21.09.2011
Finanzmarktkrise: Die Politik treibt die Finanzmärkte vor sich her!
Von Alexander Horn
Außer Rand und Band geratene Spekulanten sollen die Welt in die Misere getrieben haben. Doch viel verheerender ist, dass die Eliten keine Verantwortung übernehmen. Eine grundlegende Analyse der politischen und ökonomischen Ursachen der Finanzkrise von Alexander Horn
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Seit nunmehr knapp vier Jahren gärt in den westlichen Gesellschaften eine Finanzkrise, die einer Lösung weiter entrückt ist denn je. Im Rückspiegel erscheint das ganze Krisenmanagement der vergangenen Jahre wie ein riesiger Irrtum. Statt die Finanzmärkte zu beherrschen, sind sie völlig aus den Fugen geraten, und ein Alptraum bedroht die wirtschaftliche Basis der westlichen Gesellschaften, die Staaten selbst und unseren Wohlstand. Demokratische Prozesse werden durch Notstandsmaßnahmen ausgehebelt, und die politischen Eliten in den entwickelten Volkswirtschaften stehen aktuell der weiteren Verschärfung der Krise noch ratloser gegenüber als je zuvor. Die Krise ist längst keine Finanzmarktkrise mehr,, und es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass auch ihre Wurzeln nicht einfach aus falschen Weichenstellungen herrühren oder auf Fehler der letzten Jahre zurückzuführen sind. Die Krise zieht das gesamte Gesellschaftssystem in ihren Bann und bedarf daher einer tieferen Analyse ihrer Ursachen, um die richtigen Schlüsse und Handlungsfelder ableiten zu können.
Wesentlich sind hierbei die folgenden Aspekte, die im Weiteren genauer unter die Lupe genommen werden: Indem die politischen Eliten selbst die Bedeutung und Macht der Finanzmärkte drastisch überbewerten, limitieren sie ihre eigenen Möglichkeiten, zielgerichtet einzugreifen. Die Mittel dazu sind vorhanden, werden aber nicht hinreichend eingesetzt. Sofern aber überhaupt Maßnahmen eingeleitet werden, konzentrieren sie sich ausschließlich auf die Form des Problems, nicht aber auf die Problemursachen. Dabei gilt das homöopathische Prinzip: Gleiches wird mit gleichem therapiert, also die Überdehnung des Kredits wird mit einer weiteren Ausweitung des Kredits behandelt. Die Krise weitet sich infolgedessen unkontrolliert aus. Während die Rolle der Finanzmärkte drastisch überschätzt wird, wird der politische und geistige Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse kaum wahrgenommen. Die Politik hat sich weitgehend auf das Moderieren gesellschaftlicher Prozesse zurückgezogen und meidet politische Verantwortung. Auch der konservative Umgang mit Risiken dominiert das politische Handeln und wirkt sich lähmend auf das gesamte Wirtschaftssystem aus, das in den westlichen Gesellschaften seit Jahrzehnten weitgehend stagniert. Diese Stagnation befeuert wiederum die Finanzmärkte, die ironischerweise in den letzten Jahrzehnten eine für die Wirtschaft stabilisierende Rolle gespielt haben.
Finanzmarkt-Fetisch
Entscheidend für das Verständnis der gegenwärtigen Krise ist es, dass man nicht den Fehler macht, die Finanzmärkte zu fetischisieren. Zwar liegt der unmittelbare Krisenauslöser in den Finanzmärkten, und somit standen diese mit einer gewissen Berechtigung von Anfang an im Zentrum der Diskussion. Leider hat die Diskussion ihren Horizont aber kaum über die sehr enge Betrachtung der Finanzmärkte ausgedehnt. Damit sind die Handlungsfelder zur Überwindung dieser Krise und zur Vermeidung künftiger weitgehend auf die Finanzmärkte beschränkt geblieben. Diese Fokussierung auf die Finanzmärkte hat sich mit Ausweitung der Krise sogar immer weiter verstärkt, da die Politik der Finanzkrise offenbar immer machtloser gegenübersteht.
So ist die Behauptung der Globalisierungskritiker, wonach die Staaten in Anbetracht globalisierter Konzerne und Märkte nicht mehr souverän agieren können, inzwischen zu einem allgemeinen Vorurteil gegenüber den Finanzmärkten geworden. Der Spiegel beispielsweise berichtete im August, dass die USA und Europa in der Vergangenheit vergeblich versucht hätten, dem „Monster Finanzmarkt Fesseln anzulegen“. [1] Die Finanzmärkte präsentierten aber ein systematisches Problem, weswegen es zwecklos sei, einzelne Maßnahmen zu ergreifen. Aufgrund der besonderen Macht der Finanzmärkte besteht die Handlungsfähigkeit also praktisch nicht. Diese Vorstellung scheint sich wegen der bislang nur sehr zögerlichen und weitgehend erfolglosen Regulierung der Finanzmärkte zu bestätigen.
