21.03.2018

Zombieland Europa

Von Alexander Horn

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Foto: Counselling via Pixabay

Die Eurozone, auch Deutschland, verwandelt sich zunehmend in eine Zombiewirtschaft, in der nicht profitable Unternehmen künstlich am Leben gehalten werden.

Es mehren sich die Stimmen derer, die vor der Gefahr einer entstehenden Zombieökonomie in Europa warnen. Tatsächlich ist die Eurozone längst zu einer Zombiezone mutiert und die scheinbar über jeden Zweifel erhabene deutsche Wirtschaft steckt mittendrin. Staatliche Nachfrage- und Stabilisierungspolitik sowie die EZB-Niedrigzinspolitik vereiteln schon lange die notwendige Restrukturierung der Wirtschaft. Die so über Wasser gehaltenen Zombies schwächen auch die produktiveren und profitableren Unternehmen. Die Investitionen leiden, die Produktivität stagniert und das ganze Gefüge wird nicht etwa unabhängiger, sondern zunehmend abhängiger von Stimulanzien wie den niedrigen Zinsen.

Da die europäische Politik das resultierende Problem des stagnierenden Wohlstands ignoriert, wird weitergewurstelt. Die geldpolitische Wende der EZB wird daher noch auf sich warten lassen. Wenn sie kommt, wird sie sehr moderat ausfallen, denn die fundamentalen wirtschaftlichen Probleme der Eurozone sind alles andere als gelöst. Ganz im Gegenteil: Die europäische Stabilisierungspolitik hat die Probleme nur in die Zukunft verschoben und dabei noch größere Hürden für deren Bewältigung aufgetürmt.

Zinsen und Schulden

Wie groß diese Hürden sind, lässt sich daran erkennen, dass steigende Zinsen ein bedeutendes Risiko für die Stabilität der Eurozone darstellen. Die Staaten der Eurozone sind inzwischen mit durchschnittlich 90 Prozent des Bruttoninlandsprodukts (BIP) hochverschuldet. Ein nur moderater Zinsanstieg könnte bei dieser hohen Schuldenlast, wie bereits im Zuge der Eurokrise, bei einigen Ländern die langfristige Schuldentragfähigkeit in Frage stellen. Wie real diese Bedrohung ist, zeigen die völlig aus dem Ruder gelaufenen Haushalte der Euroländer. Obwohl sie mit Zinseinsparungen von mehr als einer Billion Euro zwar erheblich von der Niedrigzinspolitik profitiert haben, sind ihre Staatsschulden seit der Finanzkrise von sechs auf inzwischen zehn Billionen Euro in die Höhe geschossen.

„Trotz des wirtschaftlichen Einbruchs, den die Finanzkrise ausgelöst hatte, wurde kaum eine wirtschaftliche Bereinigung zugelassen.“

Deutschland alleine hat in der Zeit von 2009 bis 2016 beeindruckende 240 Milliarden Euro an Zinsen eingespart und so die schwarze Null gehalten. Der realen Gefahr einer daraus resultierenden Belastungsprobe für den Euro möchte die deutsche Politik nun zügig vorbeugen. In den Sondierungsgesprächen und im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD wurde der Ausbau der gemeinsamen Haftung über einen europäischen Währungsfonds bereits vereinbart. „Wir müssen die Eurozone mit einer Banken- und Kapitalmarktunion ergänzen und uns auf künftige Krisen vorbereiten“, begründete Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos die eingeschlagene Richtung. Damit bekräftigte sie die Absicht, einer Kriseneskalation aufgrund steigender Zinsen die Grundlage zu entziehen.

Für die Wirtschaft der Eurozone stellen steigende Zinsen eine wohl noch erheblichere Belastung dar als für die Staaten, denn unter Mithilfe der EZB hat sie sich schleichend in eine Zombieökonomie verwandelt. Trotz des wirtschaftlichen Einbruchs, den die Finanzkrise ausgelöst hatte, wurde kaum eine wirtschaftliche Bereinigung zugelassen. Strauchelnde Banken wurden mit hunderten Milliarden gestützt und die Unternehmen anschließend mit niedrigen Zinsen aufgepäppelt. Die sinkenden Zinsen und der politische Druck zur Ausweitung der Kredite halten immer mehr unprofitable Unternehmen über Wasser. Diese Zombieunternehmen können oft nicht mehr die Finanzkraft aufbringen, um sich durch Investitionen aus dieser betriebswirtschaftlich ausweglosen Lage zu befreien. Dadurch werden sie immer abhängiger von Krücken wie den niedrigen Zinsen, um den Kollaps zu vermeiden. Hilfreich sind dabei sogar die vielen, mit faulen Krediten vollgesogenen und ebenfalls zombifizierten Banken. Sie müssen unbedingt vermeiden, weitere Kredite als ausfallgefährdet einzustufen. Daher sind sie bei vom Untergang bedrohten Unternehmenskunden eher geneigt, dringend benötigte Kreditlinien zu erweitern. So lässt sich die Insolvenz des kreditabhängigen Unternehmens und vielleicht auch der eigene Bankrott zumindest vorläufig vermeiden. Von dieser Problematik sind vor allem die südeuropäischen Länder stark betroffen, denn hier schlummern die meisten der in den letzten zehn Jahren aufgelaufenen faulen Kredite von etwa einer Billion Euro.

