21.09.2018

Zehn Jahre nach dem Crash

Von Phil Mullan

Titelbild

Foto: kloniwotski (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Ein Jahrzehnt nach Ausbruch der Finanzkrise könnte nun endlich die Zeit reif sein für eine Debatte über deren eigentlichen Ursachen.

Die aufschlussreichste der aktuellen Beobachtungen über die „schlimmste Finanzkrise der Weltgeschichte“ (um Ben Bernanke zu zitieren, der zum Zeitpunkt des Crashs 2008 Präsident der US-Notenbank war) ist, dass ihre Ursachen nach wie vor als ungeklärt gelten. Es stimmt, dass vor zehn Jahren der Finanzcrash zu einer Rezession geführt hat, aber er ist nicht für die grundlegende Schwäche der Realwirtschaft verantwortlich. Das verlangsamte Produktivitätswachstum in den reifen Volkswirtschaften lässt sich bis in die frühen 1970er Jahre zurückverfolgen. Durch diesen Verfall bei der Produktion breitete sich die Fäulnis allmählich, ungleichmäßig, aber unentwegt aus. Der Finanzcrash war nur eine der heftigsten Ausprägungen dieses Verfalls.

Trotz des Schocks im Jahr 2008 fällt auf, wie wenig sich die wirtschaftliche Situation seitdem verändert hat. Die heutige Koexistenz von Rekordpreisen für Finanzanlagen wie Aktien und Anleihen einerseits mit kaum wahrnehmbarem Produktivitäts- und Lohnwachstum andererseits sagt alles aus, was man über unsere wirtschaftlichen Perspektiven wissen muss. Hinter dem finanziellen Aufschwung verbirgt sich die gleiche stagnierende Wirtschaft. Und wir wissen, wie sich dieses Missverhältnis beim letzten Mal entwickelt hat.

Da kein Zeichen von Veränderung in Sicht ist, handelt es sich bisher um eine Krise des ökonomischen Status-quo. Die Geldschwemme, die das Ausmaß der langen Depression in den 1990er und frühen 2000er Jahren verschleiert hat, bleibt bestehen. Gleiches gilt für die anhaltende Verlangsamung der Kapitalinvestitionen, die die wirtschaftliche Atrophie kennzeichnet. Und wie vor 2008 bleiben die Zentralbanken die wichtigste institutionelle Säule des Kapitalismus. Diese staatlichen Banken unterstützen ihre Volkswirtschaften weiterhin mit riesigen Mengen an zusätzlicher Liquidität. Das haben wir alle nach 2008 als „Quantitative Lockerung" (QE) kennengelernt. Der Kauf von 10 Billionen Dollar an Anleihen kam einer breiten Spanne an Vermögenswerten zugute, aber er hat nicht zur Wiederbelebung der wirtschaftlichen Dynamik beigetragen.

„Die Krise von 2008 war im Wesentlichen eine riesige Schuldenblase, die geplatzt ist.“

Obwohl die US-Notenbank begonnen hat, die Leitzinsen allmählich zu erhöhen – vor allem, damit sie sie bei der nächsten Rezession wieder etwas reduzieren kann –, wurde wenig getan, um die QE umzukehren, nicht einmal in den USA. Die Zurückhaltung der großen Zentralbanken bei der Straffung der Geldpolitik resultiert aus ihrer Befürchtung, dass die Aufhebung ihrer Notfallmaßnahmen, mit denen sie die Preise an den Finanzmärkten ankurbeln konnten, den gegenteiligen Effekt herbeiführen könnte. Und sie befürchten, dass dieses Finanzereignis, wie beim letzten Mal, der Auslöser für eine weitere Rezession sein könnte.

Ablauf der Krise

Die Krise von 2008 war im Wesentlichen eine riesige Schuldenblase, die geplatzt ist. Ohne ein dauerhaftes Produktivitätswachstum waren die westlichen Volkswirtschaften seit den 1980er Jahren zunehmend auf die Ausweitung aller Arten von Verschuldung angewiesen. Die meisten Regierungen und viele Unternehmen nahmen Kredite auf. Insbesondere in den 1990er und frühen 2000er Jahren haben sich die Haushalte verschuldet, um ihr Ausgabenniveau halten zu können, als die Reallöhne vieler ziemlich niedrig ausfielen. Den damaligen Schuldenberg überragten die Verbindlichkeiten zwischen Kreditinstituten, insbesondere in Großbritannien mit der Rolle Londons als größter Finanzplatz der Welt. All diese Schulden schufen das zerbrechliche Kartenhaus, das nur ein leichtes Zittern brauchte, um einzustürzen.

Die US-Notenbank initiierte dieses Zittern durch die Erhöhung der Leitzinsen. Sie begründete dies damit, die schuldengetriebene Wirtschaft abzubremsen, bevor sie überhitzt wurde. Bis Mitte 2006 lagen die US-Raten bei 5,25 Prozent. Die steigenden Hypothekenkosten führten zu einem Rückgang der US-Immobilienpreise. Die Häuser funktionierten dann nicht nur als Wohnhäuser, sondern auch als kreditgestützte Geldanlagen.