Aber auch Vorstellungen, wonach es lediglich eines geeigneten Werkzeugkastens bedürfe, um die Finanzmärkte wieder in den Griff zu bekommen, fetischisieren die Finanzmärkte. Vor allem die zentrale Forderung einer umfassenden Finanzmarktregulierung an allen Fronten suggeriert, dass die alleinige Krisenursache in den Finanzmärkten beheimatet ist. So behauptete Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschafts-Instituts (HWWI) kürzlich in den ARD-Tagesthemen, es gebe eine „Eigendynamik, die heute das Zepter führt“. Diese sei zu durchbrechen, damit nicht mehr „die Märkte die Politik bestimmen“, sondern durch Regulierung das Verhältnis umgekehrt werde. [2]
Die Therapievorschläge der Spitzenpolitiker zur Behebung der transatlantischen Staatschuldenkrise folgen exakt der Auffassung, dass die Finanzmärkte das Problem sind und, wenn überhaupt, nur ein leidenschaftlicher Kampf sie in die Schranken verweisen könne. Schon im Mai 2010 rief der französische Staatspräsident Sarkozy in Anbetracht der ausufernden Staatschuldenkrise zur „Generalmobilmachung“ gegen die Märkte auf. Seitdem werden „Spekulanten“ und Ratingagenturen als Verursacher der Krise angesehen. Während die EU-Justizkommissarin als Regulierungsmaßnahme schlicht die „Zerschlagung“ der Ratingagenturen fordert, haben die USA als Reaktion auf die Herabstufung der Kreditwürdigkeit durch die Ratingagentur Standard & Poors juristische Schritte gegen S&P eingeleitet. [3]
Unterbewertung der Nationalstaaten
Die Position der Nationalstaaten wird im Verhältnis zur globalen Finanzwirtschaft als viel schwächer bewertet als sie tatsächlich ist. Seit der Weltwirtschaftskrise 1929 haben die Staaten ihre volkswirtschaftliche Bedeutung erheblich ausgeweitet. Die Staatsquoten – das Verhältnis zwischen der Summe aus Staathaushalt und Ausgaben der gesetzlichen Sozialsysteme im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt – sind seitdem in den entwickelten Volkswirtschaften auf durchschnittlich knapp 50 Prozent gewachsen. Die Nationalstaaten verfügen somit im Verhältnis zur Privatwirtschaft über erhebliche Ressourcen. Wie erfolgreich diese eingesetzt werden können, hat die deutsche Einheit gezeigt. Der Staat konnte enorme Ressourcen durch Sozialgesetzgebung, Steuergesetzgebung und eigene wirtschaftliche Aktivitäten etwa in Form von Infrastrukturinvestitionen in Gang setzen und das schwache Engagement der privaten Unternehmen kompensieren. Die nun in Deutschland beschlossene Energiewende zeigt zudem, welche Macht der Gesetzgeber besitzt. Gegen den harten Widerstand der großen Energieversorger sind Gesetze beschlossen worden, die eine erhebliche Kapitalvernichtung bewirken, die dominante Marktposition der Konzerne beschneiden und sogar deren Fortbestand bedrohen.
Auch die Eindämmung und Kontrolle der fast aus dem Ruder gelaufenen Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine deutliche Machtdemonstration der global sehr koordiniert vorgehenden Nationalstaaten. Die enorme internationale Kooperation zwischen den entwickelten Volkswirtschaften und den aufstrebenden Ländern, insbesondere den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), ist ein entscheidendes Merkmal der gegenwärtigen Ära. Trotz aller Spannungen und auch gegensätzlichen Interessenlagen überwiegt das gemeinsame Interesse, die wirtschaftliche Balance zu erhalten. China liegt viel daran, dass sein größter Handelspartner Europa nicht in einer andauernden Krise gefangen bleibt. Durch eine anhaltende Nachfrageschwäche könnte das exportgetriebene Wachstum der chinesischen Wirtschaft zurückgehen. So sagte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao bei seinem Besuch im Juni in Deutschland, dass China im Kampf gegen die Schuldenkrise weiter europäische Staatsanleihen kaufen werde. „Wenn Europa Schwierigkeiten hat, stecken wir die helfende Hand aus“. Im Gegenzug versicherte Merkel, dass sich Deutschland „um Solidarität und Solidität in der Eurozone“ kümmere. [4] Die chinesischen Finanzanlagen seien nach Merkels Aussage also nicht nur sicher angelegt, sondern Deutschland werde dafür sorgen, dass Europa nicht in eine wirtschaftliche Misere abgleitet und als wichtiger Handelspartner ausfällt. Die gleichen Interessenlagen bestimmen das chinesische Verhältnis zu den USA. Daher rühren einerseits die scharfen Reaktionen in der chinesischen Presse auf den amerikanischen Schuldenstreit, in denen die Sorge ausgedrückt wurde, ob die USA ihr Schuldenproblem wirklich lösen könnten. [5] Andererseits wurde aber auch die Bereitschaft signalisiert, weiter US-Anleihen und verstärkt Staatsanleihen der europäischen Krisenländer zu kaufen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat deutlich gemacht, dass die Nationalstaaten durchaus kooperativ handlungsfähig sind und über die entsprechenden Ressourcen verfügen, um nicht in den Mühlen des Finanzsystems zerrieben zu werden.
Ungeeignete Mittel im Giftschrank
Die Möglichkeiten der Regierungen stehen in einem krassen Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Rolle. Seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftkrise stolpert die Politik von einer Krise zur nächsten, ohne auch nur zu versuchen, der vermeintlichen Finanzmarkt-Hydra einen Kopf abzuschlagen. Es ist bemerkenswert, dass nach der durch Bankenrettungen, Konjunkturprogramme und Niedrigzinspolitik gelungenen Stabilisierung der Finanzmärkte keine Konzepte entwickelt wurden, die eine wirtschaftliche Perspektive eröffnen würden. Stattdessen wurde die Krankheit zur Medizin erklärt. Die in immer neue Höhen getriebene Ausweitung des Kredits, die eine Verseuchung des Kreditmarktes mit minderwertigen Krediten verursachte und so die Krise auslöste, wurde mit dem gleichen Mittel, nämlich einer erneuten Ausweitung des Kredits, bekämpft. Dazu gehört die Niedrigzinspolitik wie auch der zwischenzeitlich auf die Privatbanken ausgeübte Druck, das Kreditgeschäft weiter auszuweiten und die niedrigen Zinsen an Unternehmen und private Haushalte weiterzugeben. Verheerend haben sich diese Maßnahmen aber auf die Staaten selbst ausgewirkt. Indem sie die Kosten der Krise weitgehend übernommen und zudem mit sinkenden Steuereinnahmen zu kämpfen haben, sind die ohnehin hohen Staatschulden explodiert. Ironischerweise ist der Markt so erneut mit minderwertigen Krediten – dieses Mal Staatsanleihen – verseucht worden. Nun sind es nicht mehr vorrangig private Schuldner, sondern die Staaten selbst, die infolge ihrer Krisenpolitik zu zweitklassigen Schuldnern degeneriert sind.
