29.01.2016
Die Zukunft der Familie
Analyse von Clemens Schneider
Patchwork-Familien, Trennungen und unverheiratete Eltern nehmen zu. Kritik an dem Versuch, ein Familienmodell zum einzig richtigen zu erklären. Er begrüßt die Vielfalt der Modelle. Entscheidend ist eher das Verhalten der Familienmitglieder.
„Die traditionelle Familie stirbt aus“ 1, „Die klassische Familie wird seltener“ 2, „Die klassische Familie wird zum Auslaufmodell“ 3. Allenthalben vernimmt man die Unkenrufe, die den Untergang jener jahrzehntausende alten Institutionen voraussagen und mit dem Erodieren der „Keimzelle der Gesellschaft“ um unsere ganze Zivilisation fürchten. So zumindest stellen das die einen dar. Die anderen jubeln, dass dieses überkommene Modell nun endlich in den Tiefen der Geschichte verschwindet. Die repressive Moral des Patriarchats stirbt aus. Sinnvoll sind beide Einschätzungen nicht. Denn das Familienmodell Vater-Mutter-Kind(er), wie es von seinen konservativen Verteidigern oder seinen linken Gegnern dargestellt wird, ist weder eine durch die Zeiten bewährte Tradition noch ein Überbleibsel aus dem Cro-Magnon-Zeitalter. Es entspricht in erster Linie den biologischen Notwendigkeiten – zumindest solange man noch keine Menschen klonen kann.
Darüber hinaus sind die Formen des Zusammenlebens aber immer schon sehr vielfältig gewesen. Das fängt an bei dem Tohuwabohu an Beziehungsgeflechten, die uns in den frühesten schriftlichen Zeugnissen des jüdisch-christlichen Kulturraums begegnen. In Homers Ilias sind ebenso vielfältige Lebensentwürfe zu finden wie in den Schriften des Alten Testaments. Von den vielen kinderlosen Single-Propheten in Israel über gleichgeschlechtliche Beziehungen vor den Toren Trojas bis zur Vielweiberei der großen Könige Israels. Die Kinderbetreuung durch Sklaven oder Ammen im alten Rom und in den Adelshäusern des Absolutismus wäre den Streitern für das Betreuungsgeld wohl ein Gräuel. Wie wenig sich überhaupt in den vergangenen Zeiten der Zweck- und Vernunftehen große Teile der Oberschicht (meist die Männer) dem Ideal ehelicher Treue verpflichtet fühlten, ist ja hinlänglich bekannt.
„Die Formen des Zusammenlebens sind schon immer sehr vielfältig gewesen“
Gut, die meisten Beispiele, die wir aus der Sozialgeschichte vergangener Jahrhunderte kennen, stammen aus dem Adel, vielleicht noch aus dem reicheren Bürgertum. Vielleicht sind diese Beispiele weniger repräsentativ. So wenig wir vom Alltagsleben der weniger wohlhabenden Schichten wissen, wissen wir doch relativ viel über die äußeren Umstände, in denen sich ihr Alltag abspielte. Wir wissen, dass gewaltsame Auseinandersetzungen, Raubzüge, Kriege in vielen Epochen der Menschheit an der Tagesordnung waren. Wir wissen, dass Hungersnöte und Epidemien regelmäßig einen nicht geringen Teil der Bevölkerung binnen kurzer Zeit ausgelöscht haben.