„Die Folgen breiteten sich schnell über die USA hinaus aus, da nicht-amerikanische Institutionen etwa ein Viertel der US-Hypotheken besaßen“

Die Zahl kleinerer Hypothekenemittenten in Amerika ging als erstes zurück. Im April 2007 fiel New Century Financial. Diese Firma hatte sich auf Subprime-Hypothekarkredite an ärmere Haushalte und in wirtschaftlich benachteiligten Gebiete spezialisiert, wo Kreditnehmer in größere Probleme gerieten, ihre laufenden Zahlungen beibehalten zu können, als die Zinsen nach oben tendierten. Das Subprime-Debakel traf auch Finanzunternehmen, die stark in Wertpapiere auf Basis von Hypotheken investiert hatten. Diese waren wenig überraschend als „mortgage-backed securities" bekannt (hypothekarisch gesicherte Wertschriften), kurz MBSs – ein Akronym, an das sich erinnert, wer ein paar Filme über den Crash gesehen hat.

Mit zunehmenden finanziellen Verlusten wuchs die Sorge, wer diese Papiere wirklich besaß und ob sie stark genug waren, um den entstandenen Schaden zu überstehen. Die Folgen breiteten sich schnell über die USA hinaus aus, da nicht-amerikanische Institutionen etwa ein Viertel der US-Hypotheken besaßen. Am 9. August 2007 veröffentlichte die führende französische Bank BNP Paribas einen Weckruf, der in der westlichen Welt nachhallte. Sie fror drei ihrer Fonds mit der Begründung ein, dass das Verpuffen von Liquidität in Teilen des US-Verbriefungsmarktes es „unmöglich gemacht hatte, bestimmte Vermögenswerte zu bewerten“ – unabhängig von ihrer Qualität oder Bonität.

Ein Liquiditäts- und Finanzierungsstopp breitete sich schnell auf den internationalen Finanzmärkten aus. Verschuldete Institute, die sich stark auf kurzfristige Großhandelsfinanzierungen stützten, waren als nächste betroffen. Wenige Wochen später, im September 2007, sah sich die Bausparkasse Northern Rock mit dem ersten „Bank Run“ Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert konfrontiert, obwohl sie nur minimal mit US-Subprime-Hypotheken zu tun gehabt hatte. Ende 2007 und bis 2008 begannen andere Finanzunternehmen zusammenzubrechen und/oder mussten von ihren jeweiligen Regierungen gerettet werden. Andere bekannte Namen gingen unter, darunter im März 2008 eine der kleineren US-Investmentbanken, Bear Stearns. Wenige Monate später folgten die US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac, was am 15. September 2008 zum symbolischen Zusammenbruch von Lehman Brothers führte.

„Der Staat hatte sich nie aus der wirtschaftlichen Intervention zurückgezogen. Die öffentlichen Ausgaben sind kaum gesunken.“

Die Finanzkrise war in vollem Gange. Staaten, angeführt von den USA, sprangen ein, um Banken und andere in der Rezension hängende Unternehmen zu retten. Die Zentralbanken brachten Liquidität in die Märkte, um einen vollständigen finanziellen Zusammenbruch zu verhindern. Der Historiker Adam Tooze fasste in seinem Buch „Crashed“ treffend zusammen, dass der Finanzkrise mit einer „Mobilisierung staatlichen Handelns ohne Präzedenzfälle in der Geschichte des Kapitalismus“ begegnet wurde.

Die Legende von Aufstieg und Fall des Neoliberalismus

Die anschließende Erzählung von einer „Rückkehr des Staates“ nach Jahrzehnten des Neoliberalismus ist jedoch eine Fiktion. Als Tooze fortfuhr: „Vorbei sind die Zeiten, in denen es bei der Wirtschaftspolitik darum ging, den Staat zu schrumpfen, um die spontane Ordnung der Marktfreiheit freizusetzen“, erlag er der seit den Jahren Reagan und Thatcher geförderten Geschichte eines Triumphs des „freien Marktes". Der hat sich nie ereignet. Der Staat hatte sich nie aus der wirtschaftlichen Intervention zurückgezogen. Die öffentlichen Ausgaben sind kaum gesunken. Vielmehr hat sich die Regulierung der Märkte weiter fortgesetzt. Schon die berühmte „Deregulierung“ der Finanzdienstleistungen stellte eine aktive staatliche Politik zur Förderung der Finanzialisierung anstelle früherer produktiver Tätigkeiten dar.