Die bislang verfolge Taktik, durch ein erneutes Aufpumpen der Finanzmärkte die Kreditfähigkeit der zweitklassigen Schuldner wiederherzustellen und so den Abschreibungsbedarf auf minderwertige Kredite zu minimieren, ist gescheitert. Zu den zweitklassigen Schuldnern sind nun neue hinzugekommen. Darüber kann auch der Umstand nicht hinwegtäuschen, dass die Finanzinstitute aufgrund des boomenden Kreditgeschäfts erneut gut verdienten und dadurch wenigstens einen Teil ihrer Abschreibungen verdauen konnten. Das Bankensystem ist heute kaum stabiler als bei Ausbruch der Krise. Heute zeigt sich aber, dass mit dieser Taktik keine Zeit gewonnen wurde, sondern wertvolle Zeit verlorenging. Erneut geht nun das Gespenst von unkontrollierten Banken- und nun auch Staatspleiten um.
Die Taktik des Durchwurstelns wird durch die relative Ratlosigkeit der Wirtschaftswissenschaften zusätzlich befördert. Schon der ehemalige deutsche Finanzminister Steinbrück beklagte, dass die Ökonomen in Anbetracht der Krise kaum Handlungsempfehlungen bieten würden.[6] Die dennoch erteilten Handlungsempfehlungen, wie etwa die Vorgaben des renommierten US-Ökonomen Krugman, die auf eine Ausweitung des Kredits und der Staatsaktivität setzten, haben sich nun – da die westliche Welt diesen Vorstellungen weitgehend gefolgt ist – als nicht zielführend erwiesen. In Anbetracht der Tatsache, dass die westliche Welt, vielleicht aber sogar die Weltwirtschaft, in eine Rezession abzugleiten droht, macht sich allgemeine Ratlosigkeit breit. Das wirtschaftspolitische Fundament zum Umgang mit der Krise wankt, denn der traditionelle wirtschaftspolitische Werkzeugkasten bietet kaum mehr Eingriffsmöglichkeiten.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Politik von immer neuen Eskalationen der Krise überrascht wird und erst dann zu agieren scheint, wenn sich ein unmittelbarer Handlungszwang ergibt. Charakteristisch hierfür ist die Krisendynamik in der Eurozone. Der Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise traf die Politik im Frühjahr letzten Jahres völlig unvorbereitet. Das erste Rettungspaket für Griechenland wurde in wilder Panik zusammengeschustert. Grundprinzipien wie die „no bailout“-Klausel der Wirtschafts- und Währungsunion wurden über Nacht über den Haufen geworfen und den Volksvertretern im deutschen Bundestag wurden Entscheidungen abverlangt, obwohl die Bedingungen zur Verwendung des Rettungsschirms noch nicht geklärt waren. In ihrer Regierungserklärung begründete Bundeskanzlerin Merkel die Vorgehensweise mit einer Notsituation im Euroraum, die es erlaube, sich über die Regeln der Verträge hinwegzusetzen, und beschwor den Bundestag in Anbetracht einer alternativlosen Lage: „Die sofortigen Hilfen sind das letzte Mittel zur Gewährleistung der Finanzstabilität im Euro-Gebiet insgesamt. Sie müssen erfolgen, damit es nicht zu einer Kettenreaktion im europäischen und internationalen Finanzsystem und zur Ansteckung anderer Euro-Mitglieder kommt.“
Politik im neuen Modus
Die Ursachen der offensichtlichen Überforderung der Politik mit der eskalierenden Krise sind vielfältig. Es ist jedoch nicht überraschend, dass sich diese Problematik vor allem bei der europäischen Staatschuldenkrise eklatant bemerkbar macht. Bereits seit den achtziger Jahren hat sich in der westlichen Welt, vor allem aber in Europa, in zunehmendem Maße ein antipolitischer Regierungsstil entwickelt. Dazu gehörte die Übertragung wichtiger Bereiche der politischen Willensbildung auf die supranationale Ebene der EU-Bürokratie. Im gleichen Maße verschwand diese Willensbildung zunehmend aus dem demokratischen Prozess, denn die entstehende EU-Oligarchie entzieht sich weitgehend einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung und der demokratischen Kontrolle durch die EU-Bürger. Im gleichen Zeitraum verloren traditionelle, im Konflikt miteinander stehende politische Ansätze durch das Ende des Kalten Krieges an Bedeutung. Die politische Orientierungslosigkeit begünstigte die Integration von als überparteilich wahrgenommenen allgemeinen Menschheitsfragen, insbesondere also der Ökologiethemen in die Parteienlandschaft. Die Auseinandersetzung über widerstreitende politische Strategien und Visionen wich zunehmend einer an vermeintlichen ökologischen Notwendigkeiten ausgerichteten Politik. Ebenfalls entscheidend bemerkbar machen sich seit dem Ende des Kalten Krieges neue postpolitische Konzepte, wie die inzwischen praktisch zum Allgemeinwissen avancierte Globalisierungsthese, die unterstellt, dass die Staaten nicht mehr handlungsfähig seien. Ihnen gemein ist die geringe Bewertung des Subjektes, also der absichtsvollen und interessegeleiteten Handlungsfähigkeit der Menschen, und damit eben auch ihrer politischen Vertreter.