Traditionelle Familie ist größtenteils Mythos
Die Verteidiger der traditionellen Familie argumentieren meist, dass Kinder stabile Verhältnisse, klare Rollenvorbilder und die sich ergänzenden Elemente aus Weiblichkeit und Männlichkeit brauchen, um zu gesunden Erwachsenen heranzureifen. Defizitär sind folglich alle Familienmodelle, die sich nicht am Vater-Mutter-Kind(er)-Schema orientieren: Scheidungen, Trennungen oder unverheiratete Eltern gefährden die Stabilität für das Kind. Auch Krippenbetreuung ist potentiell destabilisierend, weil sie das Kind seinen Eltern entfremdet. Kindern von alleinerziehenden Eltern fehlt beim Aufwachsen das männliche oder das weibliche Element. Das gilt natürlich auch (oder erst recht?) für Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen. Auch Patchworkfamilien finden in der Regel keine begeisterte Zustimmung in konservativeren Kreisen. Obwohl sie in den meisten Fällen wenigstens mit Vater und Mutter aufwarten können, sind die Verhältnisse doch nicht intakt, weil wenigstens ein Elternpaar und vielleicht auch noch (neue) Geschwister keine biologische Verbindung zu dem Kind haben.
Gerne wird übersehen: In den vielen Jahrhunderten vor unserer Zeit waren traditionelle Familien meist durch die äußeren Umstände gar nicht möglich. Beide Eltern mussten arbeiten – die Kinder wurden von irgendwelchen Verwandten mitbetreut, wenn sie nicht gar mitarbeiten mussten. Jeder, der irgendwie zur Verfügung stand, beteiligte sich an der Erziehung: nicht nur der Großvater und die Tante, sondern oft auch der Nachbar. Die Großfamilie war in den ländlichen Strukturen angesagt – und die ähnelte viel mehr den Patchworkfamilien von heute als den traditionellen Familien, die sich manche erträumen.
Hinzu kamen natürlich noch die mannigfachen Veränderungen in Familienstrukturen, die durch die erheblich höhere Sterblichkeit hervorgebracht wurden: Väter blieben im Krieg zurück und die Mütter mussten alleine die Erziehung übernehmen oder verheirateten sich neu. Mütter starben im Kindbett und die Kinder wurden dann vom Vater aufgezogen und vom unverheirateten Onkel, der noch auf dem Hof mithalf. Eltern fielen einer Cholera-Epidemie zum Opfer und ihre Kleinkinder wurden in die Obhut der frommen Nonnen vor Ort gegeben, wenn sich nicht eine große Schwester ihrer annehmen konnte. Stabile Verhältnisse im Sinne der Verteidiger der traditionellen Familie? Fehlanzeige! Wenn deren Annahmen stimmten, müssten in den vielen Jahrhunderten lauter seelische Wracks produziert worden sein. In dieser Welt völlig ungeordneter, geradezu chaotischer Familien- und Beziehungsverhältnisse konnten junge Menschen doch gar keine passenden Rollenvorbilder finden. Von Stabilität ganz zu schweigen.
Dieses Durcheinander war sicherlich oft mit sehr schmerzhaften Erfahrungen der Kinder verbunden, insbesondere wenn es durch den Tod von Eltern bedingt war. Dennoch ist offensichtlich, dass viele der jungen Menschen, die in solch chaotischen Verhältnissen aufwuchsen, auch gestärkt daraus hervorgingen. Es ist doch bezeichnend, dass die Leute, die für die wohlbehütete, idyllische klassische Familie werben, oft dieselben sind, die sich auch beschweren, dass Kinder heutzutage nicht mehr gefordert würden. Früher seien die jungen Menschen doch noch viel selbständigere und verantwortungsbewusstere Persönlichkeiten gewesen. Ja, aber der Preis dafür war eben oft auch sehr hoch! Sich auf neue Situationen einzustellen, Herausforderungen anzunehmen und daran zu wachsen, sind jene Erfahrungen im Leben eines jungen Menschen, die ihn zu einem selbstverantwortlichen Erwachsenen heranreifen lassen. Ein Übermaß an Stabilität kann dieser Entwicklung mithin gar im Wege stehen.