Zombifizierung

Für Deutschland hat die Bundesbank kürzlich Entwarnung gegeben. Zwar gebe es auch in Deutschland Zombieunternehmen, doch deren Bedeutung sei hinsichtlich Anzahl, Umsatz und Sachanlagen gering. Zudem habe „ihr Gewicht im Niedrigzinsumfeld nicht zugenommen.“ Dieser positive Befund, so die Bundesbank, stehe auch in Einklang damit, dass sich die Unternehmen in Deutschland „seit mehreren Jahren in überwiegend guter Verfassung“ befinden. Hierzulande sei also nicht eingetreten, was neueste empirische Forschungen nahelegen. Diese weisen darauf hin, wie die Bundesbank selbst bemerkt, dass das „in einigen entwickelten Volkswirtschaften rückläufige Produktivitätswachstum der vergangenen Dekaden mit dem Anstieg der Zahl von Zombie-Unternehmen zusammenhängt.“

„Seit Jahrzehnten ist rückläufiges Wirtschafts- und Produktivitätswachstum Wesensmerkmal der deutschen Wirtschaft.“

Die Bundesbank stützt ihre Einschätzung, dass die deutsche Wirtschaft nicht zombifiziert sei, auf die relativ geringe Anzahl der so klassifizierenden Unternehmen. Lediglich 2,2 bis 4,7 Prozent der untersuchten nichtfinanziellen Unternehmen fielen 2015 in dieses Raster. In Anlehnung an die Vorgehensweise in der wissenschaftlichen Literatur wurden dabei solche Unternehmen als Zombie eingestuft, die drei Jahre in Folge die Zinsaufwendungen nicht durch das Betriebs- und Beteiligungsergebnis decken konnten. Der Bodensatz an Unternehmen, die trotz der extrem förderlichen Bedingungen, die die niedrigen Zinsen geschaffen haben, um das Überleben kämpfen, ist jedoch möglicherweise wesentlich größer. Eine Untersuchung der Wirtschaftsauskunftei Creditreform kam zu dem Ergebnis, dass sogar 15,4 Prozent der deutschen Unternehmen in diese Zombiekategorie fallen könnten.

Die Bewertung der Bundesbank ist unausgewogen und wirkt widersprüchlich. Aus der geringen Anzahl der als Zombies klassifizierten Unternehmen schließt sie auf deren unbedeutende gesamtwirtschaftliche Wirkung. Daher, so die Bundesbank „dürften von Zombieunternehmen aktuell keine spürbar dämpfenden Effekte auf das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum in Deutschland ausgehen.“ Dabei übersehen die Notenbanker aber, dass auch die deutsche Wirtschaft die typischen Merkmale einer Zombieökonomie aufweist. So ist seit Jahrzehnten rückläufiges Wirtschafts- und Produktivitätswachstum eines ihrer Wesensmerkmale. Von durchschnittlich über 8 Prozent in den 1950er Jahren ist das jährliche Wirtschaftswachstum kontinuierlich auf weniger als 1,5 Prozent in diesem Jahrhundert zurückgegangen. Spiegelbildlich hat sich die Steigerung der Arbeitsproduktivität je Beschäftigtenstunde entwickelt. Von über 5 Prozent noch Anfang der 1970er-Jahre ist sie zunächst auf 1,9 Prozent zwischen 1995 und 2005 abgesackt. In den darauffolgenden zehn Jahren ist sie sogar auf nur 0,8 Prozent gesunken, um sich von 2015 bis 2017 auf ein Prozent jährlich leicht zu erholen.