Im Zuge dieser Entwicklungen hat sich ein neuer Politikstil entwickelt, der sich immer deutlicher auf das Verwalten, Managen und Moderieren zurückgezogen hat. Statt richtunggebender Ideen dominiert die Einsicht in als alternativlos angesehene Notwendigkeiten. Diese werden inzwischen ganz selbstverständlich durch Expertenrunden oder Ethikkommissionen von den Regierungen abgefragt, so dass sich die Beteiligung des traditionell dazu vorgesehenen Parlaments weitgehend erübrigt. Meinungsstreit wird statt über die Institutionen der demokratischen Willensbildung inzwischen gerade in wichtigen politischen Fragen über das Bundesverfassungsgericht ausgetragen. Eine deutliche Machtverschiebung zugunsten der Exekutive, also der Regierung und Staatsverwaltung, ist die Folge. Dieser Prozess ist auch im Verhältnis zur EU deutlich und äußert sich durch die in vielen Bereichen auf die EU verlagerte gesetzgeberische Funktion.
Das Agieren der Bundesregierung im Zuge der europäischen Staatschuldenkrise ist ein deutlicher Beleg für diese Machtverschiebung und den auf reines Verwalten reduzierten Politikstil. Die Bundesregierung möchte jetzt finanzpolitische Entscheidungsstrukturen, wie die Befugnisse der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), unter Umgehung des Bundestages auf EU-Institutionen übertragen. Der Deutsche Bundestag agiert dann nicht mehr als Souverän im Sinne der Gestaltung einer Lösung der europäischen Staatschuldenkrise und der Verwendung von Steuergeldern. Nach heftigen politischen Auseinandersetzungen hat sich Finanzminister Schäuble zur Klarstellung genötigt gesehen, dass die Bundesregierung keineswegs die Absicht habe, die Mitwirkung des Parlaments zu vereiteln. Schäubles Sprecher bekräftigte daraufhin: „Die Entscheidung, wie das Parlament an künftigen Entscheidungen über die Euro-Hilfen zu beteiligen ist, ist Sache des Parlaments.“ [7] Statt intensiver Debatten über strategische Alternativen im Bundestag, die der Regierung einen Handlungsrahmen vorgeben könnten, ist die parlamentarische Beteiligung weitgehend auf ein Abnicken von Regierungsbeschlüssen reduziert. Diese Beschlüsse entstehen üblicherweise in letzter Sekunde zwischen dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel – und so bildet sich der jeweils nächste „alternativlose“ Schritt im Krisenmanagement heraus.
Diesen bedenklichen Zustand der Politik hat das im August aus heiterem Himmel kommende Donnerwetter des Bundespräsidenten drastisch auf den Punkt gebracht. Während Wulff zwar Defizite im politischen Prozess beklagt und meinte, die Politik würde sich am „Nasenring … durch die Manege“ führen lassen, bezeugt er gleichzeitig ein nur oberflächliches Verständnis dieses Phänomens. Offenbar ist er der Auffassung, ein Donnerwetter könne die Politik schon wieder zur Besinnung bringen. Alt-Bundeskanzler Kohl hingegen erkennt, dass das Problem tiefere Wurzeln und mit einem neuen Politikverständnis zu tun hat. Führenden deutschen Politikern warf er am Beispiel der deutschen Außenpolitik vor, „keinen Kompass“ zu haben. Dementsprechend wisse man nicht, wo man stehe oder hin wolle und könne „daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen“ haben. Im Interview mit der Zeitschrift Internationale Politik betonte er weiter: „Je komplexer die Welt ist, desto wichtiger ist es, dass die Entscheidungsträger – und ich sage dies gerade auch mit Blick auf die Politik – ihre Verantwortung wahrnehmen, Führung zeigen, Antworten geben und in ihren Standpunkten und Prinzipien klar und nachvollziehbar bleiben. Nur so kann man glaubwürdig Sicherheit in einer komplexen Welt geben, nur so kann man dauerhaft Vertrauen schaffen, nur so kann man andere verlässlich mitnehmen, und nur so kann man konstruktiv gestalten.“ Dafür aber, so Kohl pessimistisch, gebe es „zu wenige Überzeugungstäter“. [8]
Da politische Führung und Verantwortung inzwischen weitgehend sinnentleert sind, wie Kohl völlig zu Recht konstatiert, ist es den Parteien und auch den führenden Politikern nur begrenzt möglich, die Wähler einzubinden. Eine direkte Folge ist die künstliche Erzeugung von Themen, die geeignet scheinen, das zerrissene Band zum Bürger wenigstens punktuell wieder aufzubauen. Typisch hierfür war die von der Bundesregierung im Sommer dieses Jahres eingeforderte Beteiligung der Banken an der Rettung Griechenlands. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als das öffentliche Stimmungsbild zu kippen drohte, denn der Regierungspolitik wurde in der Staatsschuldenkrise immer weniger Verständnis entgegengebracht. Eine für die Lösung der Schuldenkrise völlig irrelevante Diskussion – die in der Substanz keine echte Beteiligung der Banken bringen würde, da diese freiwillig erfolgen müsste – dominierte und lähmte infolgedessen wochenlang die europäische Politik, ohne sie in der Substanz einen Schritt voranzubringen.