Die Stärke und Beständigkeit dieser „neoliberalen“ marktwirtschaftlichen Erzählung kommt aus der Politik, nicht aus der Wirtschaft. Es ist eine Geschichte, die von einer seltsamen Allianz der alten Linken und der alten Rechten getragen wird. Die alte Linke propagierte sie als Erklärung für die politischen Niederlagen, die sie in den 1980er Jahren erlitten hatte, und für ihren immer geringeren Einfluss auf die Gesellschaft. Die alte Rechte hat die Geschichte des freien Marktes vorangetrieben, weil sie sich nur allzu gerne damit schmücken wollte, die Auseinandersetzung über ökonomische Fragen gewonnenen zu haben. Ja, einige echte neoliberale Enthusiasten im Sinne Hayeks wollten die Märkte „frei“ halten, aber nicht so sehr vom Staat als von der Politik – und vor allem vom Druck demokratischer Massenpolitik.

„Nur wenn die Wirtschaft politisiert wird, wenn sie Gegenstand öffentlicher Debatten und Anfechtungen ist, ist eine Transformation möglich.“

Auf Grund der antipolitischen Umstände, die dieses seltsame konservative Bündnis hervorgebracht haben, wurden die eigentlichen Krisenursachen nach ihrem Ausbruch nicht benannt. Trotz der damals herrschenden großen Ängste und Turbulenzen ist seit dem Crash vor allem eines auffällig: das Fehlen von Veränderung. Die Krise bleibt eine Krise des Stauts Quo. Selbst auf geopolitischer Ebene hat eine meist pragmatische und konservative Koalition nationaler Regierungen bisher eine ernsthafte internationale Unordnung verhindert.

In der Vergangenheit waren schwere Wirtschaftskrisen oft Anlass, das vorherrschende Wirtschaftsdenken in Frage zu stellen. Dies geschah in den 1930er und wieder in den 1970er Jahren. Erstere brachten die Diskreditierung der „neoklassischen" Idee einer sich selbst ausgleichenden Wirtschaft mit sich. Letztere untergruben den Glauben an die pseudo-keynesianische Vorstellung, dass Staaten wirtschaftliche Rezessionen durch Ausgabensteigerungen überwinden können. Positiv formuliert können Krisen manchmal ein intellektuelles Klima für neue und andere Ansätze schaffen. Frühe Vorhersagen, dass 2008 das Ende einer Ära bedeutete und ein solches Ereignis auslösen würde, waren allerdings stark übertrieben. In den letzten zehn Jahren haben wir wenig an neuem wirtschaftlichem Denken – oder überhaupt an neuen Ideen – kennenlernen dürfen.

Es gibt immer Alternativen

Denn Finanz- oder Wirtschaftskrisen ändern nie etwas von selbst. Nur wenn die Wirtschaft politisiert wird, wenn sie Gegenstand öffentlicher Debatten und Anfechtungen ist, ist eine Transformation möglich – aber selbst dann ist eine Veränderung keineswegs unvermeidlich. Der gegenwärtige Mangel an Veränderung führt eine bemerkenswerte Leistung der westlichen Regierungskreise vor Augen, die nämlich seit den 1980er Jahren die Politik aus dem Wirtschaftsleben rausgehalten haben.

„Der gegenwärtige populistische Moment ist es ein gutes Zeichen, dass Menschen nicht bereit sind, den Status Quo einfach hinzunehmen.“

Dies spiegelt sich im Mantra von der Alternativlosigkeit TINA (There Is No Alternative) wider, das vom angestammten politischen Spektrum weitgehend übernommen worden ist. Es drückt sich in einer ängstlichen Risikokultur aus und bringt mit sich, dass Initiativen zur Veränderung entmutigt werden. Veränderung ist gefährlich. Lieber sich an die Gegenwart und die bekannten Wege halten. Bislang war der daraus resultierende durchwachsene Policy-Mix seit Anfang der 1990er Jahre relativ erfolgreich und widerstandsfähig – abgesehen von der Unterbrechung durch den Crashs 2008.

Man hat uns nicht nur gesagt, dass wir das Marktsystem hinnehmen sollen, TINA sickert auch in viele andere Bereiche unseres Lebens. In Großbritannien, zum Beispiel, sehen wir, wie etwa über den Chequers-Plan, der die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU regeln soll, diskutiert wird. Die Anhänger dieser Vorschläge müssten, wenn sie ehrlich sind, eingestehen, dass diese das Ergebnis der Brexit-Volksabstimmung missachten, aber sie nehmen dies schulterzuckend hin, da es dazu „keine Alternative“ gebe: „Ja, ihr habt abgestimmt, aber wir wissen, dass der Status quo am besten ist.“

Ein Jahrzehnt nach dem Crash liegt die größte Hoffnung im gegenwärtigen populistischen Moment, der sich in einem westlichen Land nach dem anderen ausbreitet. Unabhängig von den Vorzügen und Schwächen der jeweiligen Nutznießer in verschiedenen Ländern ist es ein gutes Zeichen, dass Menschen nicht bereit sind, den Status Quo einfach hinzunehmen. Sie wollen Veränderung. Möglicherweise können wir nun endlich auch damit beginnen, über die Lehren aus den Umständen des Zusammenbruchs von Lehman Brothers zu debattieren.

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