30.05.2025
Zur Kulturgeschichte des psychologischen Selbst
Von Mirjam Epstein
Es wimmelt inzwischen an psychologischen Diagnosen, mit denen man auf TikTok um sich wirft oder die man Donald Trump unterstellt. Viele steigern sich in etwas hinein.
Es ist wieder Mai – in den USA der Monat der mentalen Gesundheit. Seit 1949 geht es darum, aufzuklären und Stigmata abzubauen. Heute, über 70 Jahre später, explodieren auf TikTok amateurhafte Diagnosen von ADHS, Depression oder Borderline. Also, wo stehen wir? Donald Trump? Ein Narzisst. Elon Musk? Mutmaßlich ebenfalls – und womöglich Autist. Und man selbst? Schnell Symptome googeln, und wer sich gerade schlecht fühlt, landet irgendwo zwischen dok.net und deutscherdepressionshilfe.de. Danach fühlt man sich vielleicht nicht besser, aber zumindest von Schuldgefühlen befreit. Denn die Krankheitsrolle liegt nicht weit. Und jeder, der sie sucht, wird mit genug verbrämtem Halbwissen fündig – beim Psychiater oder auf TikTok. Überall werden psychologische Fachbegriffe durch die Luft geschleudert, wo echte Erklärungen fehlen.
Schon im 19. Jahrhundert versuchte man, abweichendes Verhalten zu kategorisieren – lebhaftere Gemüter bei Frauen wurden schnell als hysterisch diagnostiziert. Noch weiter zurück, in der Antike, glaubte man an ein Ungleichgewicht der Körpersäfte – aber ohne Hoffnung auf medikamentöse Regulierung. Oder: der Zappelphilipp. Ein hyperaktives Kind aus dem „Struwwelpeter“, das beim Abendessen herumkaspert, die Tischdecke herunterreißt und alles durcheinanderbringt. Der enttäuschte Blick seiner Eltern sprach Bände. Heute bekäme er eine ADHS-Diagnose, würde mit Ritalin behandelt – und auf TikTok seine „Journey“ dokumentieren.
Bis in die späten 1960er Jahre dominierte das Schuldparadigma: Wer willens war, Verantwortung zu übernehmen, galt als moralisch integer – wer davon abwich, wurde sanktioniert, sei es durch Tadel, körperliche Strafe oder den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Erst dann schob sich Sigmund Freuds frühere Entdeckung unbewusster Kräfte im Menschen nach vorne: Aus dem schuldigen Dissidenten wurde die Rolle des Patienten.
„Mit der Therapeutisierung begann ein neues Kapitel: Die Postmoderne stand in den Kinderschuhen.“
Eine zentrale Rolle spielte dabei die beginnende Professionalisierung der Psychiatrie zu Anfang des 20. Jahrhunderts, durch die sich gesellschaftliche Kontrollfunktionen zunehmend an eine wissenschaftlich legitimierte Institution auslagern ließen. Im Jahr 1952 veröffentlichte die American Psychiatric Association die erste Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM, das bis heute als Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen dient.
Nach dem Zusammenbruch des NS-Staats begann nicht nur der politische Wiederaufbau, sondern auch ein kultureller Reflex: die Suche nach neuen Deutungsmustern für das Menschliche. Autoritäre Lesarten verloren ihre Kraft. Psychologisches Wissen wurde zum Instrument, um individuelle wie kollektive Schatten zu benennen – und das Sagbare zu erweitern.
In den frühen 1970er-Jahren wurden die Weichen für den Psychoboom gestellt – durch eine neue Generation, die sich mit psychologischem Wissen zu emanzipieren suchte: von den Zwängen von gestern. Als verlängerter Arm der 68er-Bewegung wollte die Bewusstseinsbewegung über Klassenfragen hinaus mehr das Innerliche aufspüren. Mit der Therapeutisierung begann ein neues Kapitel: Die Postmoderne stand in den Kinderschuhen. Selbsthilfegruppen wuchsen, weiche Praktiken boomten – alles unter dem Banner der Selbstverwirklichung. Durch das Aufkommen von Fernsehen und Radio konnte sich psychologisches Wissen noch schneller verbreiten. Und die Abnehmer waren da. Die Anzahl psychologischer Ratgeber stieg in den 1970er-Jahren rasant an – ein Trend, den etwa Raapke und Heidrun in ihrer Analyse des deutschen Büchermarkts als „Psychoboom“ beschrieben haben.1 In Frauenzeitschriften gaben Experten Tipps, wie die eingeschlafene Ehe wiederzubeleben sei oder wo die richtigen Dates anzutreffen seien – vor wenigen Jahren noch undenkbar.