Die gegenwärtige Krise ist in erster Linie eine Krise des politischen Denkens und Handelns. Der Politik gelingt es immer weniger, einen Führungsanspruch im Verhältnis zum Wähler zu definieren und diesen im politischen Diskurs verantwortungsvoll auszufüllen. Stattdessen folgt die Politik in den letzten Jahrzehnten immer stärker gesellschaftlichen Trends und Stimmungen, um sich an diesen anzudocken. In Anbetracht der durchaus gravierenden Probleme an den Finanzmärkten und in der Weltwirtschaft, die mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 deutlich wurden, ist die politische Führung nun offenbar überfordert und dümpelt in orientierungsloser Flickschusterei vor sich hin. [9]
Steuerzahler ohne Anwalt
Die Finanzkrise und alles, was bisher aus ihr folgte, ist nichts anderes als ein gigantisches Programm zur Übertragung privater Risiken und Verluste auf den Steuerzahler. Wie dieser Prozess abläuft, lässt sich anhand der Griechenland-Krise lehrbuchartig nachvollziehen. Aus der berechtigten Angst vor einem erneuten Dominoeffekt, wie ihn die Lehman-Pleite bewirkte, gilt als oberstes Prinzip des Krisenmanagements, die privaten Finanzinstitute hinreichend vor Verlusten zu schützen. Daher spielten der Euro und Griechenland selbst bei der inszenierten Griechenland-Rettung in Wahrheit nur eine Nebenrolle. In der Hauptsache ging es immer darum, die noch angeschlagenen europäischen Banken und in erster Linie die französischen und deutschen, die am stärksten in Griechenland engagiert waren, möglichst vor Verlusten zu schützen. Da seit dem Ausbruch der Griechenland-Krise zu keiner Zeit ein glaubwürdiges Szenario aufgebaut werden konnte, wie Griechenland in die Lage versetzt werden kann, seinen Schuldendienst langfristig zu tragen oder gar die Schulden zu reduzieren, schwand immer mehr das Vertrauen. Führende europäische Politiker, unter ihnen auch Finanzminister Schäuble, leugneten diese Tatsache lange und sprachen von einem nur vorübergehenden Liquiditätsproblem. Während die europäische Politik vor den Realitäten die Augen verschloss und ihr die kritische Situation europäischer Banken im Nacken saß, machte sie gute Miene zum bösen Spiel, denn dem europäischen Steuerzahler wurde praktisch vollständig die teilschuldnerische Absicherung der griechischen Staatschuld übertragen. Dies leisteten die beiden Griechenland-Rettungspakete einschließlich freiwilliger Bankenbeteiligung sowie der Ankauf griechischer Staatsanleihen durch die EZB.
Die von der Bundesregierung so vehement geforderte freiwillige Beteiligung von Banken und Versicherungen an diesem Rettungspaket war von Beginn an eine Farce. Zu dem Zeitpunkt, als die Bundesregierung dieses Thema auf die Tagesordnung setzte, waren nach Expertenschätzungen bereits zwei Drittel der griechischen Schulden beim Steuerzahler gelandet. [10] Die Risiken der privaten Gläubiger waren also bereits auf ein Niveau abgebaut, dass nach Einschätzung von Finanzmarktexperten selbst bei einem harten Schuldenschnitt keine der betroffenen Banken ins Wanken geraten wäre. Trotzdem wurde den privaten Gläubigern die Beteiligung finanziell vergoldet, der Steuerzahler ist aber erneut der Dumme. [11] Auf das Kursfeuerwerk an den Aktienmärkten, das der Vereinbarung zur „freiwilligen Bankenbeteiligung“ folgte, resümierte Hans-Werner Sinn, der Chef des Ifo-Instituts, im Interview mit der F.A.S. trocken: „Die Kapitalmärkte sind euphorisch. Aber das bedeutet nichts Gutes für die Steuerzahler. Sie zahlen jetzt für die Banken.“ Auch machte Sinn sehr deutlich, was der Kern der Bankenbeteiligung ist: „Sie [die Banken] bekommen jetzt 80 Prozent des Nennwertes, obwohl die Papiere am Markt nur noch 50 Prozent wert sind.“ [12] Es sieht leider nicht so aus, als werde sich dieses für den Steuerzahler betrübliche Spiel zwischen Politik und Finanzwirtschaft in der nächsten Zeit ändern. Ein ganz wesentlicher Grund dafür liegt in einer Überbewertung der Macht der Märkte und in einem schiefen Verständnis der Natur der gegenwärtigen Krise.
Finanzsektor und Kreditdroge
Zu Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2007 ihren Anfang auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt nahm, gingen die Experten davon aus, dass die Krise weitgehend auf die Finanzmärkte begrenzt bliebe. Mit zunehmendem Fortschreiten der Krise wurde deutlicher, dass dies nicht der Fall war. Es ergab sich eine massive Beeinträchtigung der Realwirtschaft in den entwickelten Volkswirtschaften, mit der Folge, dass deren zusammengefasste Wirtschaftsleistung nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) erstmals seit dem zweiten Weltkrieg geschrumpft ist und das sogar um satte 3,2 Prozent im Jahr 2009. Wie stark der Einfluss auf die Realwirtschaft tatsächlich war, zeigte sich in Deutschland. Hier war der Rückgang mit knapp 5 Prozent des BIP besonders stark, da hierzulande die Industrie noch einen relativ höheren Anteil am BIP erzeugt. Offenbar sind das Finanzsystem und die Realwirtschaft keine weitgehend voneinander getrennte Sphären, sondern eng miteinander verwoben. Dabei ist auffällig, dass trotz des enormen Wachstums des Finanzsektors seit den 80er Jahren dieser selbst in den am weitesten ausgebauten Finanzsektoren der entwickelten Volkswirtschaften – in den USA und Großbritannien – doch nur einen Anteil von etwa 8 Prozent des BIP erreicht. [13] Trotzdem hat das Finanzsystem einen überproportionalen Einfluss auf die gesamte Volkswirtschaft erlangt.