Diese wirtschaftlichen Phänomene, die mit einer Zombifizierung der Wirtschaft einhergehen, stehen jedoch nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Unternehmen in Deutschland in überwiegend guter Verfassung sind. Die Zombifizierung wird durch mächtige Hebel vorangetrieben, die darauf ausgerichtet sind, sogar die schwächsten und unprofitabelsten Unternehmen vor dem Untergang zu retten. Dies schwächt die profitableren Unternehmen zwar langfristig, kann ihnen aber dennoch ein sogar exzellentes Geschäftsumfeld bieten, von dem sie weit besser als die vom Untergang bedrohten Unternehmen profitieren können. Zombifizierung und sprudelnde Unternehmensgewinne schließen sich daher nicht grundsätzlich aus, sondern bilden in Deutschland die zwei Seiten der Zombifizierung.

Strategie: Durchwursteln

Die im Durchschnitt sehr gute wirtschaftliche Lage der deutschen Unternehmen resultiert zu einem erheblichen Maß aus der Niedrigzinspolitik der EZB, die die deutsche Wirtschaft in besonderer Weise begünstigt. Die Unternehmen profitieren über die verbesserten Finanzierungsbedingungen und den nachfragetreibenden Verschuldungsanstieg hinaus von einer zusätzlichen Stimulierung der Nachfrage vom niedrigen Eurokurs, der noch zusätzlich durch die wirtschaftliche Krise vieler Euroländer geschwächt wurde. Seit seinem Höchststand Anfang 2008 hat der Euro erst langsam, ab Anfang 2015 dann beschleunigt bis Mitte 2017 einen sehr deutlichen Wertverlust von etwa 30 Prozent gegenüber dem US-Dollar erlitten. Diese Abwertung beflügelt die von einem traditionell hohen Exportanteil geprägte deutsche Wirtschaft, die noch dazu zwei Drittel des Gesamtvolumens in Länder außerhalb der Eurozone exportiert. Deutschland hat damit innerhalb der Eurozone eine Ausnahmestellung, denn die meisten anderen Euroländer exportieren vergleichsweise wenig in Länder außerhalb der Eurozone. Typisch hierfür ist Frankreich, das nur etwa ein Drittel seiner Ausfuhren außerhalb der Eurozone verkauft. So bestreitet die deutsche Wirtschaft alleine inzwischen 44 Prozent des gesamten Warenexports der Eurozone.

„Die Wirtschaft wächst relativ kraftlos, denn es gelingt kaum, die notwendigen Investitionen zu stemmen.“

Ein weiterer mächtiger Hebel, der die Nachfrage stimuliert und dadurch eine fundamentale wirtschaftliche Schwäche kompensiert, ist der enorme deutsche Kapitalexport. Kapital im Umfang von bald einem Zehntel des deutschen BIP, immerhin also etwa 250 Milliarden Euro jährlich, findet hierzulande keine attraktive Anlage- oder Investitionsmöglichkeit und fließt in die internationalen Kapitalmärkte. Für die Eurozone hat dieser Kapitalexport wie auch das auf inzwischen 900 Milliarden Euro gestiegene Target2-Saldo Deutschlands einen enormen Stabilisierungseffekt. Durch dieses gepumpte Geld bleibt das Leistungsbilanzdefizit, das die anderen Euroländer aufgrund der negativen Handelsbilanz gegenüber Deutschland einfahren, dauerhaft finanzierbar. Die Eurozone bleibt so aufnahmefähig für die deutschen Warenexporte und die deutsche Wirtschaft erhält einen weiteren kräftigen Stimulus.

Die von der Zinspolitik und den Kapitalmärkten ausgehende künstliche Stimulierung hat die deutsche Wirtschaft in den inzwischen am längsten anhaltenden Aufschwung seit dem Wirtschaftswunder geführt. Der wichtige Ifo-Geschäftsklimaindex erklimmt fast monatlich neue historische Höchstwerte und vor allem die Industrie berichtet über eine bessere Geschäftslage als jemals zuvor. Die Gewinne der DAX-Unternehmen explodieren seit Jahren. Dies treibt die Dividendenausschüttungen von einem Rekord zum nächsten. Obendrein haben vor allem die mittelständischen Unternehmen ihre Abhängigkeit vom Kapitalmarkt deutlich reduziert und die Eigenkapitalquoten stark verbessert.