„Begriffe wie ‚toxisch‘, ‚narzisstisch‘ oder ‚traumatisiert‘ gehören mittlerweile selbstverständlich zum Beschreibungsinventar.“
Solche Deutungsangebote machten sich gut in einer Zeit, in der andere weggebrochen sind. Die Kirche hat schon lange an Hoheitsanspruch eingebüßt. Und der nationale Zusammenhalt? Nach dem Nationalsozialismus bescholten und in zwei Teile – Ost und West – auseinanderklaffend. Wer nach Erklärungen hungerte, sich oder seine Mitmenschen zu verstehen, fand welche – zumal die alten Antworten von Gott und Staat in einer desillusionierten Zeit fadenscheinig daherkamen. Die Brandmauer zwischen Privatem und Öffentlichem war eingerissen.
1952 listete das DSM noch 106 diagnostische Kategorien. Seither hat sich die Zahl der Einträge – durch Subtypen, Verlaufsformen und neue Störungsbilder – auf über 1000 Varianten und Klassifikationen erhöht. Kritiker wie Jörg Blech sprechen von einer „Explosion der Diagnosen“, die mehr mit kulturellen Verschiebungen und industriegetriebener Erweiterung zu tun hat als mit tatsächlichen Erkenntnisfortschritten.2
Immer mehr Alltagszustände gingen in die Nomenklatur ein; der Spielraum zwischen Normalität und Pathologie wurde enger gefasst – bei gleichzeitiger Entstigmatisierung. Ab den frühen 2010er-Jahren kamen die sozialen Medien: Die Gegensprechanlage war nun die eigene Peer Group – nicht weniger desorientiert als man selbst. Begriffe wie „toxisch“, „narzisstisch“ oder „traumatisiert“ gehören mittlerweile selbstverständlich zum Beschreibungsinventar. TikTok ist der sichtbarste Ausdruck dieser Entwicklung. Hashtags wie #traumatok oder #adhdtok sammeln Hunderttausende Beiträge, in denen Symptome geteilt, Diagnosen inszeniert und psychische Störungen ästhetisiert werden – als Bausteine einer Identität, die in Echtzeit algorithmisch verstärkt wird.
„Statt um Verständnis geht es um Etikettierung: Dem unliebsamen Gegner wird aus der Ferne eine Diagnose verpasst – sei es Narzissmus oder ein anderes seelisches Krebsgeschwür, das möglichst schnell entfernt gehört.“
Was als Bewusstseinsbildung begann, droht in Bewusstseinslähmung umzuschlagen. An die Stelle eigener Deutungsversuche treten vorgefertigte Schablonen. Was dahinter liegt – und immer schon lag – ist die Suche nach Sinn. Eine conditio humana, jenseits kultureller Marotten. Aber diesen Sinn in, eben, sinnvolle Bahnen zu lenken, ist eine ganz andere Aufgabe. Sie liegt bei der Kultur – nicht bei den Medien, und nicht bei der Psychologie in ihrer heutigen Form, weil sie sich zu stark mit dem verkürzten Menschenbild der Psychiatrie vermischt hat. Deshalb spricht die Psychiatrie heute von Krankheiten – im Sinne Emil Kraepelins: Gehirnkrankheiten, verursacht durch fehlerhafte Schaltkreise und einen gestörten Transmitterhaushalt.
Statt um Verständnis geht es dann um Etikettierung: Dem unliebsamen Gegner wird aus der Ferne eine Diagnose verpasst – sei es Narzissmus oder ein anderes seelisches Krebsgeschwür, das möglichst schnell entfernt gehört. So etwa in einem offenen Brief von über 200 Psychologen, Psychiatern und anderen im Bereich der mentalen Gesundheit Tätigen, der in der New York Times erschien und vor Donald Trumps „bösartigem Narzissmus“ warnte.
Ob leichtfertig oder berechtigt: Die Art, wie über unerwünschtes Verhalten, Gemütsverstimmungen oder andere Ambivalenzen gesprochen wird, prägt auch die Art der Reaktion. Und diese bleibt entweder tautologisch im Diagnosevokabular stecken – oder wird im Keim erstickt, bevor überhaupt ein Diskurs entstehen kann. Anstelle eigener Deutungsversuche treten standardisierte Entitäten; anstatt die Ambiguitätstoleranz zu stärken, verschließt sie sich gegenüber allem, was sich nicht eindeutig benennen lässt; anstatt die Widersprüchlichkeit des Lebens anzuerkennen, wird sie im Licht einer Diagnose – Depression, Narzissmus oder was auch immer gerade zur Symptomlage passt – verkannt. Spoiler: Die Erhellung ist endlich.