Ein wesentlicher Treiber dieses Einflusses ist die Ausweitung des Kredits. So haben die Ökonomen Moritz Schularick und Alan Taylor in einer finanzhistorischen Untersuchung nachgewiesen, dass in den 14 von ihnen untersuchten Industrieländern das Verhältnis der Bankkredite zum BIP regelrecht explodiert ist. Seit den 50er Jahren hat sich dieses Verhältnis verdreifacht, wobei sich das Wachstum seit der Jahrtausendwende nochmals beschleunigt hat. [14] Die Ergebnisse dieser Untersuchung decken sich auch mit der Tatsache, dass insbesondere in den USA und Großbritannien die Privatkredite enorm ausgeweitet wurden und die Sparquoten dieser Länder unmittelbar vor dem Ausbruch der Finanzkrise bereits zu negativen Werten tendierten. Für die entwickelten Volkswirtschaften, also die USA, Europa und Japan, weitete sich in den letzten Jahrzehnten insgesamt die Staatsverschuldung deutlich aus, was ebenfalls eine Kreditausweitung bewirkte. Der reichlich zu sehr günstigen Konditionen verfügbare Kredit beflügelte den Konsum von Staat und Privatleuten, was sich belebend auf die Realwirtschaft auswirkte. Im Rückblick zeigt sich, wie wichtig diese zusätzliche Nachfrage tatsächlich war. In den USA bewirkte sie, befeuert durch die politisch gewünschte und geförderte Vergabe von Hypothekenkrediten an weniger solvente Häuslebauer, eine Spekulationsblase und einen Bauboom, der nach der Jahrtausendwende einen wichtigen Beitrag dazu leistete, das Abgleiten der US-Wirtschaft in eine Rezession zu vermeiden. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in Europa beobachten. Die durch die Euro-Einführung historisch niedrigen und stabilen Zinsen lösten in den Peripherieländern der Eurozone infolge der Nutzung leicht verfügbarer Kredite einen Boom aus – in einigen Ländern insbesondere im privaten Wohnungsbau. Spanien, Irland und Griechenland erreichten durch diesen Kredit-Effekt seit Ende der neunziger Jahre mit etwa 3 Prozent die höchsten Wachstumsraten in der Eurozone. In dem Moment aber, in dem in diesen Ländern die Kreditdroge an den Stellen entzogen wurde, wo sie vorher so gut wirkte, und der Versuch scheiterte, diese Märkte durch weiterhin niedrige Zinsen zu stabilisieren, traf dies die Realwirtschaft mit entsprechender Härte. Durch den Entzug der Kreditdroge sind die Länder auf die Zeit vor der Euro-Einführung zurückgeworfen und stehen heute durch die Verschlechterung ihrer Wettbewerbsfähigkeit sogar noch schlechter da.
Trotz der Kreditausweitung und historisch niedriger Zinsen und der dadurch bewirkten Stärkung des Konsums sind die entwickelten Volkswirtschaften in den letzten Jahrzehnten immer schwächer gewachsen. In Deutschland sind die Wachstumsraten – dem Trend in den entwickelten Volkswirtschaften folgend – von den durchschnittlich über 8 Prozent in den 50er Jahren kontinuierlich auf nur noch knapp ein Prozent im letzten Jahrzehnt abgesunken. Begleitet werden die sinkenden Wachstumsraten durch sinkende Investitionen der Unternehmen. Sie sind im Verhältnis zum BIP ebenfalls langfristig rückläufig. Die Unternehmen tendieren dazu, die Gewinne nicht wieder zu investieren, sondern stattdessen auszuschütten oder in Aktienrückkaufprogramme zu stecken. Dieser Trend ist gegenwärtig zumindest in Deutschland infolge des vom Export in die BRIC-Länder getriebenen Aufschwungs vorübergehend unterbrochen.
Risikofalle
Die eklatante Investitionsschwäche der letzten Jahrzehnte hat in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre ein so niedriges Wachstum erzeugt, dass ein Anpassungsprozess erzwungen wurde. Die kontinuierlich hohe Arbeitslosigkeit hat eine Senkung des Reallohnniveaus bewirkt. [15] Die Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland sind seit Anfang der 90er Jahre schubweise angestiegen, vor allem zur Jahrtausendwende und erneut in den letzen Jahren, trotzdem zeigt sich aber, dass die Investitionsneigung bezogen auf das BIP insgesamt rückläufig ist. [16]
Das Kernproblem der schwachen Investitionsneigung ist die Risikoaversion, die in der Gesellschaft im Allgemeinen und auch in den Führungsetagen der Unternehmen eine dominante Rolle spielt. Die Bereitschaft zu Forschungs- und Entwicklungsausgaben sowie Investitionen in Maschinen und Anlagen setzt ein sehr langfristig orientiertes Denken und in der Regel eine hohe Risikobereitschaft voraus. Nur wer sich seiner Unternehmensstrategie recht sicher ist, verlässliche Rahmenbedingungen vorfindet und zudem bereit ist, sein Kapital über einen Zeitraum von vielen Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten zu binden, wird diesen Schritt wagen. Die Rahmenbedingungen werden jedoch seit Jahrzehnten einer langfristigen Strategie immer abträglicher. Neue Technologien stehen aufgrund des Vorsorgeprinzips, das darauf abzielt, Risiken jeder Art auszuschließen, unter einen enormen Vorbehalt. Großprojekte erscheinen immer weniger zeitgemäß.