„Die ideale Familie konstituiert sich nicht durch die äußere Form, sondern durch die Werte, die in ihr gelebt werden“
Die allerlängste Zeit in der Geschichte der Menschheit war die sogenannte klassische Familie nicht die übliche Form des Zusammenlebens. Sie ist es heute noch in vielen Kulturräumen nicht. Die Vater-Mutter-Kind(er)-Familie, an der sich Konservative und Linke so gerne abarbeiten, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Zwei Faktoren haben zu ihrer Entstehung beigetragen: der rasant wachsende Wohlstand, der es immer mehr Menschen ermöglichte, zunächst auf die Kinderarbeit und dann auch noch auf die Erwerbsarbeit der Frau zu verzichten. Verbunden mit der zunehmenden Urbanisierung und der industrialisierten Landwirtschaft bestand auch nicht mehr die Notwendigkeit, jeden Tag von früh bis spät zu arbeiten. In dieser Situation wurde es überhaupt erst möglich, dass sich die Mutter (und nicht die Großmutter, der Bruder, die Nachbarin oder überhaupt gar niemand) intensiv mit den Kindern beschäftigen konnte.
Die Mutter, die für ihre Kinder zuhause bleibt und sich ihnen intensiv widmet, ist weniger Naturzustand als Luxus. (Selbstverständlich für alle Beteiligten oft genug ein sehr erfreulicher Luxus!) Wir Menschen haben als Vernunftwesen die Eigenart, unser Verhalten stets begründen zu wollen: durch Erzählungen, Bilder und Theorien. Die neu entstandenen Möglichkeiten, Familienleben zu gestalten, suchten nach einem erklärenden Überbau. Und der fand sich in den bestehenden Bildern – das dominanteste unter ihnen: das christliche Ehekonzept. Mann und Frau gehen eine lebenslange Bindung ein, um Kinder in die Welt zu setzen.
Das rechte Verhalten ist entscheidend
Zweifellos ein funktionstüchtiges Konzept. Allerdings hat es in den bürgerlichen Vorstellungswelten des 19. Jahrhunderts seinen realistischen Charakter verloren und ist zu einem Ideal geworden. Die Idylle, die uns aus vielen Gemälden jener Zeit geradezu entgegen schreit, hat sich auch hier als fixe Vorstellung durchgesetzt. Wer sich hingegen mit älteren Texten der christlichen Spiritualität beschäftigt, wird merken, dass deren Autoren sich sehr bewusst waren, worauf es in der christlichen Ehe vor allem ankommt: nicht auf die äußere Form, sondern auf das rechte Verhalten aller Individuen. Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für möglichst hohe Instabilität in Familienverhältnissen. Das Modell Vater-Mutter-Kind(er) ist oft für alle Beteiligten beglückend und eine hervorragende Grundlage für eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Aber es ist eben nicht das einzig mögliche Modell.
Menschen haben zu allen Zeiten in den unterschiedlichsten Variationen ihr Miteinander gestaltet oder auch gestalten müssen. Entscheidend für eine positive Entwicklung der Kinder war dabei aber niemals die möglichst passgenaue Übereinstimmung mit einem Standard-Modell. Entscheidend war immer das individuelle Verhalten aller Beteiligten. Die ideale Familie konstituiert sich nicht durch die äußere Form, sondern durch die Werte, die in ihr gelebt werden: Verlässlichkeit, Treue, Respekt, den anderen ernst nehmen, Ehrlichkeit und natürlich und vor allem liebevolles Miteinander. Diese Werte schaffen jenes stabile Umfeld des Vertrauens, das das Erwachsenwerden erleichtert. Individuell gelebte Tugenden – nicht vorgestanzte Schemata. Und diese Tugenden kann man in der klassischen Familie ebenso gut lernen und leben wie in anderen Formen des Zusammenlebens.
Es ist dasselbe Spiel wie so oft: Die konservativen Sozialingenieure wollen mit Gewalt eine alte Welt bewahren (die ohnehin nie außerhalb ihrer Köpfe existiert hat), ihre Zwillingsbrüder auf der linken Seite wollen die schöne neue Welt erschaffen. Und der Freiheitsliebende steht außerhalb und wundert sich, weil es für ihn nur die unendliche Vielfalt der Entscheidungen vieler Individuen gibt. Er weiß: Die Familie lebt und hat Zukunft, gerade weil sie in unendlicher Vielfalt gelebt wird.