Autorin bestreitet keineswegs, dass es Aufgaben gibt, die dem Schutz des Einzelnen dienen und die sinnvollerweise der Staat übernehmen sollte. Dazu zählen sicher Landesverteidigung, Arzneimittelsicherheit, Lebensmittelsicherheit, usw. Es gibt aber auch viele Bereiche, wo man ihm diese Verantwortung nicht oder in weit geringerem Maße übertragen sollte, insbesondere das Zwischenmenschliche, wo man sich sehr genau fragen muss, ob eine immer weitergehende Verrechtlichung wünschenswert ist. Sie sieht eine Gefahr darin, wenn „private Räume der Streitbeilegung beschnitten, wenn nicht ganz verschlossen werden.“

Das Buch von Frauke Rostalski ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte um Meinungsfreiheit, Eigenverantwortung und Demokratie. Es sei insbesondere auch jenen zur Lektüre empfohlen, die sich durch die Herausforderung der eigenen Meinung schon einmal bedroht gefühlt haben. Mögen sie es als Einladung zu einer Diskussion werten, in der als Regel gilt, was die Autorin in Hinblick auf die Frage der Diskursvulnerabilität formuliert: „Solange sich das Gesprochene im Rahmen der geltenden Gesetze bewegt, ist jede Person zum Diskurs zugelassen  – und zwar mit jedem Argument.“

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!