Die Entwicklung im Energiesektor ist in dieser Hinsicht symptomatisch. Der Bau konventioneller Großkraftwerke wird in Deutschland trotz des Einsatzes klimafreundlicher Verfahren in vielen Fällen sehr erfolgreich bekämpft und blockiert. Das gleiche gilt für die Netzinfrastruktur, deren Ausbau die Angst vor Elektrosmog schürt. Zudem scheinen Überlandleitungen inzwischen – trotz extrem kostspieliger Alternativen – kaum durchsetzbar. Neue Technologien wie die CO2-Abscheidung und anschließende Lagerung unter der Erde werden aus Angst vor möglichen Risiken blockiert. Die Abwicklung der Kernenergie wurde – obwohl noch in diesem Jahr, unter einer sorgfältigen Abwägung von Chancen und Risiken, als praktikable Übergangstechnologie bewertet – aus Angst vor den Risiken dieser Technologie, die der Atomunfall in Fukushima bestärkte, endgültig durchgesetzt. Statt großtechnischer Lösungen kommen nun einfache und risikoarme Technologien zum Zug. Die Verwertung von Biokompost sowie die Nutzung von Wind und Sonne finden Zuspruch als technologisch leicht beherrschbare und daher vermeintlich risikoarme Technologien, die zudem im Sinne einer Regionalisierung der Energieversorgung leichter skalierbar sind. Das gesellschaftliche und politische Umfeld, in dem sich Industrie und Investoren bewegen, verunsichert sie und lähmt die Investitionsbereitschaft. Die zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten und der von Risikoangst geprägten öffentlichen Meinung laborierenden politischen Entscheidungsträger erzeugen ein gefürchtetes Minenfeld. Großprojekte entwickeln sich so ganz schnell zu unkalkulierbaren Kostenfressern oder gar zu Investitionsruinen. Selbst bei bereits bestehenden Anlagen muss mit dem Entzug der Betriebserlaubnis und Kapitalvernichtung gerechnet werden. Der Energiemarkt ist inzwischen – ganz im Gegensatz zu der seit langem propagierten Deregulierung – zu einem Bereich geworden, der extrem von politischen Entscheidungen und staatlicher Regulierung abhängig ist. Energiepreise sind inzwischen kaum mehr Marktpreise, sondern Ergebnis staatlicher Regulierung. Da aber auch diese Regulierung einer kaum vorhersehbaren Dynamik unterliegt, ist zwar die Richtung der Energiepreise klar, nicht aber die Geschwindigkeit, mit der sie sich ändern werden. Auch das bewirkt – vor dem Hintergrund neuer ernstzunehmender Initiativen der EU-Kommission zur Verteuerung des Rohstoffverbrauchs – gerade für einen Industriestandort wie Deutschland ein schwer kalkulierbares Investitionsumfeld. [17]
Die Folgen der aus Angst vor Großprojekten und Risikotechnologien entstehenden Verunsicherung sind offensichtlich. Hans-Werner Sinn machte kurz vor dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise folgende Beobachtung, die er allerdings auf das – trotz seit langem sinkender Reallöhne – seiner Auffassung noch immer zu hohe Lohnniveau in Deutschland zurückführte: „Viele Unternehmen fliehen aus der Verantwortung, indem sie ihre Expansionspläne begraben oder ihre Unternehmen auflösen und sich mit der Verwaltung ihres verbliebenen Vermögens beschäftigen. … Der deutsche Kapitalmarkt schwimmt in Geld, das keiner haben will. Durch die Kanäle des internationalen Finanzsystems fließen die überschüssigen Kreditmittel an ausländische Investoren, die damit sonst wo in der Welt neue Projekte finanzieren.“ [18] Brisant an dieser Beobachtung ist, dass nur ein geringer Teil des überschüssigen Kapitals in Unternehmens- oder Staatsinvestitionen, also Forschungsprojekte oder Maschinen und Anlagen fließt. Wenn dies dennoch geschieht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dies nicht in der westlichen Welt passiert. Was wir stattdessen sehen, sind aufgeblähte Finanzmärkte, die durch die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken noch zusätzlich befeuert werden.