Trotz dieser glänzenden Entwicklung hat sich aus dem wirtschaftlichen Aufschwung auch in Deutschland noch keine selbsttragende Dynamik entfaltet. Obwohl die Produktionskapazitäten schon seit längerer Zeit sehr gut ausgelastet sind, haben die Ausrüstungs- und Gebäudeinvestitionen der Wirtschaft erst im letzten Jahr erstmals seit der Finanzkrise einen spürbaren Wachstumsbeitrag geleistet. So wächst die Wirtschaft relativ kraftlos, denn es gelingt kaum, die Investitionen zu stemmen, die zur Überwindung der auch in Deutschland insgesamt schwachen Produktivitätsentwicklung notwendig wären. Die hohen Gewinne sehr vieler deutscher Unternehmen erklären sich teilweise sogar aus deren mageren Investitionen. Die staatlich angetriebene wirtschaftliche Stimulierung über die Finanzmärkte sorgt so in der gewerblichen Wirtschaft und in der Industrie in Deutschland für sprudelnde Gewinne, die kerngesunde Unternehmen suggerieren. Der finanzwirtschaftliche Stimulus erzeugt jedoch keine investitionsgetriebene Eigendynamik und schwächt die produktive Basis immer mehr.

„Eine zügige Zinswende der EZB könnte eine dringend notwendige Marktbereinigung auslösen.“

In der Eurozone wie auch in Deutschland hat die Zombifizierung ein Marktumfeld geschaffen, das es produktiveren und profitablen Unternehmen sehr schwer macht, sich durch die mit hohen Risiken verbundenen Investitionen gegenüber den schwächeren Unternehmen durchzusetzen. Weder gelingt es den dynamischeren Unternehmen oder Start-ups, die Wettbewerber durch die Einführung bahnbrechender innovativer Prozesse und Produkte ins wirtschaftliche Abseits zu drängen, noch lassen die Staaten die Bereinigung durch wirtschaftliche Krisen zu. Dies zeigt sich bereits seit dem Finanzmarkt-Crash 1987 an der Geldpolitik der Zentralbanken, die aufkommende Krisen recht erfolgreich sofort mit billigem Geld ersticken. So „wurden die erforderlichen volkswirtschaftlichen Anpassungen durch immer niedrigere Zinsen, mehr Liquidität und immer höhere öffentliche Schulden verhindert“, schreiben der Ökonom Joachim Starbatty und der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark. Zudem neigen alle europäischen Regierungen stark dazu, strauchelnde Unternehmen sowie ganze Branchen zu retten und Marktbereinigungen aufzuhalten.

Wie der britische Ökonom und Publizist Phil Mullan in seinem Buch „Creative Destruction“ erklärt, hat sich in den entwickelten Volkswirtschaften ein „konservierender Staat“ herausgebildet, der wirtschaftliche Krisen zu vermeiden sucht, indem er immer neue Strategien des wirtschaftlichen Durchwurstelns entwickelt, dabei aber den Bereinigungseffekt von Wirtschaftskrisen aushebelt. Der Effekt dieser staatlichen Agenda zeigt die von Creditreform seit 1999 für Deutschland geführte Insolvenzstatistik. Seit dem Abklingen der „Dotcom“-Krise 2003/2004 geht die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen kontinuierlich zurück. Selbst die Finanzkrise 2009 hat nur einen vergleichsweise unbedeutenden Anstieg der Insolvenzen bewirkt. Die mitgeschleppten Zombieunternehmen stehen aufgrund ihrer fehlenden Wirtschaftlichkeit mit dem Rücken an der Wand und sind typischerweise harte Wettbewerber für die profitableren Unternehmen. Der Wettbewerbsvorteil der besser aufgestellten und in der Regel produktiveren Unternehmen reicht jedoch oft nicht aus, um diese Unternehmen vollständig aus dem Markt zu drängen. Das hohe Risiko, mit oft massiven Investitionen in neue Technologien den notwendigen Wettbewerbsvorteil zu generieren, um die schwächeren Unternehmen in die Knie zu zwingen, scheuen viele Unternehmen, denn auch so lässt sich gegenwärtig schließlich gutes Geld verdienen.

Eine zügige Zinswende der EZB würde der entstandenen Zombieökonomie ein wichtiges Standbein entziehen und könnte eine dringend notwendige Marktbereinigung auslösen. Da dies nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch in der Politik und in den Staaten viele Verlierer produzieren würde, ist kaum mit einer grundlegenden Änderung der geld- und wirtschaftspolitischen Richtung des Durchwurstelns zu rechnen. Desto länger aber die notwendige Bereinigung der unproduktiven Strukturen aufgeschoben wird, umso länger werden Produktivitätssteigerungen und Wohlstandswachstum aufgehalten und umso schwieriger wird es sein, eine immer weiter aufgeschobene Bereinigung zu kontrollieren.

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