Pragmatismus im Umgang mit der Finanzwirtschaft
Ironischerweise haben die Finanzmärkte, deren Wachstum vor allem aus einer Schwächung der Wertschöpfungsbasis in den entwickelten Volkswirtschaften resultiert, dazu beigetragen, die Schwäche der Realwirtschaft zu verschleiern und sogar zu kompensieren. Die expandierenden Finanzmärkte haben immer neue Finanzinnovationen hervorgebracht, die das Kreditgeschäft ausweiteten und in teilweise kreativer Art und Weise auch den Staaten eine Verschuldung ermöglichten, die sonst noch viel zeitiger Fragen aufgeworfen hätte. [19] Während die Investitionen zurückgingen, sind in vielen Ländern die Staatsaktivitäten zur Steigerung des Konsums und vor allem die Kreditvergabe an Private deutlich ausgeweitet worden. Dieser Effekt war zwar weniger in Deutschland zu beobachten, aber dafür umso deutlicher in den meisten anderen europäischen Ländern, den USA und Japan. Die Finanzmärkte wurden so, nicht nur infolge ihres zunehmenden Beitrags zum BIP, sondern auch wegen ihrer Funktion zur Belebung der Realwirtschaft, zu einem wichtigen Verbündeten im Kampf gegen wirtschaftlichen Rückgang und Arbeitslosigkeit. [20] Die oft als Verschwörung der Finanzindustrie gehandelte personelle Verquickung zwischen politischen Eliten der USA und den großen Finanzunternehmen macht vor diesem Hintergrund durchaus Sinn. Wenn die Finanzmärkte für die Gesamtwirtschaft eine so herausragende Rolle besetzen, erscheint es rein technisch betrachtet nur folgerichtig, die besten Kenner und Experten dieses Finanzsystems in wichtige staatliche Funktionen zu berufen. Die Politik hat daher gegenüber den Finanzmärkten – trotz aller Rhetorik – ein eher von Pragmatismus gekennzeichnetes Verhältnis. Die Finanzmärkte sind einerseits wichtiger denn je, um sicherzustellen, dass die Wirtschaft weiter tickt. Andererseits sind sie eine Bedrohung für die gesamtwirtschaftliche Stabilität. Daher auch der dem Ritter von der traurigen Gestalt ähnelnde Ansatz, einerseits zur „Generalmobilmachung“ gegen die Finanzmärkte aufzurufen, anderseits aber seit den 80er Jahren die Finanzmärkte in wichtigen Bereichen zu deregulieren, um nun vor einer harten Regulierung – durchaus aus berechtigter Angst vor den Konsequenzen – zurückzuschrecken. Finanzmarktregulierung zäumt das Pferd aber ohnehin von hinten auf. Selbst die intelligenteste Finanzmarktregulierung wird die fundamentalen realwirtschaftlichen Probleme nicht lösen.
Intellektuelle Totalblockade
Die geistige Haltung und die ideologischen Überzeugungen der politischen Eliten blockieren eine Lösung dieser Probleme. Es ist vollkommen klar, dass chronisch niedriges Wachstum in den entwickelten Volkswirtschaften zu Wohlstandseinbußen führt. Seit geraumer Zeit ist die politische Notwendigkeit erkannt, dass ein Rückgang des allgemeinen Lebensstandards für die Masse der Bevölkerung einer Rechtfertigung bedarf, die über eine rein marktwirtschaftliche Begründung hinausgeht. Die ideologischen Brücken wurden schon lange gebaut und stehen nun zur politischen Verwendung bereit. Wir leben inzwischen in einer Welt, die von der Begrenztheit der Ressourcen so überzeugt ist, dass dies sowohl das politische Handeln als auch das persönliche Verhalten dominiert. Vor diesem Hintergrund erscheint ein niedriges wirtschaftliches Wachstum, das zudem hauptsächlich aus einer Steigerung der Effizienz statt des Stoffumsatzes gespeist werden soll, als historische Notwendigkeit. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Einschränkungen zugunsten eines verringerten Ressourcenverbrauchs ist inzwischen so weit gefestigt, dass dies auch unser Verhalten bestimmt. Die politische Lösung, um mit einer chronisch schwachen Realwirtschaft umzugehen, liegt nach dieser Doktrin darin, aus der Not, also aus schwachem Wachstum, eine Tugend zu machen. Es ist daher kein Wunder, dass enorme politische Anstrengungen unternommen werden, um ganz und gar vom Wirtschaftswachstum als Gradmesser für gesellschaftlichen Fortschritt wegzukommen. [21]
Es ist verheerend, dass die gegenwärtig von den politischen Eliten beschrittenen Pfade nicht darauf ausgerichtet sind, die fundamentale wirtschaftliche Schwäche zu problematisieren, geschweige denn überwinden zu wollen. Stattdessen wird die weitgehende Anpassung an diese Trends verfolgt. Die Politik bewegt sich damit auf einem gefährlichen Weg. Indem diese Probleme nicht adressiert, sondern ideologisch verschleiert werden, treibt sie die Finanzmärkte faktisch dahin, wo sie heute sind. Die Vorstellung, die Finanzmärkte würden die Politik vor sich her treiben, ist verfehlt, denn das Gegenteil ist der Fall.
Die EU-Sackgasse
Im europäischen Kontext wird die Problematik, die sich aus dem Fehlen einer positiv belegten Vision oder Orientierung ergibt, sehr deutlich. Inzwischen ist die nach den zwei Weltkriegen positive belegte Idee eines geeinten Europa der Desillusionierung gewichen, da das gesamte Projekt untrennbar mit einer abgehobenen und bevormundenden EU-Oligarchie verwoben ist. Trotz aller Annehmlichkeiten, die die nationale Politik, gerade durch das Delegieren unliebsamer Aufgaben, damit verbindet, ist auch in den politischen Eliten keine Euphorie mehr zu spüren. [22] Die nun von Sarkozy und Merkel ins Rennen gebrachte europäische Wirtschaftsregierung, also eine weitere massive Stärkung der EU-Institutionen als nächster Schritt zur Eindämmung der europäischen Schuldenkrise, ist daher kaum mehr als eine Notmaßnahme. [23] Einer Lösung der Krise wird uns auch dieser Schritt nicht näher bringen. Die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise wird in jeder Hinsicht nicht durch die übermächtigen Finanzmärkte vereitelt, sondern durch die problematische Verfassung, in der sich die europäische und insbesondere gerade auch die deutsche Politik befindet und aus der es keinen schnellen Ausweg gibt.